WILLENSFREIHEIT
Der freie Wille, behaupten einige der unserer Philosophen, sei immer eine Illusion. Ich kann mich erinnern, wie ich über diese These und über die ganze Vorstellung von Determinismus während einer Mittagspause im College herzog. Wenn ich möchte, kann ich mir sogar den genauen Geschmack des Essens in Erinnerung rufen, das ich mir in den Mund stopfte, während ich mit meinem Freund Dan stritt. Aber ich habe nie eine endgültige Schlußfolgerung gezogen. Selbst in der letzten Konfrontation mit Ihnen nicht, die vielleicht vom Schicksal so vorgesehen war, oder auch nur das Ergebnis einiger Zufälle und individueller Entscheidungen. Mein CVI-verstärktes Gedächtnis, dieses zweifelhafte Geschenk der Taelons, bringt sie mir wieder und wieder zurück. Die wenigen Minuten zwischen dem Moment, als Sie mit der Waffe in der Hand auf der Brücke erschienen, um sich an Zo’or zu rächen, und dem Augenblick, als ich meine Entscheidung traf.
Ich habe Ihnen einmal gesagt, ich hätte Ihnen immer mißtraut. Das tat ich. An Ihnen war etwas Seltsames, daß ich nicht näher bestimmen konnte; Sie entzogen sich einer eindeutigen Festlegung, und das machte mich zornig. Selbst damals, als meine Prioritäten noch klar waren und ich lebte, um den Taelons zu dienen, war mir sehr wohl bewußt, daß ich in einem Gefängnis steckte, das ich mir selbst eingerichtet hatte, und es erschien mir ungerecht, daß mein Mitgefangener sich die Illusion von Freiheit bewahren konnte. Daß er tatsächlich Freundschaft mit einem Wesen schließen konnte, das für mich ein Gott war, statt es nur ehrfürchtig anzubeten.
Gleichzeitig war ich aber auch erleichtert, daß Sie existierten. Sie waren der erste Implantant, den ich näher kennenlernte, und es stellte sich heraus, daß ich mit Ihnen über einige der Dinge reden konnte, die mein neues Leben ausmachten - unser beider Leben, wie ich damals dachte. Sie waren eine Herausforderung, denn wenn es Ihnen möglich war, noch so viel von Ihrem alten Selbst zu erhalten, warum, fragte ich mich, sollte ich das nicht auch können? Außerdem war mir immer bewußt, daß ich die Verantwortung für Sie trug. Als ich Judson Corr damit beauftragte, Ihre Frau zu töten, traf ich in gewisser Weise die Entscheidung für Sie, und alles, was danach aus Ihnen wurde, ging auf diese Entscheidung zurück.
Ihrer Meinung nach erhielt ich vermutlich meine eigene Willensfreiheit zurück, als mein erstes CVI zusammenbrach. Aber wissen Sie, in Wirklichkeit gab es an diesem Tag überhaupt keine Wahl für mich. Ich wußte, daß ich bald sterben oder neu implantiert würde, wenn ich bliebe. Wie ich diese wenigen kostbaren Stunden nutzen könnte, stand für mich überhaupt nicht zur Debatte. Übrigens, als ich Ihnen erzählte, warum ich den Tod Ihrer Frau angeordnet hatte, muß eine Frage in Ihnen aufgetaucht sein, die Sie mir nie stellten. Wenn ich es nicht fertigbrachte, Deedee zu töten, trotz des voll funktionierenden Motivationsimperativs, warum hatte ich mich dann nicht einfach von ihr scheiden lassen und sie vergessen, statt sie zu einem lebenden Tod in diesem Krankenhaus zu verurteilen? Möglicherweise haben Sie mich das nie gefragt, weil Sie die Antwort errieten. Ich konnte sie nicht gehen lassen, so einfach war das. Wenn wir geschieden worden wären, hätte ich mich nie ganz auf meine Arbeit für die Taelons konzentrieren können, weil ich mich immer gefragt hätte, ob wir nicht doch wieder zusammen kommen würden, trotz ihrer Schwierigkeiten mit meinen neuen Prioritäten. Ob sie vielleicht einen anderen gefunden hatte. Wo sie war, und was sie gerade tat. Also sorgte ich stattdessen dafür, daß sie in einer drogenumnebelten Erstarrung dahin vegetierte, in einem Zustand, in dem sie nicht mehr Ansprüche an mich stellen konnte, aber auch nie fähig sein würde, mich endgültig zu verlassen. Liebe ist nicht immer etwas Gutes, Boone. Was mich angeht, so kann sie schlimmer sein als der Haß. Sobald mir klar wurde, daß mein Tod unausweichlich war und mein Motivationsimperativ zerstört, wußte ich natürlich, daß ich dieses eine Verbrechen wieder gut machen konnte und mußte. Daß ich Deedee befreien würde, für ihre Sicherheit sorgen, ehe es zu spät war, und sie endlich gehen lassen mußte.
