KOMMENTAR: Meine "Hurt&Comfort"/"Torture" Muse ist ein eifersüchtiges Biest. Kaum verzichtet man bei einer Story mal auf ihre Mitwirkung, schon kidnappt sie arme, unschuldige Anwälte und läuft Amok ;-) Abschliessend noch ein Dankeschön an den grossen Meister JMS, von dessen "Babylon 5" Episode "Hour Of The Wolf" ich mir dreister Weise den Titel borgte (sorry, aber er passte so gut...)



WOLFSSTUNDE
von Bimo



Er erwacht zu dem Geräusch von Regentropfen. Trommelnd und platschend dringen sie in seinen Verstand, zuerst leise und sanft, dann immer beharrlicher. Regen ist selten in L.A., aber wenn er sich doch einmal über die Stadt breitet, dann überfällt er sie mit aller Macht. Er schert sich nicht darum, wie sehr Lindsey sich im Moment nach Schlaf sehnt. Schlaf, um zu Kräften zu kommen. Schlaf, um zu vergessen.

Wenn er nicht bis unter die Dachkante mit Schmerzstillern vollgepumpt wäre, wahrscheinlich würde sein Schädel jetzt schlimmer dröhnen als an dem Morgen nach seiner Abschlussfeier in Hastings. Vorsichtig hebt er die Augenlieder, blinzelt. Sie fühlen sich geschwollen an, die Wimpern sind leicht verkrustet. Seltsam, er erinnert sich nicht daran, geweint zu haben, aber offensichtlich muss er es wohl. Im Zwielicht der halb herunter gelassenen Jalousien fällt sein Blick auf den Schattenriss der linken Hand. Die fünf Finger. Die klaren, starken Linien auf der Innenseite des Handballens.

Den Kopf zu wenden und nach rechts zu sehen, wagt er nicht. Stattdessen richtet er sich auf, langsam. Den dick bandagierten rechten Arm vorsichtig an seinen Körper gepresst, darum bemüht, ihn so ruhig zu halten wie möglich. Das letzte, was er gebrauchen kann, ist, wenn das verdammte Ding wieder zu bluten beginnt. Stumpf. Die korrekte Bezeichnung lautet Stumpf, jagt es ihm durch den Kopf, doch soweit, die furchtbare Wahrheit dieses Begriffes zu schlucken, ist er noch nicht.

Eines nach dem anderen setzt er die Beine auf den Boden, wankt auf nackten Füßen Richtung Küche, um etwas zu trinken. Eigentlich gehört er noch immer ins Krankenhaus, aber tagelang dort festzuliegen, abgeschnitten von Firma und Arbeit, ist zu gefährlich. Lilahs Besuch hat ihm das deutlich gemacht. Honiglächeln, Samtschnurren, Blumenstrauß. Geheucheltes Mitgefühl für den armen Verstümmelten während sie im Stillen denkt: "Hätte er nicht lieber in seinem Blut verrecken und seinen Stuhl für mich räumen können?"

Lilah, wenn du wüsstest, wie knapp ich daran vorbeigeschrammt bin, du würdest rasen...

Als er auf der Intensivstation umgeben von Schläuchen und piependen Monitoren erwachte, sprach der Arzt nur davon, wie viel Glück im Spiel gewesen sei. Gesundes, ungemein robustes Herz, häufig anzutreffende Blutgruppe. Lindsey will lieber nicht darüber nachdenken, welche medizinische Schrecken diese Worte versteckt halten. Vorbei ist vorbei. Es zählt allein, wie es weitergeht.

Um in seinem Zustand fürs Erste über die Runden zu kommen, hat er eine private Schwester engagiert. Heute Nachmittag begleitete sie ihn vom Krankenhaus aus zu seinem Apartment, schloss die Wohnungstür für ihn auf. Half ihm, als er sich, von der Anstrengung ermüdet, ein wenig hinlegen wollte. Wenigstens war sie gelassen und ruhig dabei, sehr professionell in ihren Handgriffen. Morgen früh wird sie hierher zurückkehren und nach ihm sehen, den Verband kontrollieren, genau wie seine übrige Verfassung. Sie hat ihm an der Kühlschranktüre einen Zettel hinterlassen und ihre Nachricht prangt darauf in so klaren, sauberen Buchstaben, dass selbst ein Erstklässler keine Mühe hätte, sie zu entziffern. Vorbereitete Sandwiches, die er nur noch heraus nehmen muss. Schraubdeckel von Milch- und Mineralwasserflasche gelockert. Wasserkocher auf der Anrichte gefüllt. Falls er heißen Tee o.ä. möchte, einfach Schalter umlegen. Becher mit Teebeutel direkt daneben.

Beim Überfliegen des Textes weiß Lindsey nicht, ob er schreien oder lachen soll. Unfähig, eine Milchflasche zu öffnen. Der Gedanke hallt in ihm, wächst und schwillt an, zur Flut jener alltäglichen Dinge, die eine einzige Sekunde für immer zum bitteren Hindernislauf werden ließ. Vertragsverhandlungen die seine Unterschrift erfordern, zukünftige Business-Lunches bei denen alle Anwesenden peinlich berührt auf eine Kunststoff-Prothese starren, mittels der er unbeholfen die Gabel zum Munde führt. Schon bei der bloßen Vorstellung wird ihm so speiübel, dass er sich auf die Tischplatte stützen muss, um nicht vornüber zu kippen.

