WARTEN

von Selena

(Die englische Originalversion dieser Geschichte, sowie Selenas Triologie "Convenants"  sind zusammen mit mehreren anderen ausgezeichneten Highlander-Stories in der Internet-Anthologie Voices zu finden)

 

Der Anruf aus Amerika kam in den frühen Morgenstunden, und für eine Weile, während sie sich noch aus dem Schlaf freikämpfte, dachte Alexa, es handle sich um ihren alten Radiowecker, der sie für die Schule wachläutete. Dann hörte das Telefon auf, zu klingeln; sie hörte Adams leise Stimme etwas flüstern, und die Wirklichkeit holte sie wieder ein. Ihre Schulzeit lag Jahre zurück, und das alltägliche Folterinstrument von damals war mehr als einen Kontinent entfernt. Sie öffnete ihre Augen und stellte fest, daß die Morgendämmerung noch auf sich warten ließ.

Wer rief um diese Zeit an, und warum? Sie trat in regelmäßigen Abständen mit ihren Freunden und der Familie, die ihr noch übrig geblieben war, in Verbindung, das letzte Mal erst vor einer Woche, aber sie hatte niemandem die Telefonnummer des Klosters in der Nähe von Athen gegeben, in dem sie und Adam zur Zeit wohnten. Also mußte der Anruf für Adam bestimmt sein. Ihre Augen paßten sich der Dunkelheit an, und sie bemerkte die angespannte Miene, die er machte, während er mit dem unbekannten Anrufer sprach. Seine kurzen, mysteriösen Antworten verrieten ihr zunächst nichts.

"Nein... bist du sicher? Ja, ich weiß... Nein... Tja, dann werde ich eben improvisieren müssen, nicht wahr? Nein... in Ordnung." Er wandte sich ihr zu und sah sie an. "Joe, ich rufe zurück", sagte er, und setzte den Hörer ziemlich abrupt in die Gabel zurück.

Also handelte es sich um Joe Dawson, ihren ehemaligen Arbeitgeber und einen ihrer besten Freunde. Während ihrer Reise um die Welt hatten sie und Adam immer die Zeit gefunden, mit Joe zu telefonieren, ihm Briefe oder Postkarten zu schicken. Daß Adam noch nicht einmal versucht hatte, diesen nächtlichen Anruf mit ihr zu teilen, verriet ihr, daß es um etwas sehr Schlimmes gehen mußte. Etwas direkt aus einem Alptraum, nach Adams Gesichtsausdruck zu urteilen. Diesen Blick hatte sie bei ihm noch nie erlebt. Gewiß, er schaute gelegentlich sehr beunruhigt drein, wenn sie ihre Medikamente einnahm und er dachte, sie bemerke es nicht. Aber nicht so, erschüttert und in sich zerrissen, als müsse er zwischen zwei schrecklichen Möglichkeiten wählen.

"Was ist passiert, Adam?" fragte sie, und setzte sich auf. "Ist Joe..."

"Joe geht es gut", erwiderte er beruhigend. Dann schüttelte er seinen Kopf. "Nein. Nein, ihm geht es miserabel. Alexa, du erinnerst dich doch noch an Duncan MacLeod, oder?"

Natürlich tat sie das. Selbst, wenn der dunkelhaarige Schotte nicht einer von Joe Dawsons Freunden gewesen wäre, sah er einfach zu gut aus, um einem nicht im Gedächtnis zu bleiben, obwohl er sie immer zu sehr eingeschüchtert hatte, um ihn je anzusprechen. Schließlich war er ein Unsterblicher. Ehe ihre Krankheit entdeckt worden war, hatte Alexa unter Joe Dawsons Aufsicht mit der Ausbildung zu einer Beobachterin begonnen. Es hatte nicht lange gedauert. Körperlich behinderte Beobachter wie Joe waren zwar selten, wurden jedoch akzeptiert, aber die Organisation weigerte sich, jemanden aufzunehmen, der noch nicht einmal seine Studienjahre überleben würde. Alexa blieben nur einige Wissensfragmente über die Unsterblichen und ihre seltsame Welt mit all ihrer Gewalt und Schönheit. Bis auf Joe gab es niemanden, mit dem sie darüber reden konnte, ehe sie die Tätowierung an Adams Handgelenk entdeckte, kurz, nachdem sie Seacouver verlassen hatten.

Er war etwas verdutzt über den Zufall gewesen, aber ihn über seine Arbeit in der Forschung auszufragen, hatte Alexa dabei geholfen, die scheue Befangenheit zu überwinden, die sie in bezug auf diesen Mann empfand, der aus dem Nichts in ihrem Leben erschienen war, als sie bereits glaubte, es sei in allen wichtigen Punkten beendet. Also hatte er ihre Neugier ermutigt, und ihr mehr und mehr Geschichten erzählt, die ganz sicher nicht aus irgendwelchen Geschichtsbüchern stammten. Ehe sie das andere Geheimnis entdeckte, hatte sie sich gefragt, ob sein Wissen nur aus seiner Forschertätigkeit herrührte, oder ob Adam seine Freundschaft mit Joes Unsterblichen ausgenützt hatte, um einige historische Details erster Hand von ihm zu erfahren. Sie hätte das getan, wenn sie sich in Gegenwart von MacLeod nicht so unbeholfen vorgekommen wäre. Sicher, es war mehr als ungewöhnlich für Unsterbliche und Beobachter, miteinander befreundet zu sein, aber Adam arbeitete in der Forschung, nicht in der Praxis, und sie hatte angenommen, daß der Organisation, wenn sie Joes Regelverstöße ignorierte, Adams Überschreitung im Vergleich harmlos erschien.

