Vorherbestimmt
-Mögest Du in interessanten Zeiten Leben.....-
(alter chinesischer Fluch)
Licht, kalt und fahl wie Nebel an einem Wintermorgen würde für längere Zeit das letzte bleiben, woran er sich noch erinnern konnte. Und auch die hochgewachsene rothaarige Frau, die sie zu ihm brachten, sollte nichts daran ändern. In professionellem, gleichzeitig ungewöhnlich ernsthaften Tonfall hatte sie Chance erklärt, was man mit ihm vorhatte.
"Und Sie machen das bloß, wenn ich ausdrücklich dazu einwillige?"
Ein wenig ungläubig starrte er auf ihr hübsches Gesicht.
"Ganz genau so ist es, Mr Harper. Bloß mit ihrer Zustimmung."
"Okay, die bekommen Sie. Fangen wir also an."
Die Minuten, in denen die Telepathin in seinen Verstand hinabtauchte, waren nicht einmal besonders unangenehm; jedoch anders als er sich einen mentalen Scan vorgestellt hatte.
"Und, irgendetwas?" Die Stimme des Arztes der der Prozedur als Beobachter beiwohnte, klang erschreckend trocken, als ob alles und gleichzeitig auch nichts von der Antwort der Telepathin erwartete.
Ein unsicheres, leicht säuerliches Lächeln erschien auf ihren Lippen.
"Können wir in ihrem Büro darüber sprechen?"
"Sicher."
Ohne ein Wort verließen sie zusammen das Zimmer. Keiner von beiden machte sich die Mühe, Chance das Gefühl zu vermitteln, daß er mehr sei, als bloß ein lästiges Stück Treibgut von zweifelhafter Herkunft.
***
Fast eine ganze Woche war vergangen seit die Ranger ihn gefunden hatten. Ein Mann, Mitte Dreißig vielleicht, gefangen in einer Art von Stasis. In einem Schiff, das reglos durch die schwerelose Dunkelheit des Raums driftete, wie ein toter Fisch in einem Aquarium.
Geschützt durch sein Stasisfeld war der Fremde der einzig noch verbliebene lebendige Organismus, den die Ranger an Bord des Schiffes vorfinden konnten. Welcher Spezies seine Erbauer auch angehört haben mochten, ihre bereits von Verwesungsprozessen ergriffenen Leichen waren kaum noch mehr als unidentifizierbare, gallertartige Zellklumpen.
Stephen war jetzt noch darüber verärgert darüber, daß in der Hektik des Augenblicks niemandem genügend Zeit geblieben war, wenigstens ein paar Proben dieser Überreste zu nehmen. Fast alle Bordsysteme hatten sich außer Betrieb befunden. So, wie die Ranger es Susan geschildert hatten, waren sie durch die Umstände vor die Wahl gestellt worden, entweder den Fremden schnellstmöglich zu bergen, oder ihn einem sicheren Ende zu überantworten. Praktisch jeden Moment hatte das Schiff endgültig in den Anziehungsbereich der nahen Sonne trudeln können, um schließlich in ihrer Hitze zu verglühen.
Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie den Mann einfach dort gelassen hätten. Susan wußte es nicht. Stattdessen jedoch war der leblose Körper mitgenommen und an Bord von Babylon 5 gebracht worden. Seine Existenz hatte den leitenden Mediziner der Raumstation, Dr Stephen Franklin in einen uncharakteristischen Zustand von Aufregung und Fazination versetzt. "Die ultimative Methode zur dauerhaften Konservierung eines lebendigen Organismus. Lichtjahre von allem entfernt, was wir bisjetzt entwickelt haben." hatte er bei einer kurzen Besprechung des Offizierstabes gesagt. Das Wort ultimativ auf eine Art intoniert, daß es bei Susan Ivanova ein klammes Frösteln die Wirbelsäule hinabjagte. Dutzende unausgesprochener Fragen hingen in der Luft. Niemand, der zu diesem Zeitpunkt wußte, woher der Fremde kam, wer er war, oder wer die Wesen waren, deren sterbliche Überreste man über sämtliche Decks des Schiffes verstreut gefunden hatte. Was hatte sie getötet?
Nun, da Stephen auf der Suche nach Antworten das Risiko eingegangen war, den Mann aus seiner Stasis zu erwecken, hatte sich auch der leise Rest von Hoffnung, daß es vielleicht ein einziges mal etwas wie eine einfache..., einleuchtende..., logische Erklärung gäbe ........zerschlagen.
Die letzten Zeilen des medizinischen Berichtes überflog Susan bloß. Mit hochgezogenen Brauen sah sie von ihrem Schreibtisch auf.
"Das soll doch ein Witz sein, Stephen..." Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. "Stephen......?"
Stephens Schweigen, der maskenhaft starre Ausdruck in seinem Gesicht war genug um Susan klar werden zu lassen, wie ernst ihm die Sache war.-Okay, kein Witz, Susan-
"Du willst mir also erzählen, daß der Kerl nicht bloß glaubt, aus der Vergangenheit zu sein, sondern daß er wahrscheinlich tatsächlich......."
Stephen nickte. "Du hast den Bericht gelesen, die Konzentration von Umweltgiften in seinem Körper, sein Sprachmuster..."