Was für eine Befriedigung Angel das wohl bereiten muss. Auch in der Maske des edlen Ritters zeigt der Vampir auffällige Lust am Leid seiner Gegner. Den alten Sadismus trägt er immer noch in sich, sorgsam gehütet und kanalisiert.

Ist das, warum Du es nicht zuende bringen wolltest? Weil ich den schnellen, gewaltsamen Tod nicht wirklich fürchte? Weil Du zu wenig Spaß daran hättest? Machen wir uns nichts vor, auf mein Konto gehen genügend Unschuldige zur Erfüllung Deines Ideals von Selbstjustiz. Ein einziger Hieb, als ich wehrlos am Boden lag, Angel. Nur ein einziger rascher Hieb ...

Im Rückblick scheint der Kampf um die Schriftrolle so furchtbar einfach. Keine überflüssigen Fragen oder Abwägungen mehr, bloß simple Entscheidung über Sieg oder Untergang. Noch immer sieht er Angels Gestalt über sich, groß und schwarz, im Arm die stahlblitzende Sense. Der Schmerz in Lindseys Adern verzerrte den Vampir zum gesichtslosen Todesengel. Unmöglich seinen Ausdruck zu erkennen, als er sich über ihn beugte und nach der Rolle griff. Aber in Lindseys Erinnerung wird er auf ewig lächeln.

Und weißt Du, worin die große Ironie liegt, Angel? Es ist nicht der Kreuzzug gegen Wolfram&Hart, für den ich Dich so sehr hasse. Vielleicht nicht einmal die Hand. Kinderkram wenn man es genau betrachtet. Ein harter Schlag, aber ich werd's überstehen. Der wahre Grund ist deine verdammte Halbherzigkeit. Alles, was du berührst, stürzt du ins Chaos und wendest Dich dann einfach ab. Lässt die Opfer allein mit den wackligen Trümmern. Lindsey McDonald war gut genug, sein Leben für drei blinde Kinder aufs Spiel zu setzten. Aber nicht für die Rettung seiner Seele.

Tief durchatmend und mit gesenktem Kopf fühlt er, wie er am ganzen Körper zittert. Zwar gelingt ihm, die rasenden Emotionen unter Kontrolle bringen, doch die kalte, lähmende Taubheit, die in seinen Gliedern übrig bleibt, ist fast noch schlimmer. Mag sein, dass es an der Raumtemperatur liegt, wahrscheinlicher an den Medikamenten oder leichtem Fieber. Bitte nicht das noch. Rationale Gedanken fallen so schon viel zu schwer.

Wenn er seinen Verstand behalten will, sollte er in dieser Verfassung nicht nach Rache greifen, nur nach den kleinen einfachen Sachen. Diejenigen, die ihn einigermaßen heil über die nächsten Stunden bringen. Eine Tasse Tee gegen das Frösteln. Zurück ins Bett. Schlaf oder ein wenig Fernsehen. Frierend und klamm geht hinüber zur Anrichte, schaltet den Wasserkocher ein - eigenartiges Gefühl, ihn mit links zu bedienen, während der rechte Arm nutzlos in einer Trageschlinge ruht. Für die Minuten, die das Gerät zur Erhitzung benötigt, lässt er sich auf einen Stuhl sinken. Sein Blick schweift über Schränke und Regale, all die kleinen Kostbarkeiten, in deren Anschaffung er ein halbes Vermögen investiert hat. Kunstgegenstände. Designer-Inventar, angestrahlt von funkelnden Halogenlämpchen.

Ihm ist nie aufgefallen, welch stiller Friede über diesen Dingen liegt. Die Kanzlei lässt ihm keine Zeit für solche Beobachtungen und jetzt, wo er über genügend Leerlauf dazu verfügt, wirken sie nur fremd und bedrückend. Er kann Ruhe nur schwer ertragen, weil er niemals Gelegenheit hatte, sich mit ihr anzufreunden. Unmöglich bei seiner Kindheit, unmöglich bei den Entscheidungen, die er für sein Erwachsenenleben traf. Angesichts der Gefühle, die in ihm aufsteigen, erschrickt er. Dumme, schlichte Kinderwünsche, Seifenblasen. Sehnsucht, nach einer vertrauten Stimme, die ihm eine Decke um die Schultern legt und sanft zu ihm spricht. Leicht zu erfüllen eigentlich, doch es gibt niemanden mehr, der es für ihn täte. Nicht ohne irgendeinen Hintergedanken. Nicht, ohne dass Lindsey ihn dafür bezahlen müsste.

In seiner Brieftasche befindet sich zwar ein ausgeblichener Zettel, aber Grunde trägt er Adresse und Telefonnummer seiner einzigen noch lebenden Verwandten nur für den Fall seines Todes dort. Ob sie je verzeihen konnte, dass ihr Bruder sie allein mit den beiden jüngeren im Stich ließ und einfach aufs College ging, weiß er nicht. Kein Bedarf, es heraus zu finden. Durch seine Erinnerung geistert sie stets als tränenüberströmte Vierzehnjährige, die ihm eine überraschen kräftige Ohrfeige verpasste und ihn anschrie, er solle sich zum Teufel scheren. Kluges Kind. Schließlich hat er ja auch genau das getan.

Regungslos starrt Lindsey zur Anrichte und wartet darauf, dass das verdammte Wasser endlich zu sprudeln beginnt. Kleine Dinge. Ein warmer Tee. Zurück ins Bett. Alles wird gut....