Jetzt, da sie glaubte, dem Grund für Joes Anruf auf die Spur gekommen zu sein, spielte das alles keine Rolle mehr.

"Er ist tot, nicht wahr?" flüsterte sie. Kein Wunder, daß Joe angerufen hatte. Sie wußte, wie wichtig ihm MacLeod war; wenn ein anderer Unsterblicher den Mann geköpft hatte, brauchte Joe Trost von jemandem wie Adam, der mit beiden befreundet war. Sie rutschte näher, um ihren Geliebten zu umarmen.

"Es tut mir so leid", sagte Alexa. "Er war auch dein Freund, das weiß ich. Adam, es tut mir leid."

Aber die angespannten Schultermuskeln, die sie unter ihren Fingern spürte, entspannten sich nicht. Sein Kinn streifte ihr Haar, als er den Kopf schüttelte.

"Nein, er ist nicht tot. Er lebt, aber..." Er legte seine Hände auf ihre Schultern und schaute ihr in die Augen. Der fremde, zutiefst verstörte Ausdruck in seinem Gesicht war noch immer nicht verschwunden. Er seufzte. "Also, um es kurz zu machen, er hatte eine Art Nervenzusammenbruch. Es hat etwas mit einer negativen Energieübertragung zu tun, mit zu vielen Köpfen, und wenn er nicht bald Hilfe bekommt, wird der Zustand unheilbar." Er zögerte einen Moment lang, dann sprach er sehr rasch weiter, als fürchte er, sie könne ihn unterbrechen: "Alexa, ich muß zu ihm gehen, um ihm zu helfen."

Zuerst konnte sie nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. In mancher Beziehung mochte sie naiv sein, aber nicht in dieser. Selbst wenn es keine anderen Wolken am Horizont für sie gegeben hätte, würde sie diese Ankündigung trotzdem entsetzen, denn sie wußte, daß "Nervenzusammenbruch" eine Beschönigung für "Verwandlung in einen Mörder" sein konnte, wenn man von einem Unsterblichen sprach. Aber es gab... Wolken, und kaum einen Horizont. Die letzten Monate waren ein Wunder für sie gewesen. Wieder lebendig zu werden, die Welt zu entdecken, Adam zu entdecken, und die Person, die sie für ihn sein konnte; nicht jemand, der bemitleidet und begönnert werden mußte, kein Opfer, als das sie ihre Freunde und ihre Familie daheim ansahen, etwas, das sie mehr und mehr gehaßt hatte, nein, eine Frau, die liebte und geliebt wurde. Und wenn der Schatten ihres Todes sie manchmal in der Nacht einholte, in einem Traum, der sie weinend und zitternd zurückließ, wenn all ihre Entschlossenheit, in der Gegenwart zu leben, die Zukunft nicht von ihr abhalten konnte, dann war er da, und immer half er ihr, die Verzweiflung niederzukämpfen, bis sie ihren Weg zurück in die Gegenwart fand. Erst jetzt, als er davon sprach, sie zu verlassen, erkannte sie, wie sehr sie von ihm abhängig geworden war.

Denn das hatte er gemeint. Er wollte sie verlassen, um seinem Freund zu helfen, was ihn sehr leicht das Leben kosten konnte. Die häßliche, zynische Stimme in ihrem Kopf, die sie seinerzeit veranlaßt hatte, ihn abzuweisen, als sie ihm das erstemal begegnet war, höhnte: Tja, was hast du denn erwartet? Hast du gedacht, er bemerkt nicht, wie schnell du mittlerweile an Gewicht verlierst? Und all die Haare, die jeden Morgen in der Bürste zurückbleiben, die hat er mit Sicherheit auch bemerkt, ihm entgeht doch kaum etwas. Er weiß genau, daß es jetzt nicht mehr lange dauern wird, und er hat Angst, er will dabei nicht zuschauen, genau, wie du es von Anfang an vermutet hast. Und jetzt bietet sich ihm die einmalige Möglichkeit, mit einer wirklich guten Ausrede zu verschwinden.

Mit aller Gewalt brachte sie die verletzende Tirade zum Schweigen. Was sie da dachte, war weder fair, noch entsprach es der Wahrheit. Vielleicht fürchtete Adam sich tatsächlich vor ihrem baldigen Verfall, aber deswegen würde er sie nie verlassen, das wußte sie. Als sie ihre gemeinsame Reise begannen, waren sie einander noch fremd gewesen, gewiß, Fremde, die sich ineinander verliebt hatten, aber jetzt kannte sie ihn, vertraute ihm, glaubte an ihn und an die Liebe, die er für sie empfand. Der Mann, der sich Sorgen gemacht hatte, als sie einander für zehn Minuten in der Menge auf der Spanischen Treppe in Rom verloren hatten, würde sie keine Sekunde allein lassen, wenn es nicht einen wirklich zwingenden Grund gab.

Dennoch flößte die Aussicht, wieder allein zu sein, ihr Angst ein, und sich vorzustellen, wie er einem mörderisch gelaunten Unsterblichen ohne jede Selbstbeherrschung nachjagte, erschreckte sie zutiefst. Es lag ihr auf der Zunge, zu fragen, warum ausgerechnet Adam derjenige sein mußte, der Duncan MacLeod wieder zur Vernunft brachte. Wäre Joe Dawson, der den Mann schließlich dutzende von Jahren beobachtet hatte, nicht viel bessere Wahl? Oder der rothaarige Junge, der MacLeod immer nachlief, Ricky, Richie oder so ähnlich? Es waren gute Einwände, aber im Grunde ihres Herzens wußte sie, daß sie in Wahrheit damit nur fragen würde: Wie kannst du mich verlassen, wenn du weißt, daß ich sterbe?