"Ich weiß." Sie seufzte. "Und es wird noch eine Ewigkeit dauern, bis wir Zugriff auf die alten Earth Alliance Datenbanken kriegen. Also keine Möglichkeit seine Identität zu überprüfen. Selbst wenn all das stimmt, was er erzählt, wenn wir es hier wirklich mit Chance Harper zu tun haben; geboren am 29.Februar 1964.........", das beinahe dreihundert Jahre zurückliegende Datum hinterließ einen eigentümlichen Nachgeschmack auf Susans Lippen, "gibt es denn keine vernünftige Erklärung, wie er in das Schiff gekommen sein kann? Ich meine, wer waren diese Aliens? Wieso haben die ihn hierher gebracht und was ist mit ihnen passiert.....?"
"Keine Ahnung. Fest steht, daß weder das Schiff, noch das Stasisfeld in dem er sich befand, auf Bio-Organik basierten. Zumindest auf rein technologischen Ebene läßt sich also ausschließen, daß die Vorlonen ihre Finger im Spiel hatten."
"Und dieser Harper kann sich wirklich an rein gar nichts von dem erinnern, was mit ihm geschehen ist?"
Stephen schüttelte den Kopf. "Er sagt, das letzte woran er sich erinnern kann, ist irgendein kleiner Bergsee in Nordkalifornien. Er war dort, um für eine Zeitung namens "Examiner" Photos von einem abgestürzten Sportflugzeug zu schießen. Das letzte Stück zur Unglücksstelle mußte er zu Fuß durch den Wald. Was dann mit ihm geschah, hört sich ziemlich konfus an. Angeblich irgendein kaltes, weißes Licht. Es zieht ihn an, umgibt ihn, greift nach ihm......., er verliert das Bewußtsein. Seine nächsten Sinneseindrücke stammen bereits aus dem Med-Lab. Ich, wie ich mich über ihn beuge, meine Stimme...."
"Und Du glaubst ihm?"
"Lyta tut es."
"Du hast ihn scannen lassen, Stephen?" Ein kurzes Aufflackern von Mißbilligung.
"Ich dachte, es würde uns vielleicht weiterhelfen. Zumindest können wir erst einmal davon ausgehen, daß er uns nicht bewußt irgendwelche Märchen auftischt."
"Großartig. Aber was machen wir mit ihm....?"
"Mnmmnh....." Stephen überlegte einen Augenblick,
"An seinem physischen Zustand gibt es kaum etwas auszusetzen. Ich kann ihn nicht auf ewig im Med-Lab festhalten. Und ihn ohne fremde Hilfe durch die Station streifen zu lassen, wäre verantwortungslos. Er hat sich fast zu Tode erschrocken als er seinen ersten Narn zu Gesicht bekam."
"Außerdem brauchen wir eine Möglichkeit, wie wir ihn im Auge behalten können." wandte Susan ein. "So etwas wie einen Aufpasser, ein Kindermädchen......." Eine plötzliche Idee schoß ihr durch den Kopf, so gut, daß in ihren blaugrauen Augen ein schadenfrohes Leuchten aufflammte.
"Es waren doch die Ranger, die ihn gefunden haben, oder? Also warum machen wir nicht auch die Ranger für Mr Chance Harper verantwortlich?"
Der Ausdruck in Stephen Franklins Gesicht verriet ihr, daß er den Kern ihres Gedankens bereits erfaßt hatte.
"Laß mich raten, könnte es sein, daß du an einen ganz bestimmten Ranger denkst?"
"Warum nicht? Wir können Marcus vertrauen, er kennt sich auf Babylon 5 aus und....."
Sie zögerte.
"Und was?"
"Und die Angelegenheit wird ihn hoffentlich für ein paar Tage beschäftigen und mir vom Hals halten. Es gibt Augenblicke, da macht er mich einfach wahnsinnig."
"Komm schon, so übel ist er doch eigentlich gar nicht."
Von dem Kommunikator auf Stephens Handrücken ertönte ein leises Piepsignal.
"Du entschuldigst mich? Scheint, daß ich auf der Krankenstation gebraucht werde."
Ohne auch nur eine weitere Sekunde zu verlieren eilte der Arzt aus ihrem Büro. Es dauerte ein Weilchen, bis Susan sich dazu aufraffen konnte das Unvermeidliche in Angriff zu nehmen. Sie seufzte als sie sich aus ihrem Sessel erhob um sich auf die Suche nach Marcus zu machen.
Sie fand den dunkel gekleideten, hageren Mann in einer versteckten Ecke des kleinen Zen-Gärtchens, seiner Körperhaltung nach scheinbar in irgendein obskures Meditationsritual minbarischen Ursprungs versunken. Die Schnelligkeit mit der er aufschreckte, als er ihre Gegenwart bemerkte, erinnerte Susan wage an eine aufgescheuchte Krähe.
"Ein netter Ort, nicht?" Nüchterne ruhige Klarheit lag in seinen blauen Augen, dennoch hatte er das Herz eines hoffnungslosen Träumers. Der Klang seiner Stimme verriet Susan sofort, daß er in Plauderlaune war. "So ungewöhnlich ruhig, wenn man bedenkt, was für ein Chaos auf dem Rest der Station herrscht."
Susan nickte. "Schon von Anfang an gab es kaum jemanden, der sich an diesen Platz hier verirrt hat."
"Kann ich gut nachvollziehen. Ich selbst glaube kaum, daß ich jetzt hier stünde, wenn der Entil Zha ihn nicht einmal erwähnt hätte."