Wie sich herausstellte, hat die Entscheidung, die ich traf, als ich Ihre Frau tötete, die Entscheidung, die Sie in einen Implantanten verwandelte, auch alle Chancen zerstört, die Deedee vielleicht noch gehabt hatte. Sie töteten Deedee und machten mich wieder zu einem Implantanten. Poetische Gerechtigkeit. Ich hätte es wissen müssen. Als Sie es mir sagten, haßte ich Sie mehr als je irgendein anderes Wesen, außer mich selbst. Es war mein letztes Verbrechen gegen Deedee, und verdammte mich endgültig.
Später, als mein neues CVI zu funktionieren begonnen hatte, begriff ich noch etwas. Wir waren nun quitt, Sie und ich. Wir waren uns endlich ebenbürtig. Gleich. Das wollte ich Ihnen sagen, als ich später zu Ihnen kam, und in gewisser Weise haben Sie wohl begriffen, was ich meinte. Es gab mir ein seltsames Gefühl von Freiheit, das in der kurzen Zeit, in der ich im landsläufigen Sinn "frei" gewesen war, gefehlt hatte. Deedee war tot, und mit ihr jede Chance auf Sühne und Umkehr. Meine Verantwortung für Sie war fort, und meine Zweifel ebenfalls, eine Zeit lang jedenfalls. Und meine Prioritäten waren wieder klar. Für eine Weile.
Selbst mit dem uns eigenen perfekten Gedächtnis kann ich nicht den genauen Moment ermitteln, in dem für mich die Erkenntnis begann, daß sich etwas in mir änderte. Wenn ich es versuche, halte ich Fragmente in Händen, wie Splitter eines zerbrochenen Spiegels. Beckett, die ihren Skrill auf mich abfeuert, auf der niedrigsten Stufe, als Antwort auf meinen Zweifel an ihren Fähigkeiten. Was ich damals empfand, hatte nichts mit den Taelons zu tun, oder der Last der Vergangenheit. Diese russische Wahrsagerin, wie sie mir mitteilt, daß die Toten zurückkehren. Aber die meisten Fragmente sind Bruchstücke aus Gesprächen mit Zo’or. Einmal erkundigte er sich: "Sagen Sie mir, Agent Sandoval, gilt Ihre Loyalität den Taelons im allgemeinen oder Da’an persönlich?" Was ich darauf hätte entgegnen sollen, wenn ich noch gewesen wäre, was ich einmal perfekt verkörperte, war, daß die Treue zu den Taelons und die Treue zu Da’an ein und dasselbe sei. Stattdessen brachte mich die Frage zum Grübeln, da mir nie vorher in den Sinn gekommen war, daß es einem der MI gestatten könnte, zwischen einzelnen Taelons zu wählen. Im Nachhinein glaube ich, daß Zo’or damals schon wußte oder vermutete, was mir erst langsam klar wurde. Er hätte diese Frage sonst kaum gestellt. Bei einer anderen Unterhaltung machte er eine Bemerkung in der Richtung, daß Ro’has Weiterleben das Gemeinwesen als Ganzes in Gefahr brächte, und ich ertappte mich dabei, wie ich zustimmte, ohne das Entsetzen über die Aussicht auf den Tod eines Taelons zu fühlen, das ich hätte fühlen müssen.