Das, schwor sie sich, würde sie nie tun. Was sie und Adam teilten, war so kostbar, weil es aus freiem Willen gegeben wurde. Pflichtgefühl und Mitleid konnte sie zu Hause bekommen, und es hatte sie erstickt. Wenn sie ihn bat, zu bleiben, die Bitte eines Freundes und die Not eines anderen zu ignorieren, weil diese beiden schließlich nicht nur noch von geborgter Zeit lebten, wenn sie bettelte, dann würde er wahrscheinlich bei ihr bleiben. Aber es wäre dann kein Geschenk mehr, es wäre eine Verpflichtung; sie würde anfangen, sich zu fragen, ob er nicht insgeheim auf den Tag wartete, an dem sie keine Last mehr sein würde, und am Ende vielleicht sowohl ihn als auch sich selbst verabscheuen.

"Dann mußt du gehen", sagte Alexa, begegnete seinem Blick und beschwor all das Vertrauen in ihn herauf, das sie besaß. Er berührte ihre Wange, sehr behutsam, als wolle er sich von ihrer Wirklichkeit überzeugen.

"Alexa Bond", murmelte er, "weißt du, was du für ein Wunder für mich bist?"

Die unabsichtliche Ironie der Worte war ihr bewußt, denn für die meisten Menschen wäre er das lebende Wunder. Selbstverständlich hatte sie seine Unsterblichkeit schon vor Monaten entdeckt. Wenn man mit jemandem lebte, dann war es schwer, nicht zu bemerken, daß er ständig ein Schwert mit sich herumtrug. Und wenn von den Unsterblichen wußte, war es unmöglich, nicht zu begreifen, was genau das Schwert bedeutete. Dennoch hatte sie nicht darüber gesprochen, sondern darauf gewartet, daß er es ihr erzählte, was er kurz, bevor sie die Vereinigten Staaten verließen, getan hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie sich einander schon weit genug geöffnet, um ihm noch ein weiteres Geständnis zu ermöglichen: daß er befürchtet hatte, sie würde ihm die Ungerechtigkeit, die in all dem lag, verübeln.

Alexa war keine Heilige. Es gab Augenblicke, in denen sie noch nicht einmal die Passanten auf der Straße beobachten konnte, ohne sich zu fragen, warum sie sterben mußte, während diese Leute weiterlebten. Aber meistens bereitete ihr die Lebenskraft, die sie überall spürte, sowohl Trost als auch Freude; es gab ihr die Gewißheit, daß so viel weitergehen würde, auch wenn ihr eigener Körper sie im Stich ließ. Adams Unsterblichkeit erklärte, warum sie diese Lebenskraft in seiner Gegenwart besonders stark empfand. Doch als er von seiner Befürchtung über ihre Reaktion sprach, hatte sie diese Grübeleien außer Acht gelassen; statt dessen hatte sie gelacht und etwas erwidert, das ebenfalls der Wahrheit entsprach - daß sie immer gewußt hatte, daß er sie um viele Jahre überleben würde. Sterblicher, Unsterblicher, von ihrem Standpunkt aus machte es keinen Unterschied mehr; es war Adam selbst, der ihr wichtig war.

Nur konnte seine Unsterblichkeit ihn jetzt für immer von ihr trennen. Während ihrer Reisen waren sie Alexas Wissen nach nie einem anderen Unsterblichen begegnet, und sie glaubte, daß Adam es ihr erzählt hätte. Jetzt würde er einen aufsuchen, der nicht nur geisteskrank war, sondern laut Joe Dawson auch einer der besten Schwertkämpfer, die je gelebt hatten.

"Versprich mir", sagte sie heftig, und kümmerte sich nicht mehr darum, ob sie ihm damit etwas von den quälenden Zweifeln verriet, die sie plagten, "versprich mir, daß du überleben wirst."

Er antwortete auf das, was sie meinte. "Ich werde zurückkommen. Das werde ich, Alexa."

 

Adam beim Packen zu helfen und ihn zum Flughafen zu fahren, nach Stand-by-Flügen nach Edinburgh oder London Ausschau zu halten und sich um die Fahrpläne der Fähren zwischen England und Frankreich zu kümmern - diese Aufgaben lenkten Alexa wirksam von allem ab, was kein unmittelbares Problem war. Erst, nachdem er wirklich fort war, hoben die Zwillingsdämonen Furcht und Einsamkeit wieder ihre häßlichen Köpfe. Sie beschloß, trotzdem die Stadt zu besuchen, einfach nur durch Athen spazieren zu gehen, statt es wie die meisten Touristen gehetzt zu durcheilen. Aber als sie auf dem Markt Weintrauben kaufen wollte und Adam nicht da war, um für sie zu dolmetschen, empfand sie sich zum erstenmal seit ihrer Ankunft in diesem alten, schönen Land als Fremde. Letztendlich kam sie trotzdem zurecht, auch wenn sie so heftig wie eine wildgewordene Fischverkäuferin gestikulieren mußte. Irgendwo war es komisch und heiterte sie auf.

Vermutlich sollte sie die Trauben waschen, aber sie dachte, was soll’s, es spielt doch keine Rolle mehr. Statt dessen setzte sie sich im Schatten eines Baumes auf die Stufen einer alten Theaterruine und aß sie, die fruchtige Kühle genießend. Unten, in dem staubigen Halbkreis, der von der Bühne noch verblieben war, zeigte schon wieder ein Touristenführer seinen Schutzbefohlenen, wie es um die Akustik in griechischen Theatern bestellt war, worauf sich prompt alle Mitglieder der Gruppe berufen fühlten, ebenfalls etwas einigermaßen Würdiges zu zitieren. Alexa lächelte, denn sie erinnerte sich an ihre Zeit in Italien.