Die fast ehrfürchtige Weise auf die er den Namen Entil Zha auszusprechen pflegte, verärgerte Susan. Sie versuchte Jeffrey David Sinclair, den ersten Commander der Station so in Erinnerung zu behalten, wie sie ihn in ihrem ersten Jahr auf Babylon 5 erlebt hatte. Als Menschen aus Fleisch und Blut...... mit all seinen Stärken und Fehlern, nicht den kaum noch greifbaren Heiligen.
"Susan? Ist irgendetwas?"
Es war Marcus`Stimme, die sie aus ihren Gedanken wieder zurück ins "Hier-und-Jetzt" brachte. Susan nahm einen tiefen Atemzug. "Wir müssen miteinander reden. Es gibt da eine Aufgabe für Sie...."
Mit kurzen, knappen Worten erzählte Susan Marcus alles, was es über den Fremden zu berichten gab.
"Und ich soll ihm also die Station zeigen und ihn die nächsten Tage über im Auge behalten?"
"Yepp."
Marcus war sich nicht ganz sicher ob er den Ausdruck auf Susans Gesicht als sarkastisches Grinsen interpretieren sollte. Anstatt lautstark zu protestieren, wie er es wohl bei jedem anderen der Offiziere getan hätte, nickte er bloß.
"Wann soll ich zu ihm?"
"Mnmnh...., eigentlich sobald Sie Zeit für ihn haben. Stephen glaubt, je eher, desto besser."
"Ich verstehe."***
Ein wachsendes Gefühl von Neugierde begleitete Marcus auf seinem Weg zur Krankenstation. Der Ranger war keiner jener Menschen, die der Überzeugung anhingen, daß es für ausnahmlos alle Geschehnisse des Universums, egal ob gut oder schlecht, einen bestimmten Grund geben mußte. Besser gesagt, er hoffte es. Vielleicht, weil der Glaube an Zufälligkeit und Willkür ein wenig von jenem Gefühl der Schuld von ihm nahm, das seit dem Verlust seiner Familie auf ihm lastete.
-What if life were fair, and all the terrible things that happen to us, happen because we deserve them?-
Wie weit jedoch konnte Zufall gehen? Weit genug, um diesen rätselhaften Fremden ausgerechnet an einen Ort wie Babylon 5 zu verschlagen? Eine eigenartige Vorstellung, vollkommen jenseits allen Regeln der Wahrscheinlichkeit.
Also doch irgendeine Form von höherer Vorsehung, zumindest in diesem Fall?
Marcus versuchte diese Gedanken beiseite zu schieben, als er nach einem kurzen Gespräch mit Stephen Franklin jenen Bereich des Mad-Labs betrat, in dem man den Fremden die letzten Tage über festgehalten hatte. Besser, er trat dem Mann so unvoreingenommen wie möglich gegenüber.***
"Hallo, mein Name ist Marcus."
Der Ranger ging einige Schritte auf Harper zu und streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen. Chance zögerte einen Augenblick ob er die Geste erwidern sollte.
"Sie sind derjenige, der sich um mich kümmern soll?"
"So könnte man es ausdrücken...."
"Chance Harper. Dr Franklin hat mir gesagt, daß sie kommen würden. Bedeutet das, ich kann jetzt endlich hier raus?"
Marcus nickte.
"Sicher, wenn sie das wollen."
Aufmerksam musterte Marcus das Gesicht des Mannes, der zumindest auf den ersten Blick unscheinbarer schien, als er ihn sich vorgestellt hatte. Sein kurzgeschnittenes aschblondes Haar rahmte ein weiches, fast kindliches Gesicht, seine Augen wirkten seltsam ausdruckslos, gelangweilt ?!? -wenn dieser Gefühlszustand in Harpers Situation überhaupt möglich war- und trotzdem hatte ihr verwaschenes Blau zugleich etwas unruhiges, suchendes an sich.
"Also dann....., nichts wie weg hier!"
Harper schien mehr als froh die Krankenstation verlassen zu können.
***
Babylon 5 war ein gigantischer Koloß aus Tonnen von Stahl und technischem Know How, ihr biblischer Name, -Ausdruck des Größenwahns ihrer Erbauer?- durchaus passend.
Während seiner Einführungstour durch jene Gänge und Hallen, die sein Begleiter, Bewacher? Schützer? als Lebensadern der Raumstation bezeichnet hatte, brachte Chance abgesehen von einem gelegentlichen Laut des Staunens kaum einen Ton über die Lippen, so überwältigt war er. Und im Nachhinein begriff er die Lächerlichkeit des Versuches von Dr Franklin, ihn anhand ein paar Dokumentations-Videos und etwas PR-Material auf diesen Anblick vorbereiten zu wollen.
Es war, als befände er sich inmitten eines grotesken Straßenkarnevals, dessen Veranstalter sich etwas zu ausgiebig aus dem privaten Kostümfundus von George Lucas bedient hatten. Selbst Marcus, in seiner seltsam mittelalterlich anmutenden Kleidung, inklusive Kampfstab und britischem Akzent, schien mehr wie der Held eines fantastischen Abenteuerfilms, als wie ein realer Mensch. Dennoch war Chance froh, ihn an seiner Seite zu haben."Und nun kommen wir zu dem Teil der Station, in dem die meisten Geschäfte und Läden untergebracht sind....."