Den Augenblick, in dem sich für mich die Teile des Puzzles zusammenfügten, kann ich dagegen sehr wohl festlegen. Er kam, nachdem Sie den Fehler gemacht hatten, Zo’or wegen Ihrer Schwester zu drohen. Sie hätten dazu nicht in der Lage sein sollen. Kein Implantant mit einem voll funktionierenden MI kann sich derart gegen einen Taelon wenden. Vorher hatte Zo’or Sie zwar gehaßt und Da’ans Zuneigung zu Ihnen als Schwächung des Gemeinwesens eingeordnet, aber danach sah er Sie als das Symptom für etwas viel Gefährlicheres.
"Hat Ihnen Commander Boone im letzten Jahr je Anlaß zu der Vermutung gegeben, daß sein Motivationsimperativ nicht so funktioniert, wie er sollte?" fragte er mich.
Da verstand ich. Endlich begriff ich, was es mit Ihnen und mit mir auf sich hatte. Nein, Ihr MI funktionierte nicht. Und wenn es möglich war, daß ein CVI ohne den Motivationsimperativ arbeitete, dann konnte es auch ein anderes. Ich wußte, wie sich der Zusammenbruch eines CVIs anfühlte. Aber das war es nicht, was diesmal mit mir geschah. Keine Blutungen, keine Kopfschmerzen, keine einen überwältigenden Erinnerungen. Ich hatte meinen Verstand bis hin zur Beherrschung des Skrills perfekt im Griff. Aber mein MI funktionierte auch nicht so, wie es sollte. Zu diesem Zeitpunkt waren die Ziele der Taelons zwar immer noch am Wichtigsten für mich, aber ich hatte bereits begonnen, eigene Pläne zu entwickeln. Ich hatte begonnen, einige Dinge für mich zu behalten, und Entscheidungen zu treffen, zu denen ich nicht in der Lage sein sollte.
Die Implikation dessen, was Zo’or da fragte, schnürten mir die Kehle zu. Sie hatten sich nicht verändern. Wenn Ihr MI jetzt nicht funktionierte, dann hatte er nie funktioniert. Was bedeutete, daß meine Vorstellung von uns als einander Ebenbürtigen, Gleichen nur eine Illusion gewesen war. Sie hatten Deedee getötet und mich in meinen alten Zustand versetzt, weil Sie es so wollten, nicht, weil Sie wie ich geworden waren. Und Da’an, der Ihnen so nahe stand und alles andere als dumm ist, mußte das alles schon längst begriffen haben. Oh, mir wurde eine ganze Menge klar.
Daß Zo’or Sie töten wollte, als ihm Ihre Verletzungen nach dem Kampf mit Ha’gel die Chance dazu gaben, überraschte mich nicht. Wie ich schon sagte - er sah Sie als eine gefährliche Schwäche, die man eliminieren mußte, einen mutmaßlichen Spion und außerdem eine Gelegenheit, Da’an einen Schlag zu versetzen. Was mich überraschte, war, daß ich mich vor eine gewisse Wahl gestellt sah. Nicht zwischen Zo’or und Da’an. Apropos, auch danach haben Sie mich nie gefragt, mutmaßlich, um Ihre Deckung nicht zu riskieren. Warum Da’an verlassen und sich Zo’or anschließen? Nun, Sie würden meine Gründe wahrscheinlich ohnehin nicht verstehen, also belassen wir es dabei, daß meine Überlegungen, was mit Ihnen geschehen sollte, nichts mit dem zu tun hatte, was ich über die beiden Taelons dachte. Nein, es war mehr eine Frage nach dem Grad meiner Rachsucht und meines Mitleids. Beides schließt einander nicht aus, Boone. Und Sie taten mir wirklich leid, denn ich konnte jetzt endlich nachvollziehen, in welches Netz Sie sich im letzten Jahr verstrickt hatten.
Aber sehen Sie, wie ich Ihre Entscheidung hinsichtlich Deedees für Sie getroffen habe, als ich Ihre Frau umbringen ließ, so haben Sie meine Entscheidung für mich getroffen, als Sie mich wieder zu einem Implantanten machten und ins Leben zurückriefen. Den Frieden des Todes würde es für keinen von uns beiden geben.