Während sie Rom besuchten, hatten sie die Wahl zwischen einem Theaterstück, das in antiker Manier, einschließlich von Schauspielern in Masken und lateinischer Sprache, in Ostia aufgeführt wurde, und einem Gianna-Nannini-Konzert gehabt. Adam war für das Gianna-Nannini-Konzert; er überredete sie mit einer Mischung aus schlechten Witzen und dem, was sie insgeheim seinen unschuldigen-kleinen-Jungen-Blick nannte.

"Und du willst ein begeisterter Historiker sein!" hatte sie ihn geneckt.

"Oh, das bin ich. Glaubst du denn, die Römer schauten sich Plautus-Komödien an, um einen auf Kultur zu machen? Damals ist man des Spaßes wegen hingegangen, und hat den Schauspielern das Leben zur Hölle gemacht, wenn sie langweilig waren. Glaub mir, die Leute, die heute ein Rock-Konzert besuchen, sind dieser Erfahrung viel näher, als die ehrfürchtig gelangweilten Typen in Ostia es je sein können."

Also gingen sie zu Gianna Nannini, und er hatte recht, es machte Spaß, sich zusammen mit hunderten von Fans die Kehle aus dem Leib zu schreien und wie ein Teenager herumzuhüpfen; es war eine der Gelegenheiten, bei denen sie ganz und gar in der Gegenwart leben konnte, ohne ein einziges Mal an die Zukunft zu denken.

Aber er hatte ihr ein antikes Theaterstück versprochen, früher oder später, und in Epidauros hatte er sein Versprechen schließlich gehalten. Auch das war eine unglaubliche Erfahrung gewesen: die Schauspieler dabei zu beobachten, wie sie sich auf eine fremdartige, sehr langsame, aber anmutige Weise bewegten, und mehr sangen als sprachen, während Adam ihr die Übersetzung ins Ohr flüsterte. Hin und wieder konnte er es nicht lassen, ihre Leichtgläubigkeit auf die Probe zu stellen, indem er Dinge erfand wie Menelaos’ Frage an Hekabe, ob sie nicht Eheberaterin spielen wolle, und jedesmal, wenn sie ihn dabei ertappte, zwickte sie ihn, und sie brauchten dann immer eine Weile, bis sich ihre Ernsthaftigkeit wiederherstellte.

Als sie jetzt über das Stück nachdachte, das sie gesehen hatten, Die Troerinnen, erinnerte sich Alexa daran, daß es eine Szene gegeben hatte, in der er nicht nur sehr ernst und aufmerksam wirkte, sondern auch auf eine Weise traurig, die über ein Mitgerissen sein durch das Drama hinausging. Es handelte sich um die Szene, in der Cassandra erschien, Cassandra die Seherin, die Agamemnon zu seiner Sklavin und Konkubine machte. Erst hatte Alexa angenommen, daß Adams Reaktion durch all die düsteren Todesprophezeiungen ausgelöst wurde, die Cassandra machte, daß sie ihn an ihrer beider Lage gemahnten. Dann hatte sie sich gefragt, ob er dieses Stück damals gesehen hatte, als es noch neu und gerade geschrieben war, vor all den Jahrhunderten, zu einer Gelegenheit, an die er sich jetzt erinnerte. Es war auf jeden Fall einer der wenigen Momente, wo sie Adam tatsächlich nicht als jungen Mann ihrer eigenen Generation sehen konnte, sondern als jemand, der die Last von unzähligen Jahren mit sich herumtrug. Manchmal schien er bei diesen seltenen Gelegenheiten sogar ein anderer Mensch zu sein; er strahlte Trauer aus, ja, aber nichts von der Verwundbarkeit, die sie zu ihm hingezogen hatte, als sie sich das erste Mal begegnet waren. Statt dessen erweckte er den Eindruck, als ziehe er sich von allem und jedem zurück, und seine lebhaften Gesichtszüge wurden starr wie die jener römischen Büsten, die er ihr gezeigt hatte. Zu ihrer Erleichterung dauerten solche Momente nie sehr lange; bald, nachdem die Cassandra-Szene vorbei war, wurde er wieder ihr Adam, übersetzte mit Genuß den Streit zwischen Helena und Hekabe und legte Helena Sätze wie "Für wen hältst du dich eigentlich - Miss Ellie?" in den Mund, bis sie ihn wieder zwickte.

"Na ja, das war es, was Euripides meinte - er hat eben nur nicht lange genug gelebt, um in den Genuß von amerikanischen Seifenopern zu kommen, er mußte sich mit griechischen behelfen, der arme Kerl."

Das Lächeln, das die Erinnerung an diesen Abend in Alexa hervorrief, verblaßte, als sie sich ihrer Einsamkeit in der Gegenwart wieder bewußt wurde. Nimm dich zusammen, schalt sie sich. Es ist noch nicht einmal ein ganzer Tag. Du hast vorher ohne ihn gelebt, du kannst auch jetzt wieder ohne ihn leben, selbst wenn es schwer fällt. Und das bedeutet, zu leben, nicht herumzusitzen und dir selbst leid zu tun.

Er sollte hier sein, konterte die zynische Stimme in ihrem Kopf. Hier bei dir. Dann bestünde überhaupt kein Grund, ihm nachzuseufzen. Schau den Tatsachen ins Gesicht, meine Liebe, er hat sich dafür entschieden, lieber bei seinem Freund MacLeod zu sein, als bei dir. Und warum auch nicht? Nervenzusammenbruch hin oder her, MacLeod wird nicht in der nächsten Zukunft vor seinen Augen verfallen.