Marcus und Chance waren an einem großen Torbogen angelangt, durch den man in einen weiten, hallenartigen Korridor schaute. Zu beiden Seiten befand sich eine Vielzahl von Verkaufsständen, mehrere von ihnen schienen jedoch geschlossen zu sein. Chance warf Marcus einen fragenden Blick zu.
"Die Blockade. Seit Captain Sheridan die Station für unabhängig erklärt hat, kommt es immer häufiger zu Versorgungsengpässen."
Chance schluckte. Der Verlauf seines Lebens hatte ihn ein feines Gefühl für brenzlige Situationen entwickeln lassen. Selten hatte er es so intensiv empfunden wie an Bord von Babylon 5. Und das, sogar noch bevor er es geschafft hatte, Franklin durch beharrliches Drängen endlich so weit zu bringen, mit der vollen Wahrheit über die Krisenlage der Station herauszurücken.
Die letzten Stunden über hatte Chances Verstand es irgendwie fertiggebracht dieses mühsam zusammengklaubte Wissen in die dunkelsten Tiefen seines Unterbewußtseins zu verbannen. Marcus` Bemerkung holte es wieder zurück an die Oberfläche.-Eine mehr oder weniger isolierte Raumstation, verstrickt in den Kampf uralter Superrassen.......
Bloß nicht dran denken, Junge. Einfach weitergehen......-
Bestrebt seine Mimik möglichst wenig von seinen Gefühlen verraten zu lassen, trottete Chance weiter den Gang entlang, mitten durch das exotische Gewirr von Menschen und Aliens in schummrigen, grauen Kunstlicht.
Schon allein die Art, wie die meisten von ihnen sich fortbewegten, hastig und still, gehüllt in eiliges Schweigen, hätte ausgereicht um jedem zufälligen Betrachter innerhalb von Sekundenbruchteilen die Angespanntheit der Lage zu verdeutlichen.
Das Leben unter dem Damoklesschwert des Shadow-Krieges machte es ihnen unmöglich, völlig unbefangen zur Tagesordnung überzugehen. Und die Anwesenheit von jemandem wie ihm, mit seinem einzigartigen Talent-Fluch? -
war sicherlich das letzte, was sie im Moment gebrauchen konnten.
"Jemand wie ich sollte nicht an diesem Ort sein."
Ein resigniertes, kaum verständliches Murmeln, mehr an sich selbst als an seinen Begleiter gerichtet. Erst durch Marcus` Nachhaken bemerkte Chance, daß seine Gedanken sich einen Weg über seine Lippen gebahnt haben mußten..
"Was haben Sie gesagt?"
"Jemand wie ich sollte einfach nicht hier sein", wiederholte Chance. Diesmal mit Nachdruck, laut und deutlich.
"Was genau meinen Sie damit?"
"Womit?"
"Jemand wie ich....."
Seine eigenen Worte aus dem Mund dieses Mannes zu hören, in diesem absurden Akzent mit dem Marcus sprach, hatte etwas ziemlich eigenartiges an sich.
"Ist eine lange Geschichte...." Chance hielt einen Moment lang inne, ganz als ob er es vorzog nicht darüber zu sprechen. Marcus nahm an, er würde sich wieder ganz in sein Schweigen zurückziehen. Stattdessen jedoch begann er, ihm mit ruhiger, beinahe abwesender Stimme von einem Vorfall aus einer Kindheit zu erzählen. Die Geschichte eines kleinen Jungen, dem es gelungen war, einen Flugzeugabsturz zu überstehen......
"Alle einhundertundsechs anderen Passagiere der Maschine starben in jener Nacht. Der Crash und die Flammen haben sie getötet. Alle,....außer mir. Niemand kann sagen, weshalb ausgerechnet ich überlebt habe. Aber seitdem geschehen mir die verrücktesten Dinge. Unfälle.....; Katastrophen..., Lotteriegewinne..., von irgendwelchen obskuren Aliens gekidnappt und hierher verschlagen zu werden....."
Ein dünnes Lächeln huschte über Chances Gesicht, bloß für die Dauer eines Atemzuges. "Ich scheine all diese verückten Zufälle magisch anzuziehen. Täglich explodiert um mich herum irgendetwas", fügte er in ernsterem Ton hinzu. "Glauben Sie mir, es ist nicht gerade besonders sicher in meiner Gegenwart."
"Haben Sie schon mal überlegt, ob ihnen ein Großteil dieser Dinge vielleicht bloß deshalb zustößt, weil Sie in der ständigen Erwartungshaltung herumlaufen, daß etwas passiert......?"
"Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen", unterbrach Chance. "Eine Freundin von mir, ......eine Psychologin...., hat mal eine ähnliche Theorie aufgestellt. Sie riet mir, einfach zu versuchen, mich aus allem rauszuhalten und ganz normal in den Tag hineinzuleben. Einfach so, ohne diese Angst......, ohne dieses ständige Gefühl, daß auch die kleinste Auffälligkeit irgendein Zeichen sein könnte, Vorbote von etwas viel, viel größerem. Gott, ich würde alles dafür geben, wenn ich auch nur einen einzigen Tag lang einmal so leben könnte, wie jeder andere. Aber ich kann es nicht."