"Ihn zu töten", sagte ich zu Zo’or, "wäre eine Verschwendung. Er verfügt über einen herausragenden Verstand und eine starke Willenskraft. Der Körper ist vermutlich nicht mehr zu gebrauchen, aber was ist mit dem Projekt Erdverteidigung? Da könnte er eingesetzt werden. Nach einer Übertragung sollte man ihn problemlos konditionieren können. Wirklich konditionieren, dieses Mal."
Man konnte sehen, daß Zo’or Gefallen an der Idee fand. Er fühlte sich immer noch gedemütigt durch den Umstand, daß er einige Ihrer Zellen in seinem Körper hatte, dank des Virus, den diese törichten Rassisten in Umlauf setzten. Sie in gleich welcher Form als seinen treuen Diener zu gewinnen, war eine zu verlockende Möglichkeit, um sie abzulehnen. Außerdem ist auch er alles andere als dumm. Er brauchte wirklich herausragende Geister für sein Projekt, und wenn Sie in der Lage gewesen waren, mit einem CVI zurecht zu kommen, sollten Sie auch die Agressionskonditionierung verkraften können.
Und hier sind wir also, Boone. Das ist der Moment, der mich nicht mehr losläßt, und den ich gerade jetzt wieder durchlebe. Ihr Körper ist von Zo’or schon vor Monaten zerstört worden. Der Mann, der auf der Brücke erschienen ist, und damit droht, Zo’or und jeden anderen, der sich noch im Mutterschiff befindet, zu töten, der Mann namens Lazarus, der endlich wieder Zugang zu seinen Erinnerungen gefunden hat, ist das, was von Ihnen noch übrig geblieben ist. Ihre Gedankenmuster, Ihre Erinnerungen, im Körper eines ehemaligen Attentäters, falls Sie das wissen wollen. Sind Sie Lazarus? Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der erstaunliche Prozeß, durch den die Taelons so etwas bewerkstelligen, wirklich die Identität überträgt, oder nur Verhaltensweisen und das Gedächtnis. Im Grunde läuft es auf die alte Frage hinaus, ob wir eine Seele haben.
Wenn wir eine Seele haben, dann bezweifle ich, daß Ihre und meine noch ganz menschlich sind. Mein MI muß noch weiter abgebaut haben. Was mich jetzt dazu bringt, Zo’or zu beschützen, hat nichts mehr mit der absoluten Loyalität zu den Taelons zu tun, die ich einmal empfunden habe. Also könnte man meinen, daß ich wieder frei bin. Aber in gewisser Weise bin ich so verändert und gebunden, wie Sie es sind. Nach zwei Implantationen und zwei Zusammenbrüchen des MI hat das Geschöpf, das ich jetzt bin, wenig mehr mit dem FBI-Agenten, der sich seinerzeit als Beschützer zur Verfügung stellte, gemeinsam, als es das Wesen, dem ich jetzt gegenüberstehe, mit William Boone, Polizist und glücklich verheiratetem Ehemann hat. Lazarus war den Taelons völlig ergeben. Er hat in ihrem Namen Verbrechen begangen. Er hat dafür gesorgt, daß andere sein Schicksal teilen. Er ist von der Gier nach Rache erfüllt, die in ihm brennt und danach drängt, alles zu vernichten.
Endlich sind wir uns gleich. Ebenbürtig.
Also stehe ich wieder vor einer Entscheidung. Beckett ist nicht die einzige, die ihren Skrill einsetzen kann, ohne dabei jemanden zu töten. Ich brauche nur einen Augenblick, in dem Sie abgelenkt sind, und bei dem Chaos, das jetzt im Mutterschiff herrscht, wird dieser Augenblick kommen. Aber ich glaube nicht, daß ich Sie nur außer Gefecht setzen werde. Ihre Existenz ist die Hölle für Sie, nicht war? Nun, mein Mitgefangener, Sie brauchen diese Hölle nicht mehr sehr viel länger zu ertragen. Nur noch ein paar Sekunden, und dann werde ich endlich in der Lage dazu sein, es zu tun. Sie gehen zu lassen, endgültig und für immer.