Nein, gab Alexa zurück, haßte sich für die Gedanken und war doch unfähig, sie zu ignorieren. Der Geist kann genauso krank sein wie der Körper. Und Geisteskrankheit ist gefährlicher, wenn es sich um einen Unsterblichen handelt. Andere Menschen könnten darunter leiden; bei mir geht es nur um mich selbst, und so krank bin ich nicht. Noch nicht. Er weiß, daß ich stark genug bin, um auf eigenen Füßen zu stehen.

Das heißt nicht, daß er es ausprobieren muß.

Das heißt, daß er mir vertraut. Er betrachtet mich nicht als Schwächling, der ohne Unterstützung durch andere nicht leben kann. Und ich vertraue ihm. Es wird ihm gelingen, seinem Freund zu helfen, und dann kommt er zu mir zurück.

Dann laß uns hoffen, daß er dich nicht im städtischen Krankenhaus von Athen wiederfindet.

Das wird er nicht.

Sie stand auf und gesellte sich zu der neuesten Gruppe schwitzender Touristen unten im Orchester, Engländer, ihrem Akzent nach zu schließen, und mit einem Führer geschlagen, der offensichtlich nur ein paar auswendig-gelernte Standardsätze beherrschte. Freundlich lächelnd stellte sie sich vor, erkundigte sich, ob sie Hilfe benötigten, und bot an, sie herumzuführen, da sie bereits geraume Zeit in Athen verbracht habe. Der Fremdenführer erdolchte sie beinahe mit Blicken, aber die Hausfrauen und Frühpensionäre aus den englischen Midlands nahmen dankbar an. Es war ein Augenblickseinfall gewesen, doch die allwissende Fremdenführerin zu spielen, stellte sich tatsächlich als amüsant heraus, und ehe es Abend wurde, hatte ihr ein Major, der ihr wie das Relikt eines Agatha-Christie-Romans vorkam, sogar einen Antrag gemacht. Und es war eine wunderbare Ablenkung.

Erst, als sie wieder zu dem Kloster zurückgekehrt war, stellte sie fest, daß sie heute vergessen hatte, ihre Pillen zu nehmen. Sie überlegte, ob sie dafür die abendliche Dosis verdoppeln sollte, entschied sich jedoch dagegen. Am Ende würde es mehr schaden als nützen. Sie hatte bereits in der Stadt etwas gegessen, bat jedoch um etwas Brot zusammen mit dem üblichen Wasser für die Nacht und erhielt beides. Die Nonne, die es ihr brachte, teilte ihr mit, Adam habe angerufen und wolle es um 23.00 Uhr nochmals versuchen. Während sie das ausrichtete, runzelte sie die Stirn; Adams plötzliche Abwesenheit verwirrte sie vermutlich. Bei dem Kloster handelte es sich um eine der wenigen katholischen Einrichtungen in diesem griechisch-orthodoxen Land; es war nicht gerade reich und vermietete daher auch einige Räume. Allerdings nahmen die Nonnen deutlich mehr Anteil am Leben ihrer Gäste, als es der durchschnittliche Hotelbesitzer tat, und befürchteten vermutlich, daß es sich um ein tränenerfülltes Zerwürfnis handelte.

"Es geht um einen familiären Notfall, Schwester", meinte Alexa beruhigend; sie fühlte sich selbst viel ruhiger, da Adam offensichtlich noch am Leben war. Später grübelte sie darüber nach, ob die Beschreibung nicht sogar die beste war, die man finden konnte. Joe zufolge hatten die Beobachter Theorien über die Herkunft der Unsterbliche, aber keine Beweise. Diejenigen, die einander nicht sofort umbrachten, knüpften außergewöhnlich schnell enge Bande, wie um die Familie zu schaffen, die sie nie gehabt hatten. Sah Adam MacLeod so? Als Familienmitglied, als Bruder?

Sie beabsichtigte, ihn zu fragen, aber als er anrief, klang er unglaublich besorgt und gleichzeitig sehr, sehr müde. Er sei in Glenfinnan gewesen, erzählte er ihr, um das alte Schwert des MacLeod-Clans zu holen, weil der Schotte möglicherweise etwas in der Art brauchte, um zu seinem alten Selbst zurückzufinden. Danach hatte er einen Bericht von Joe über das Schiff erhalten, auf dem MacLeod zur Zeit arbeitete. Es war einen Tag früher als erwartet in Le Havre angekommen. Adam war es gelungen, die buchstäbliche letzte Fähre von Dover aus zu erwischen, aber im Moment wußte er nicht, wo er als nächstes suchen sollte. Morgen würde er natürlich das Büro der Schiffahrtsgesellschaft in Le Havre besuchen können, doch er bezweifelte, daß MacLeod ihnen eine echte Adresse hinterlassen hatte.

"Vielleicht hat er etwas zu einem der Matrosen gesagt, mit denen er gearbeitet hat", schlug Alexa vor. Sie war sich nicht sicher, ob sie mehr erleichtert darüber war, daß sich Adam noch nicht in Gefahr befand, seinetwegen traurig oder frustriert, weil eine längere Suche nach MacLeod auch eine längere Abwesenheit bedeutete.

"Wahrscheinlich nicht, aber einen Versuch ist es auf alle Fälle wert. Ich werde mir auf jeden Fall ihre Adressen besorgen. Danke, Alexa." Er seufzte, und fügte hinzu: "Ich wünschte, du wärest hier."

"Ich nicht", erwiderte sie so leichtherzig wie möglich, denn sie wollte ihn zum Lächeln bringen, wie er das so oft für sie getan hatte. "Du klingst furchtbar deprimiert, und heute habe ich einen anbetungswürdigen fröhlichen Major getroffen - und er hat einen noch besseren britischen Akzent als du!"