Mühsam hinunterschluckte Bitternis und Wut schwang in Chances Stimme. Erst der fragende Ausdruck auf Marcus` Gesicht machte ihm klar, daß der Ranger wohl kaum ein einziges seiner Worte begriffen hatte. Wie konnte er auch?
"Sie glauben mir nicht, oder?"
Marcus Reaktion bestand in einem angedeuteten Kopfschütteln, zögernd und irritiert, ungefähr so als hätte Chance behauptet, er wäre der wiedergeborene Christus.
"Äähm...."
"Schon gut. Es glaubt mir sowieso niemals jemand auf Anhieb, was los ist. Schließlich ist das Ganze auch so verrückt, daß man es wahrscheinlich mit eigenen Augen erleben muß. Wissen Sie was, ich zeig`s ihnen einfach...." Er überlegte einen kurzen Augenblick.
"Gibt es hier irgend etwas wie ein Spielkasino?"***
"Und alles, was er gemacht hat, war sich ein Paket Spielkarten auszuleihen?!" Offen zur Schau gestellter Unglaube lag auf Susan Ivanovas Gesicht .
"Ich meine, wenn ich dieses unglaubliche Talent hätte, jedes einzelne Spiel zu gewinnen, das ich anfange....."
"Er war sichtlich darum bemüht so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf seine Fähigkeiten zu lenken. Was denken Sie was da losgewesen wäre, wenn irgendjemand außer mir seine kleine Demonstration mitgekriegt hätte....."
Die Frage war rhetorischer Natur, also machte Susan sich nicht die Mühe, sie zu beantworten.
"Jetzt, wo sie die Gelegenheit hatten, ihn ein bißchen besser kennenzulernen und zu beobachten, glauben Sie, daß er irgendeine Form von Gefahr darstellt, Marcus?"
Der Ranger vollführte eine Geste aus dem Grenzbereich zwischen Achselzucken und Nicken.
"Keine Ahnung. Er selbst ist allerdings ziemlich davon überzeugt. Ich habe eigentlich zuerst gedacht, daß er sich bloß einredet irgendwie verflucht zu sein. Als Reaktion auf den phychischen Stress, den es für ihn bedeuten muß, plötzlich hier auf Babylon 5 aufzuwachen, wäre das Phänomen nicht gerade untypisch. Es ist nur seltsam, daß alles, was ich in seiner Gegenwart beobachten konnte, seine Version ausdrücklich bestätigt. Und ich meine nicht bloß die Geschichte mit dem Kartenspiel."
"Was noch?"
Neugierig geworden hob Susan ihr Kinn. '
"Tausend verschiedene Kleinigkeiten. Lauter kleine, alltägliche Zufälle, an sich kaum der Rede wert. Aber wenn man sie alle zusammen nimmt....." Der Ausdruck in Marcus` Augen nahm etwas sehr beunruhigtes an.
"Was mir Angst macht, ist wie wenig Interesse diese Sachen bei ihm hervorrufen. Folgendes Beispiel: Wenn Sie aus Zufall jemanden davor bewahren würden, von einem herabfallenden Dekorationselement erschlagen zu werden, würde Sie der Schreck über das, was da beinahe passiert wäre, ganz bestimmt noch eine Weile beschäftigen. Oder?"
Susan nickte, nicht ganz sicher, worauf Marcus mit dieser Geschichte hinauswollte.
"Unser Freund Chance Harper ist einfach weitergelaufen, Susan. So als ob irgendwelchen Leuten zufällig das Leben zu retten, für ihn das normalste auf der ganzen Welt wäre."
***
Wenn es etwas gab, daß Chance Harper sich in seiner Lage mehr als alles andere auf der Welt wünschte, so war es, Babylon 5 möglichst schnell den Rücken zuzukehren. Bloß weg. Irgendwo hin, wo er festen Boden unter den Füßen hatte und sich über ihm anstelle eines beengenden metallenen Deckengewölbes der unendlich weite blaue Himmel seiner Kindheitserinnerungen erstreckte. Mit Wind, Sonne, Schäfchenwolken und allem was sonst noch dazugehörte.
Die Luft an Bord der Raumstation war in etwa vergleichbar mit der im inneren eines großen vollkommen durchklimatisierten Kaufhauses. Trocken, irgendwie synthetisch. Nicht gerade besonders angenehm für die Schleimhäute.
"Drei oder vier Wochen, dann gewöhnt man sich allmählich daran", hatte Marcus ihm am Tag ihres ersten gemeinsamen Streifzuges durch Babylon 5 erzählt. Doch Chance befand sich nun schon über anderthalb Monate auf der Station und noch immer spürte er keine Veränderung. Mittlerweile war er so besessen von dem Gedanken, irgendwie von Babylon 5 wegzukommen, daß er schon mehr als einmal zur Ticketverkaufstelle für die großen interplanetarischen Passagierschiffe gepilgert war. Daß er jedesmal unverichteter Dinge wieder zurück kehrte, lag nicht etwa daran, daß er nicht wußte, wie er an das nötige Geld für die teuren Schiffspassagen kommen sollte -ein kleiner Abstecher ins Casino oder die Teilnahme an einem Lotteriespiel hätten wahrscheinlich gereicht um dieses Finanzproblem ad acta zu legen - nein, es lag schlicht und ergreifend daran, daß er nicht wußte, welchen Ort er sich aus der Unmenge möglicher Ziele hätte aussuchen sollen.
