Territories
von Mac & Sapphire

 

Sie rannte. Irgendwo hinter ihr waren die Fremden. Sie wußte nicht genau wo sie waren, aber sie konnten nicht weit weg sein. Sekundenlang blieb sie stehen und horchte angestrengt. All ihre Sinne waren angespannt. Etwas knackte. Sie waren dicht hinter ihr. Sie rannte weiter. Irgendwo vor ihr war die Straße. Die Bäume lichteten sich und sie erkannte die Straße. Mit einem Satz war sie aus dem Wald heraus und rannte auf sie zu.
Sie hatte keine Chance dem Wagen auszuweichen, der vollkommen unerwartet um die Kurve kam. Das Auto erfaßte sie und sie spürte einen heißen Schmerz. Dann wurde alles dunkel um sie herum.

 

* * *

 

Eine der Aufgaben der Phoenix Foundation ist es, die ökologischen Folgen einer Landerschließung abzuschätzen. Denn oft gefährden größere Bauprojekte eine seltene oder vom Aussterben bedrohte Tierart, oder führen zu Veränderungen des Grundwasser-spiegel, um nur mal einige Gefahren zu nennen. Zum Glück schien das Forsey-Projekt – eine Bürostadt am Rande von London in der Nähe von Toronto – zu einer der wenigen Ausnahmen zu gehören, wobei ich persönlich nichts von Bürostädten in bis zu diesem Zeitpunkt unberührter Landschaft halte.

 

