Urteil: Unsterblich
von Susanne Pötsch


"Bitte, Nick. Vergib mir."

"Wofür?"

"Dafür." Amanda klang verzweifelt. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie langsam die Pistole hob und damit auf ihn zielte.

Seine Pistole.

Dann schoß sie auf ihn und er ging zu Boden. Amanda beugte sich über ihn, hielt ihn fest. Unendlich traurig sah sie ihn an. Es fiel ihr sichtlich schwer. Doch sie tat es trotzdem. Er erinnerte sich an alles. An den Moment, in dem er die Kugel in seinem Körper spürte. An den letzten Zug seines Atems.

Irgendwie hieß er den Tod sogar willkommen. Er hatte es nie zugegeben. Auch nicht vor sich selbst. Aber ein Teil von ihm war immer eifersüchtig gewesen. Eifersüchtig auf die Unsterblichen. Eifersüchtig auf Amanda. Sie würde immer gleich jung, schön und begehrenswert bleiben. Wie sie es schon seit zwölfhundert Jahren war. Doch er? Er würde alt werden. Und wenn er dann eines Tages starb... dann war sie noch immer genau so schön wie am ersten Tag.

Doch er starb nicht. Oh ja, natürlich war er tot. Doch nur für Sekunden. Dann spürte er auf einmal den Drang zu atmen. Er tat es. Das Erste Mal war es die reine Hölle. Es fühlte sich an, als ob er ein Messer in der Brust hätte. Langsam blickte er nach oben. Direkt in Amandas Gesicht.

Sie lächelte leicht. "Du wirst nicht sterben Nick. Du wirst leben. Du bist unsterblich."

Er starrte sie entsetzt an. Er und unsterblich? Das musste ein schlechter Scherz sein. Ja, er hatte hin und wieder mit dem Gedanken gespielt. Was wäre wenn...? Aber wer tat das nicht? Und jetzt mußte er erfahren, daß er einer von ihnen war.

Sie. Die Unsterblichen. Die anderen. Amanda, Liam. Aber er doch nicht! Er war anders. Er war ein Mensch. Ein Mensch der sterben konnte.

Das hatte er zumindest immer gedacht.

 

***




Erschrocken fuhr Nick hoch. 'Es war nur ein Traum.' versuchte er sich einzureden. Doch dann sah er das Schwert neben seinem Bett und wußte: Dies war die bittere Realität.

Drei Wochen war es nun her. Drei Wochen, in denen er erst einmal untergetaucht war, um sich an seine neue Situation zu gewöhnen. Nicht bloß Amanda sondern auch Liam war er während dieser Zeit gezielt aus dem Weg gegangen, egal wie sehr er sich danach sehnte zu ihnen zu gehen, über alles zu reden. Pater Liam Riley war ein Unsterblicher. Und genauso wie Amanda seit ihrem ersten gemeinsamen Tag von Nicks Unsterblichkeit gewusst haben mußte, so mußte auch Liam es von dem Moment an gewusst haben, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren.

Warum hatte sie ihm diese Entscheidung abgenommen? Er fühlte sich verraten und verkauft. Er war doch kein kleines Kind mehr, das nichts selbst entscheiden konnte!

Nick würde Zeit brauchen, um diese Tatsache zu verkraften.

Vor drei Wochen. Da war das Urteil über ihn gesprochen worden. Unsterblich. Nick fühlte sich wie ein Lebenslänglicher. Mit dem Unterschied, daß das "Lebenslang" ewig dauern würde. Oh ja, um endgültig zu sterben mußte er nicht mehr tun als sich von jemand anderen den Kopf abschlagen zu lassen. Um zu überleben mußte er nur anderen den Kopf abschlagen. Töten. Das war nichts neues für ihn. Er hatte bereits Menschen erschossen. Er hatte auch schon einen Unsterblichen enthauptet. Doch da war er noch nicht unsterblich. Damals hätte er im Traum nicht daran gedacht, daß auch er eines Tages unsterblich werden würde.

Langsam stand Nick auf und zog sich an. An Schlaf war für diese Nacht nicht mehr zu denken. Er beschloß einen kleinen Spaziergang zu machen.

Der Mond strahlte hell vom Himmel. So hell, daß er nicht einmal die Sterne erkennen konnte.

Plötzlich sah er auf. Er hatte nicht darauf geachtet wohin ihn seine Schritte führten. Er vertraute einfach darauf, daß sein Instinkt ihn schon irgendwohin führen würde. Und er hatte es getan. Er stand vor Amandas Wohnung. Es brannte noch Licht.

Sollte er oder sollte er nicht?

Schließlich entschloß er sich dazu hineinzugehen. Er mußte es wissen. Amanda hatte es ihm bereits einmal erklärt, doch er wollte es noch einmal hören.

Warum hatte sie es getan?

Warum hatte sie ihn nicht einfach an dem verdammten Gift sterben lassen?

Diese Fragen quälten ihn Tag für Tag. Nacht für Nacht.

Nun stand er vor ihrer Tür. Leise klopfte er. Amanda öffnete sofort. Sie hatte seine Anwesenheit bereits gespürt. Genauso wie er ihre.

'Früher war es anders. Da wußte sie, daß ich komme aber ich wußte nicht, daß sie kommt.' dachte er.

"Nick! schön dich wiederzusehen" lautete ihre Begrüßung. Sie sah aus wie immer. Sie trug ein langes, weißes Nachthemd doch sie schien noch nicht geschlafen zu haben.

"Ich muß es wissen, warum?"

Sie seufzte leise. Sie hatte immer gewußt, daß es noch nicht vorbei war. Daß er noch einmal eine Erklärung haben wollte. "Komm rein. Ich habe schon auf dich gewartet"

Langsam trat Nick ein. Prüfend sah er sich um. Instinkte eines Polizisten. Er bemerkte die Veränderung. Irgend etwas war anders. Dann sah die gepackten Koffer. "Du willst verreisen?"

Amanda nickte. "Ja. Ich mach eine Weile Urlaub. Auf Hawaii. Dann geh ich wieder zurück in die Staaten."

"Warum?" war alles was Nick herausbrachte.

"Ich halte es hier nicht länger aus. Ich brauch' eine Weile für mich. Ich muß mir über meine Gefühle klarwerden. Meine Gefühle für dich. Du bist jetzt ein Unsterblicher. Weißt du, früher war alles ganz einfach. Du warst der Sterbliche den ich zu beschützen versuchte. Doch jetzt? Jetzt sind wir beide sozusagen gleichberechtigt. Und ich weiß ehrlich gesagt nicht wie ich damit umgehen soll." ihre Stimme wurde leiser und verstummte schließlich ganz. Traurig sah sie ihn an. "Bitte geh jetzt. Ich will allein sein. Vielleicht in ein paar Monaten... dann weiß ich vielleicht mehr."

Er verstand die Aufforderung. Ein letztes Mal sah er sie an. Prägte sich jede Einzelheit ein. Ihr Gesicht. Mit den sanften Augen die bereits soviel gesehen hatten. Dann drehte er sich um und ging. Er wußte: Jetzt war alles anders. Sie war unsterblich und er auch. Sein altes Leben war zueende. Für immer. Er brauchte keine Angst mehr haben. Keine Angst vorm Tod. Aber auch seine Beziehung zu Amanda hatte sich geändert. Es würde nie wieder so sein wie früher.

Nie wieder.

Denn nun war er unsterblich.


The End