Die fremdartigen, teilweise kaum aussprechbaren Bestimmungsorte auf den elektronischen Anzeigetafeln des Hangarsektors waren für ihn bedeutungslos. Nicht mehr als aberwitzige Kombinationen aus Buchstaben und Ziffern. Und die einzigen beiden Namen, mit denen er aufgrund ihres vertrauten Klanges ein fast schon absurdes Gefühl von Heimat in Verbindung brachte, Erde und Mars, lagen aufgrund ihrer politischen Situation in unerreichbarer Ferne.
Also zwang Chance sich, einzusehen, daß es trotz der Klaustrophobie erregenden Umweltbedingungen immer noch besser war, auf Babylon 5 gestrandet zu sein, als sich völlig orientierungslos auf eine sinnlose Odyssee durch die Tiefen des Alls zu begeben, tat weh, aber es war das einzig rationale. Also blieb Chance und harrte der Dinge, die da kommen mochten.
Marcus war sogar so freundlich gewesen, ihm Unterkunft und einen provisorischen Job zu besorgen. Ein Angebot, daß Chance dankend angenommen hatte. Jeden Nachmittag hinter der Theke des kleinen Geschenkartikel- und Souvenirshops der Station zu stehen und von dort aus die vorbeiziehenden Leute und Aliens zu beobachten, reichte zwar nicht unbedingt zum Leben, aber es war eine angenehme Ablenkung.
Nach Geschäftschluß, wenn er den Laden mit schweren, stabilen Jalousien verriegelt hatte, ging er manchmal in eine Bar und bestellte sich ein oder zwei Drinks. Mehr oder weniger desinteressiert verfolgte er dann das allabendliche Showprogramm, während die Zeit, bis er müde genug wurde um Schlaf finden zu können, sich immer mehr in die Länge zog. Er blieb ein Fremder unter Fremden. Abgesehen von Marcus, der gelegentlich hereinschneite um sich an einem der vielen Tische zu irgendwelchen höchst zwielichtigen Gestalten zu setzen, gab es hier niemanden, der seinem Gesicht auch nur einen Hauch von Bedeutung zugemessen hätte.
Als eines Abends jemand einige Schritte hinter ihm den Namen Alex rief, war es nur normal für ihn, zuerst nicht darauf zu reagieren. Niemand an Bord von Babylon 5 konnte wissen, daß er den Namen Chance Harper bloß seinen Adoptiveltern verdankte, in Wirklichkeit jedoch einmal Alex Sanders gewesen war.
"Alex Sanders ?" Die weiche, dennoch unruhige Stimme hatte einen beinahe fordernden, sehr bestimmten Klang angenommen, so daß Chance sich fast schon dazu gezwungen fühlte, sich herumzudrehen. Fassungslos blickte er in das eulenartige Gesicht eines fast auschließlich in grau gekleideten Mannes mit unglaublich großen und lebhaften grüngrauen Augen.
"Woher wissen Sie wer ich bin?" fragte Chance.
"Ich weiß es einfach." Ein sanftes Lächeln erschien auf den Lippen des Mannes und trotz der ersten silbernen Strähnen in seinen dunklen, leicht gelockten Haaren, reichte dieses Lächeln um ihn mit einem Schlag fünfzehn bis zwanzig Jahre jünger erscheinen zu lassen. In etwa wie einen sehr reifen und intelligenten Achtzehnjährigen. Diese plötzliche Alterslosigkeit erschreckte Chance.
"Wer zum Teufel sind Sie? Was wollen Sie von mir?"
"Das, mein Freund, sind zwei ganz ausgezeichnete Fragen. Leider allerdings auch nicht gerade zwei, die sich besonders leicht beantworten lassen. Etwas dagegen, wenn ich mich zu ihnen setze?" Chance war viel zu irritiert um der Bitte zu widersprechen. Gebannt beobachtete er, wie sein Gegenüber einen freien Stuhl zu sich heranzog und ihn in die richtige Position rückte. "Hah, so kommen wir der Sache schon näher." Mit einem zufriedenen Seufzer ließ sich der Fremde auf seinen Platz fallen. Erst jetzt, aus der Nähe bemerkte Chance, wie müde und abgehetzt der Mann tatsächlich aussah.
"Sie haben keine Ahnung, wie lange und an was für verrückten Orten ich nach Ihnen gesucht habe, Alex."
"Sie haben nach mir gesucht?"
Wieder dieses eigenartige Lächeln. "Ganz ruhig. Eins nach dem anderen. Vielleicht sollte ich mich ihnen endlich erst einmal vorstellen. Mein Name ist Louis. Schon mal was von den Techno-Mages gehört?"
Chance war gerade im Begriff, dem Mann ein zögerndes "Techno... was???" entgegenzustammeln als ihm die seltsame Geschichte einfiel, welche ihm jemand vor einiger Zeit erzählt hatte.
"Ich glaube schon....." Er warf Louis ein vorsichtiges Nicken zu. "Angeblich ist das eine Art geheimer Bruderschaft. Sie benutzen Wissenschaft und technische Spielereien um dadurch den Effekt von Zauberei zu erzeugen. Vor ein paar Monaten sollen sie in Scharen auf der Station eingefallen sein, um von hier aus für immer aus diesem Teil der Galaxie zu verschwinden."
"Ja, ungefähr. So in etwa stimmen die Gerüchte", sagte Louis in trockenem Tonfall.