"Man kann dich nicht eine Minute aus den Augen lassen", sagte er, und die Neckerei, die sie begannen, tröstete sie beide. Nachdem sie aufgelegt hatte, nahm sie einen der Sweater, die er zurückgelassen hatte, preßte ihre Wange dagegen und entdeckte, daß sie tatsächlich einschlafen konnte.

 

Am nächsten Morgen beschloß Alexa, in der näheren Umgebung spazieren zu gehen. Die riesigen Bäume im Yellowstone Park hatten sie tief beeindruckt, aber an diesen kleinen Ölbäumen mit ihren halbverdorrten Blättern war etwas... Vielleicht lag es an ihrer Skurrilität; sie sahen so ausgetrocknet und verkrümmt aus, ihre Wurzeln lagen zum ständig der Sonne ausgesetzt, aber immer noch blühten sie, trugen sie Früchte. Und all die bizarren Formen; sie wünschte, sie wäre zeichnerisch begabt. Sie besaß einen Photoapparat, aber Photos waren einfach nicht dasselbe. Manchmal konnte sie die Mythen verstehen, denen zufolge die Götter Menschen in solche Bäume verwandelt hatten, die von Dryaden berichteten, welche in den Bäumen lebten, oder von Ödipus, der angeblich in genau dieser Gegend, Colonos, vom Angesicht der Erde verschwunden war. Ganz gewiß hatte der Ort eine seltsame und zeitlose Ausstrahlung.

Später fuhr sie doch wieder nach Athen hinein, denn sie hatte sich plötzlich daran erinnert, daß es ein Museum gab, das sie noch nicht besichtigt hatte. Es war eins der moderneren, über den griechischen Unabhängigkeits-krieg gegen die Türken, kein Thema, das sie sehr interessierte, aber kein neuerworbenes Wissen war gänzlich verschwendet, und es würde ihr die Zeit vertreiben.

Das Museum hielt eine Überraschung für sie bereit. Eine Ecke hatte man Lord Byron gewidmet, der, wie sie sich erinnerte, während dieses Krieges gestorben war. Die kleine Ausstellung bestand größtenteils aus Briefen, einigen Miniaturen und ein paar Manuskripten. Einer der Briefe kam ihr eigenartig bekannt vor, was lächerlich war, aber nach einer Weile erkannte sie, woher das déja-vue-Gefühl rührte. Es lag nicht an dem Inhalt des Briefes; es lag an der Handschrift. Man sah durch den Vergleich mit den übrigen Dokumenten sofort, daß es nicht Byrons Handschrift sein konnte. Dieser Brief war jemand anderem diktiert worden. Der kurze griechische Text auf der Plakette neben dem Brief verriet vermutlich auch, wem. Adam hatte ihr das griechische Alphabet beigebracht, doch in diesem Fall brauchte sie es noch nicht einmal. Er mußte diesen Brief geschrieben haben. Das waren seine T’s, seine B’s, und die immer langgezogenen e’s. Sie stand sehr lange vor dem Glaskasten mit den Briefen.

Die Realität von Adams Unsterblichkeit wurde ihr wieder beinahe schmerzhaft bewußt. Er war hier gewesen, um diesen Brief zu schreiben, vor etwa 170 Jahren. War ein anderer Mensch gewesen, hatte ein anderes Leben gelebt, mit Freunden und Geliebten, die nun schon lange tot waren. In weiteren 170 Jahren würde er immer noch da sein, vorausgesetzt, daß ihn niemand umbrachte. Vielleicht würde er wieder Athen besuchen, und nicht allein. Sie fragte sich, ob sie eifersüchtig war. Nein, entschied sie, weder auf die Vergangenheit noch auf die Zukunft, denn manchmal stellte sie sich Adam allein vor, nach ihrem Tod, wenn sie einander nicht mehr trösten konnten, und die Vorstellung tat ihr weh. Sie hatte Joe schon vor einiger Zeit heimlich angerufen und ihn versprechen lassen, für Adam da zu sein, wenn diese Zeit kam. Es war nicht die Zukunft oder die Vergangenheit, es war die Gegenwart, die sie besitzergreifend werden ließ.

Warum, höhnte ihre dunkle Seite, gegen die sie ankämpfte, konnte MacLeod nicht mit seinem Zusammenbruch waren, bis du tot bist? Warum muß er jetzt zwischen euch kommen, denn das hat er doch getan, oder etwa nicht? Und Adam hat sich für ihn entschieden, nicht für dich.

Das ist lächerlich. Krankheit wartet nicht auf einen geeigneten Zeitpunkt, das weiß gerade ich am besten. Und Adam hat nicht zwischen uns gewählt. Möchte ich etwa, daß er nur noch für mich etwas empfindet, und alle anderen meinetwegen im Stich läßt?

Ja, sagte ihre Quälerin, aber die Alexa, die Nein erwiderte, war stärker.

Was für eine Art von Liebe wäre das denn? Wenn er etwas derartiges täte, wäre er dann noch der Mann, in den ich mich verliebt habe?

Nein.

 

Während sie in einem Straßencafé saß und die Menschen beobachtete, wie sie vorbeigingen, wurde sie beinahe von einem Ball getroffen, mit dem einige Kinder spielten. Alexa reagierte mit einem Instinkt, den sie weniger dem Schulsport als Joes Bar verdankte, wo man allen möglichen plötzlichen Hindernissen ausweichen mußte, ohne etwas zu zerbrechen, und fing ihn. Sie warf ihn zurück, was zu einem Spiel zwischen ihr und den Kindern führte. Am Schluß rannte sie mit ihnen herum und mußte so sehr lachen, daß es sie ihren Atem kostete. Sie verstanden kaum ein Wort von dem, was sie sagte, denn die paar griechischen Ausdrücke, die sie gelernt hatte, waren hier kaum angebracht, aber das war auch nicht nötig. Schließlich mußte sie zu ihrem Platz zurückkehren, um die Rechnung zu bezahlen und endlich wieder zu Atem zu kommen.