"Sie...." Chance wagte fast nicht, den Gedanken auszusprechen. "Sie sind doch nicht etwa einer von diesen Mages?"
"Oh, nein, nein, nein, mein Freund." Ein kurzes hysterisches Auflachen. "Ich kenne sie nur schon seit sehr, sehr langer Zeit. Und als sie fühlten, daß es an der Zeit für sie war zu gehen, haben sie mich zurückgelassen, um einen Teil ihrer restlichen Angelegenheiten zu regeln."
"Also als eine Art Nachlaßverwalter. Wieso glaubten die Mages, daß sie fort mußten?"
"Nun ja, Alex........ Sie müssen verstehen, daß die Mages etwas völlig einzigartiges sind. Sie studierten all jene kleinen Geheimnisse, die das Universum in seiner Gesamtheit zusammenhalten. Die Macht mathematischer Gleichungen, die letzten Geheimnisse von Laser und Kristall. Ihr unglaubliches Wissen liegt jenseits aller Grenzen, die Sie sich auch nur vorstellen können. Sie halten die Antworten, auf einige der wichtigsten Fragen des ganzen Universums. Fragen die schon existierten, seit zum allerersten mal denkendes Leben entstand." Louis` Augen waren voller Begeisterung und sehnsüchtigem Schimmer. "Vierzehn Worte, die ausreichen, um ihnen jemand auf ewig in Liebe verfallen lassen zu sein und sieben, wie man ihn ohne Schmerz von dannen ziehen läßt. Wie man von einem sterbenden Freund Abschied nimmt, wie man reich wird, wie arm. Wie man die verlorenen Träume wiederentdecken kann, die einem im Laufe des Lebens abhanden gekommen sind. Das ist der Grund, weshalb sie gingen. Weil sie nicht riskieren konnten, daß dieses Wissen in die falschen Hände gerät oder daß es für immer verloren geht. Es stehen unruhige Zeiten vor der Tür."
Chance konnte nicht glauben, was er da hörte
"Das klingt nach einer wirklich netten Gutenachtgeschichte, Louis. Aber was hat das ganze mit mir zu tun? Sie sagten doch, daß Sie nach mir gesucht haben. Was verdammt nochmal wollen sie von mir?"
"Sie brauchen Sie, Alex." Louis Stimme, eben noch bebend vor Erregung, war nun leise und eindringlich geworden.
"Wieso ausgerechnet mich?"
"Wegen ihrer besonderen Begabung. Es gibt nur wenige Menschen, die mit ihrem Talent geboren werden."
"Mein Talent?" Chance fürchtete sich bereits vor dem, worauf Louis hinaus wollte.
"Ich glaube kaum, daß ich ihnen besonders viel darüber erzählen muß. Haben sie sich etwa noch nie über die vielen Zufälle in ihrem Leben gewundert, Alex?"
"Sicher. Wenn ich ehrlich bin, eigentlich mein ganzes Leben lang und ständig frage ich mich ob es vielleicht irgendeinen noch so verückten Sinn gibt, der dahinter steckt....."
"Mmnnhm. Nicht unbedingt einen Sinn, aber dafür eine ganz brauchbare Erklärung. Wie mache ich ihnen das jetzt bloß am besten verständlich. Also....." Louis nahm eine kurze Denkpause in Form eines gedehnten Atemzuges.
"Das, mein Freund, was Sie oder ich vielleicht allgemein als Zufälle empfinden mögen, sind wenn man es mal ganz grob vereinfacht betrachtet, so etwas wie nicht näher definierbare Variablen einer großen kosmischen Gleichung. Sozusagen so etwas wie Freiraum, Pufferzonen, falls ein paar von den fixen Bestandteilen einmal miteinander kollidieren sollten. Orte, an denen sich dann die überschüssige Energie frei entfalten kann, die normalerweise bei solchen Kollisionen entsteht. Es gelten keine festen Regeln für diese Bereiche. Oder wenn doch, so entziehen sie sich völlig unserer Vorstellungskraft. Ein bestimmtes Ereignis tritt ein, oder auch nicht. Weshalb weiß wahrscheinlich noch nicht einmal das Universum selbst..."
"Was zum Teufel hat das alles mit mir zu tun?"
Noch im gleichen Moment als diese Worte über seine Lippen kamen, überraschte es Chance mit welcher Heftigkeit er sein Gegenüber unterbrochen hatte.
Ein entschuldigendes Lächeln erschien auf Louis Gesicht. "Tut mir leid, ich muß wohl ein klein wenig abgeschweift sein. Aber keine Angst, ich komme noch zu all den Dingen die sie sicher im Moment beschäftigen" Während er Chance mit seinen großen Eulenaugen eindringlich musterte und dabei langsam den Kopf von rechts nach links wiegte, fühlte Chance sich, als versuchte der Mann, direkt in seine Seele zu blicken.
"Mal sehen......wo waren wir stehen geblieben. Jedenfalls geschieht in diesen Zufallszonen etwas ganz besonderes. Gerade, weil sie so völlig unberechenbar sind, sind sie die Orte, an denen unter Milliarden von Möglichkeiten, diejenigen Ereignisse eintreten aus welchen die Zukunft bestehen wird. Sie sind Knotenpunkte und Scheidewege im Gefüge von Raum und Zeit. Und noch merkwürdiger ist, daß es zu allen Zeiten Wesen gegeben hat, welche aus irgenwelchen Gründen dazu prädestiniert sind, unwillkürlich von diesen Phänomenen angezogen zu werden, so wie Motten vom Licht, nur viel, viel subtiler. Es ist ihnen einfach vorherbestimmt. Im Prinzip ist eine bestimmte, seltene genetische Kombination dafür verantwortlich. Und komischerweise ist sie ausgerechnet bei Menschen relativ häufig anzutreffen. In mehr oder weniger starker Ausprägung, versteht sich."
"Und nun wollen sie mir sicher erzählen, daß ausgerechnet ich einer von jenen Leuten bin, die diese genetische Eigenschaft in sich tragen."
"Ja, ganz genau. Und in ziemlich ausgeprägter Form sogar."
"Gut. Aber was zum Geier wollen Sie von mir? Sie sagen, daß sie mich gesucht haben. Was an mir ist verdammt nochmal so wichtig, daß ich von irgendwelchen Außerirdischen fast dreihundert Jahre in die Zukunft verschleppt werde? Ich wäre um ein Haar dabei draufgegangen, wenn mich nicht zufällig diese Gruppe von Rangern gefunden hätte. Wieso sitze ich hier und muß mir ihr Gesülze über Techno Mages und Zufallstheorien anhören?"
"Die unglücklichen Umstände ihrer Entführung tuen mir sehr, sehr leid." sagte Louis leise und mit gesenkten Augen. Ein einziger Blick reichte, um zu sehen, daß er es aufrichtig meinte. "Glauben Sie mir, das war bestimmt nicht so geplant. Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um sie zu finden."
"Was ist schiefgegangen?"
"Wahrscheinlich nur eine Kleinigkeit. Mikroskopisch klein sogar, auch wenn ich das nach dem letzten Kontakt mit dem Schiff, das sie holen sollte, eigentlich bloß vermuten kann. Die Erbauer dieses Schiffes, die Quorn, sind eine der wenigen älteren Rassen, die jemals wirklich die Geheimnisse von Raum und Zeit begriffen haben und denen es auch gelang, dieses Wissen tatsächlich in die Praxis umzusetzen. Nur leider scheinen sie nicht gerade besonders immun gegen eine bestimmte latente Variante von Herpesviren. Es ist anzunehmen, daß sich die Gruppe Quorn, die beauftragt wurde, Sie in unsere Zeit zu hohlen, Alex, sich bei ihrer Entführung mit diesem Virus infiziert hat. Und das hat sie dann umgebracht, fürchte ich."
"In Ordnung. Aber wofür dieser riesige Aufwand, wenn diese Zufallsgene nicht bloß bei mir, sondern auch bei vielen anderen Leuten vorhanden sind? Was ist so besonderes an mir, daß extra für mich ein Expeditionstrupp in die Vergangenheit geschickt wird?"
"Sie müssen den Ausdruck entschuldigen Alex, aber für unsere Zwecke sind Sie so etwas wie das Best Possible Match. Die Ideallösung. Das liegt hauptsächlich daran, daß Sie über die seltene Eigenschaft verfügen, sich einfach von Zufall zu Zufall treiben zu lassen. Sie kämpfen nicht dagegen an oder versuchen, ihr Talent zu kontrollieren und es sich zu nutze zu machen."
Kopfschüttelnd, mit offenem Mund und vollkommen fassunglos, starrte Chance auf den Abgesandten der Techno Mages.
"Tut mir leid, Louis. aber ich glaube einen kurzen Augenblick Zeit, um das alles zu verdauen."
"Kein Problem, mein Freund."
"Also gut..." begann Chance, nachdem er sich einen Drink später wieder etwas gesammelt hatte. "Sie haben mich endlich gefunden, ich verstehe nur immer noch nicht ganz, was Sie eigentlich von mir wollen....."
"Ganz einfach. Obwohl die Techno Mages diesen Teil der Galaxis vielleicht für immer verlassen haben, so benötigen sie dennoch das Wissen darüber, was in ihm vor sich geht. Wer wäre besser geeignet als Sie, dieses Wissen zu sammeln, Alex? Das Universum ist ein äußerst komplexer Organismus. Einen seiner Bestandteile zu vernachlässigen, hätte schwerwiegende Folgen, das können Sie mir glauben. Das Angebot Auge und Ohr der Mages zu sein, ist etwas, das man nicht ablehnen sollte. Denken Sie gut darüber nach!"
Langsam, fast wie ein alter Mann erhob sich Louis von seinem Stuhl, klopfte Chance aufmunternd auf die Schulter und ging.****
Als Marcus Cole einige Abende später nach einem harten, aber interessanten Tag zu seinem Quartier zurückehrte fand er dort einen unauffälligen braunen Umschlag, in dem sich ein auf seinen Namen ausgestelltes Lotterielos und ein Zettel befanden.
Lieber Marcus,
anbei eine kleine Entschädigung für all den Aufwand, den sie meinentwegen hatten. Geben sie gut auf das Los acht. So wie ich mich kenne wird es bestimmt einmal etwas wert sein.
Tut mir leid, daß ich es nicht mehr geschafft hab, mich noch persönlich von Ihnen zu verabschieden. Alles Gute für die Zukunft. Mit etwas Glück werden Sie mich vielleicht nie wieder sehen. Suchen Sie nicht nach mir......
Chance