Ich wünschte, ich könnte ein Kind bekommen.

Der Gedanke ließ sie frösteln. Da war sie wieder, die Zukunft, der unerwünschte Eindringling. Früher hatte sie kaum je über Kinder nachgedacht. Manchmal vielleicht, aber nicht sehr oft. Ihre eigene Kindheit lag noch nicht lange genug zurück, und sie hatte noch so viele Pläne für sich selbst. Außerdem sollte man ihrer Meinung erst jemanden finden, mit dem man den Rest seines Lebens verbringen wollte, ehe man Kinder in die Welt setzte. Doch zu dem Zeitpunkt, als sie das Risiko eingegangen wäre, war es zu spät.

Aber ich wünsche es mir wirklich. Ich wünsche mir ein Kind. Ein Kind, das ein Teil von Adam und von mir ist. In dem wir beide weiterleben. Das ist wahre Unsterblichkeit. Aber selbst, wenn ich gesund wäre, selbst, wenn ich noch fünfzig Jahre vor mir hätte, könnten Adam und ich doch nie Kinder haben. Wir könnten welche adoptieren, aber es wäre nicht dasselbe. Oder? Vielleicht doch. Vor Monaten habe ich meine Familie und meine Freunde verlassen, um mit einem Fremden zu gehen, in den ich mich verliebt hatte. Es kann doch nicht so schwer sein, sich auch noch in ein fremdes Kind zu verlieben.

Hör auf damit, befahl Alexa sich. Sie mußte aufhören, über etwas nachzugrübeln, das doch nie sein konnte; so etwas führte nur zur Verzweiflung.

Es ist immer noch besser, als darüber nachzudenken, wie Adam einen wahnsinnigen MacLeod findet und vielleicht gerade jetzt geköpft wird.

Sie holte tief Atem und beschloß, besser auf der Stelle wieder eine Touristengruppe zu finden.

 

Diesmal kehrte sie früh zum Kloster zurück, aber der Abend zog sich hin, und Adam rief und rief nicht an. Sie versuchte, etwas zu lesen, aber das half nicht; sie dachte daran, Joe anzurufen, oder sogar ihre Tante und ihren Onkel, aber die Furcht davor, so etwas gerade in dem Moment zu tun, in dem Adam versuchte, sie zu erreichen, hielt sie davor zurück. Schließlich beschloß sie, ihm einen Brief zu schreiben. Falls er tot sein sollte, würde sie den Brief verbrennen. Falls - wenn - er zurückkehrte, würde sie ihn versteckten. Er konnte ihn nach ihrem Tod lesen, denn sie versuchte, all das niederzuschreiben, was er ihr bedeutete. Aber ihre Ängste schlichen sich wieder ein, und sie zerriß Brief nach Brief, bis Adam schließlich doch anrief, und sie entdeckte, daß es bereits nach Mitternacht war.

"Du lebst", sagte sie, zu erleichtert, um ärgerlich zu sein.

"Ich werde immer überleben. Das verspreche ich dir."

"Hast du...?"

"Ja, ich habe ihn gefunden. Er... "Übel" ist noch untertrieben. Manchmal hatte ich das Gefühl, daß der Mann, den ich kenne, überhaupt nicht mehr vorhanden ist. Und dann spürte ich das Gegenteil. Etwas Schreckliches ist geschehen, aber vielleicht kommt sogar etwas Gutes dabei heraus. Er ist jetzt wieder etwas selbstbeherrschter, also besteht eine Chance. Und er hat mir sein Schwert überlassen. Morgen... morgen werden wir sehen, ob er wieder zu sich selbst finden kann. Wir sind auf dem Weg zu einem Ort, den ich kenne, aber wir mußten hier anhalten. Ich habe die Schwerter weg gesperrt, also mach dir keine Sorgen, aber ich bin jetzt seit 48 Stunden unterwegs; ich brauche etwas Schlaf. Und er auch. Wir sind jetzt in einer Herberge. Wenn die Sache, an die ich denke, morgen klappt, dann rufe ich dich von hier aus an, bevor wir nach Paris zurückkehren."

"Ich liebe dich", stieß Alexa hervor; sie wollte nicht kitschig klingen, aber sie mußte es aussprechen, da sie sehr genau wußte, daß die Gefahr, ihn zu verlieren, immer noch bestand. "Und ich glaube an dich", fügte sie hinzu. Sie versuchte, an ihren gewohnten Optimismus anzuknüpfen, obwohl es ihr schwer fiel, und fügte hinzu: "Also weiß ich, daß es funktionieren wird."

Er schwieg einen Moment, dann sagte er, wieder so rasch, als befürchte er, sie könne ihn unterbrechen: "Es hat nie jemanden wie dich gegeben - der mich so vollkommen akzeptiert hat - der so an mich glaubte, wie du es tust. Und deswegen gibst du mir mehr, als ich dir je geben könnte."

Wieder kehrte Schweigen zwischen ihnen zurück, aber keiner von beiden war in der Lage, den anderen schon gehen zu lassen. Schließlich flüsterte Alexa: "Adam, ich weiß, daß du müde bist, aber könntest du - könntest du mir einfach eine Geschichte erzählen - bis ich eingeschlafen bin?" Damit ich mich am Klang deiner Stimme festhalten kann, dachte sie, aber sprach es nicht aus. Er verstand sie auch so.

"Also, man hat mir schon viele Dinge vorgeworfen, aber noch nie, daß ich die Leute zum Einschlafen bringe", antwortete er. "Ich muß wirklich nachlassen. Das ist eine Herausforderung, Alexa. Beschwer dich nicht, wenn ich dich jetzt noch stundenlang wachhalte!"

"Habe ich nie getan", gab sie zurück, und ihn lachen zu hören, nahm etwas von der ständigen Last von ihren Schultern, wie er das immer tat. Er fing an, ihr etwas zu erzählen, was er "die Wahrheit über diesen Langweiler Beowulf" nannte, und sie kauerte sich auf dem Bett zusammen, ohne darauf zu achten, daß sie noch angekleidet war, hielt den Hörer in der Hand und lauschte der Stimme, die sie von Anfang an gefesselt hatte, hielt sich an ihrer Wirklichkeit fest. Sie hielt die Schatten und die Einsamkeit ab, und nach einer Weile unterschied sie nicht mehr zwischen einzelnen Worten, sondern überließ sich dem Klang wie einer warmen, weichen Decke.

 

Als sie am nächsten Morgen erwachte, hielt sie den Hörer immer noch in der Hand. Hastig stellte sie ihn zurück auf die Gabel. Sie hatte immer noch genügend Wasser für ihre morgendlichen Pillen, und sie war ohnehin nicht hungrig, also entschied sie sich, das Frühstück ausfallen zu lassen, und wartete statt dessen, wie sie es den gestrigen Abend lang getan hatte. Wartete darauf, daß das Telefon läutete. Während sie im Zimmer auf und ab ging, fand sie eine der griechischen Gliederketten, welche die Männer in den Cafés immer in den Händen hielten, und die ein wenig Rosenkränzen glichen. Sie hatte die Männer dabei beobachtet, wie sie die einzelnen Glieder immer wieder zwischen den Fingern gleiten ließen, und versuchte es nun selbst. Es hatte wirklich eine beruhigende Wirkung, die jedoch leider begrenzt war. Sie hielt ihre Phantasie nicht davon ab, sich alle möglichen tödlichen Szenarien auszumalen. Als jemand an ihre Tür klopfte, zuckte sie zusammen, da es ihr beinahe entfallen war, daß es noch andere Menschen auf der Welt gab.

"Miss Bond", sagte Schwester Sophia, die im Kloster das beste Englisch sprach, "Sie sind so dünn, Sie müssen einfach etwas essen. Die Oberin macht sich Sorgen um Sie."

"Mir geht es gut", erwiderte Alexa und zauberte ein passables Lächeln hervor. "Ich bin nur nicht besonders hungrig, und ich warte auf einen Anruf."

Schwester Sophia schnalzte mißbilligend mit der Zunge. "Diese moderne Besessenheit mit dem Telefon - wir hätten nie eigene Leitungen in den Gästequartieren installieren sollen. Aber die Leute haben ja darauf bestanden. Nun ja, wenn Sie nicht zum Frühstück kommen wollen, dann kommt das Frühstück zu Ihnen!"

Sie verschwand und kehrte nach einer Weile mit einem vollen Tablett zurück. Alexa wollte nicht undankbar sein, also versuchte sie einige der Früchte, die sie am leichtesten hinunterschlucken konnte. Gerade hatte sie beschlossen, etwas von dem Brot für später wegzulegen, als das Telefon endlich klingelte.

"Es hat funktioniert! Alles ist wieder in Ordnung - mehr oder weniger - Liebste, es hat funktioniert!"

Sie hatte noch nie so hemmungslose Erleichterung und Freude in Adams Stimme gehörte, bis auf ein einziges Mal, als sie zugestimmt hatte, mit ihm zu kommen.

"Ich werde versuchen, heute nachmittag noch einen Flug von Paris aus zu erwischen", fuhr er fort, immer noch etwas atemlos. "Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, daß es vorbei ist."

"Ich bin selbst ein wenig erleichtert", antwortete sie halb lachend, halb weinend. Jetzt, wo keine Gefahr mehr bestand, fühlte sie sich großzügig genug, um die ganze Welt zu umarmen, also fügte sie hinzu: "Aber bist du sicher, daß dein Freund schon alleine sein sollte? Wenn du noch eine Weile bei ihm bleiben willst..."

"Nein", unterbrach er sie. "Du hast recht, er sollte nicht alleine sein, aber es gibt jemanden, der auf ihn wartet und sich um seine Erholung kümmern wird. Was mich angeht, alles, was ich jetzt noch will, ist, zu dir zurück-zukehren."

 

Es war wieder Nacht, und einige der Menschen, die mit Alexa auf die späten Flüge warteten, dämmerten vor sich hin, aber sie war hellwach. Es waren weder Sorgen noch Ängste, die sie wachhielten. Sogar all die quälenden Zweifel, die sie den letzten Tagen heimgesucht hatten, waren verschwunden, und ließen nichts als Erwartung zurück. Aber als sie Adam hinter der Absperrung auftauchen sah, zusammen mit einem Dutzend weiterer müder Reisender, empfand sie seltsamerweise weniger Freude als Frieden. Seine Abwesenheit hatte all ihre Befürchtungen an den Tag gebracht. Es war schrecklich gewesen, doch sie hatte sich ihnen gestellt, hatte sie besiegt. Vielleicht würde die Zukunft weitere schwere Tage bringen, und wenn ihr Tod näher rückte, würde ganz gewiß auch die Furcht zurückkehren. Aber nicht jetzt. Die Zukunft mochte feindselig sein, aber es hatte immer eine Zeit für Adam und sie gegeben, und jetzt gehörte sie wieder ihnen - die Gegenwart. Und das Jetzt, der Augenblick, Adam, wie er die Absperrung durchquerte und dann anfing, zu rennen, um sie aufzufangen, war nichts anderes als die Ewigkeit.

 

Ende