MacGyver lenkte den Jeep die Straße nach London hinunter, mit den Gedanken noch bei dem letzten Gespräch mit einem der Sachverständigen des Forsey-Projekts. Plötzlich sah er wie etwas großes, weißes von der rechten Seite aus dem Wald auf die Straße sprang. Er trat reaktionsschnell auf die Bremse, aber er war nicht schnell genug. Er fühlte den dumpfen Schlag mehr als das er ihn hörte. Der Jeep kam mit einem Schlenker zu stehen und er sprang heraus.
Mitten auf der Straße lag ein Hund. Er war weiß, abgesehen von einem rostroten Blutfleck, der sich langsam an seinem linken Hinterlauf ausbreitete. Etwas geschockt über das Geschehene kniete MacGyver sich neben das Tier. Vorsichtig strich er über das ungewöhnlich weiche Fell. Er atmete auf als er das Herz des Hundes – der Hündin um präzise zu sein – kräftig und regelmäßig schlagen fühlte. Ein Zentnergewicht schien von seiner Brust zu fallen. Der Hund lebte noch, auch wenn er im Moment ohne Besinnung zu sein schien.
Nun betrachtete er sich den Hinterlauf näher. Das weiße Fell war zwar blutverklebt, aber zum Glück schien nichts gebrochen zu sein. Nun, er war kein Tierarzt – dafür aber jemand, den er sehr gut kannte. Entschlossen hob er den Hund auf und legte ihn vorsichtig auf eine Decke auf der Ladefläche des Jeeps. Das Tier regte sich immer noch nicht und vielleicht war das auch besser so. Dann stieg er ein und fuhr weiter in Richtung London.
Er hatte sich dort bei einer Freundin von ihm – einer gewissen Dr. Melanie McAllister – einquartiert – und just diese Frau war Tierärztin. Sie war zwar im Moment nicht zuhause, da sie einige Vorbereitungen für ihren Umzug in zwei Wochen machen wollte, würde aber heute am späten Nachmittag wieder zurück kommen.
Bei der Wohnung angekommen, trug er die Hündin die wenigen Stufen zum Eingang hoch. Es war nicht einfach mit dem Tier auf den Armen die Tür aufzuschließen, aber irgendwie schaffte er es. Mit dem Fuß öffnete er dann die Tür und ging hinein. Dann gab er ihr einen Tritt und sie fiel hinter ihm ins Schloß. Er legte den Hund auf den Boden vor dem Kamin, der einzige größere freie Platz in Mels Wohnung. Obwohl es bis zu ihrem Umzug noch einige Zeit hin war, stapelten sich schon überall Dutzende von Kisten.
MacGyver sah sich um. Wo war der Erste-Hilfe-Kasten? In diesem Chaos war kaum etwas zu finden. Das einzig Brauchbare, was er nach einigem Suchen auftreiben konnte, war eine Flasche hochprozentigen weißen Rum. Er stutzte. Wie kam die denn hierher? So weit er Mel kannte, trank diese keinen Alkohol, und zum Kochen brauchte sie das Zeugs sicher auch nicht.
Er zuckte mit den Achseln, nahm die Flasche und ein sauberes Tuch und ging zu dem Hund zurück. Er tränkte das Tuch in Alkohol und begann damit die Wunde zu reinigen. Plötzlich zuckte der Lauf des weißen Hundes und er jaulte leise. MacGyver sah zu wie das Tier die Augen öffnete. Und dann ruckte der Kopf nach oben. Weiß glitzernde Fänge schnappten nach seiner Hand. MacGyver konnte gerade noch ausweichen. Das Tier war schnell! Ein dumpfes Knurren kam aus der Tiefe seiner Kehle und es klang nicht gerade freundlich. Die gefletschten Zähne trugen auch nicht gerade zu einem besseren Gesamt-eindruck bei.
"Woha, ganz ruhig!" beschwichtige MacGyver das Tier. "Keiner tut dir was. Es ist alles in Ordnung."
Dies schien wenig Eindruck auf das Tier zu machen. Das Knurren wurde lauter und die Hündin versuchte aufzustehen. Sie jaulte auf, als sie versuchte das verletzte Bein zu belasteten, dann brach sie wieder zusammen. Winselnd leckte sie die Wunde. MacGyver betrachtete sich das Tier. Irgendwie sah dieser Hund nicht wie ein Hund aus. Okay, er hatte vier Beine, einen Schwanz, zwei Ohren usw., aber er kannte diese Rasse nicht. Er war kein Hundeexperte, aber dieser Hund sah eher aus wie ein – Wolf, ja ein Wolf. Aber hier gab es keine Wölfe, vor allem keine weißen.
Er kam vorsichtig näher. Die Hündin ließ von der Wunde ab und knurrte wieder. Vorsichtig streckte er eine Hand aus und redete sanft auf das verletzte Tier ein. Ihr Kopf streckte sich etwas nach vorne, aber die Ohren waren immer noch angelegt und das Knurren war zu einem tiefen, kaum hörbaren Rumpeln geworden. Ihre Schnauze berührte seine Fingerspitzen und sie nahm seinen Geruch auf. Plötzlich leckte sie mit einer rauhen Zunge über seine Hand. MacGyver lächelte und er streichelte ihr sanft über den Kopf. Ihre intelligenten Augen sahen ihn neugierig an. Vorsichtig humpelte sie näher heran und begann ihn gründlich abzuschnüffeln. Anscheinend gefiel ihr sein Geruch, denn ihre Ohren stellten sich auf und sie sah ihn fast erwartungsvoll an.
"So, und jetzt schauen wir einmal, ob wir etwas Eßbares für dich finden."
MacGyver richtete sich auf und fing wieder an in Mels Sachen zu wühlen. Das Beste, was er auftreiben konnte, war eine Dose Hühnerfrikassee. Er öffnete die Dose und zweckentfremdete dann zwei von Mels Suppenteller als Freßnapf und Trinkschale. Die Hündin roch nur einmal ganz kurz am Frikassee und wandte sich dann ab, mit einem Ausdruck der nur als Abscheu zu bezeichnen war. Dann fing sie an von dem Wasser zu trinken. Sie legte sich wieder hin und fuhr fort ihre Wunde zu lecken.
MacGyver sah ihr dabei zu, doch dann erinnerte er sich daran, daß er ja noch etwas tun mußte.
"Ich habe noch ein bißchen was zu arbeiten", teilte er dem Tier mit. "In ein paar Stunden müßte eigentlich Mel auftauchen und sie wird dich noch einmal gründlich untersuchen. Mel ist Tierärztin. Sie kennt sich damit sehr gut aus. Du bleibst am besten so lange hier ruhig liegen und versuchst nicht dein Bein zu belasten."
Vielleicht würde Mel diese Rasse erkennen.
Die Hündin schaute ihn an, als ob sie jedes Wort verstanden hätte. Sie legte ihren Kopf auf die Pfoten und MacGyver hatte den Eindruck, als ob sie ihn aufmerksam beobachtete. Er setzte sich an den Couchtisch und fing an seine bisher gesammelten Unterlagen auszupacken. Innerhalb kürzester Zeit war er in seine Arbeit vertieft.

 

*

 

Cloud mochte den Geruch des Mannes und auch seine Stimme gefiel ihr. Sie hatte die anfängliche Verwirrung nach ihrem Aufwachen einigermaßen überwunden. Als sie in einer ihr völlig fremden Umgebung aufgewacht war, war sie fast panisch gewesen, aber jetzt konnte sie deutlich fühlen, daß im Moment keine Gefahr bestand.
Neugierig schaute sie sich um. Viel gab es nicht zu sehen, denn fast alles war in Kisten verpackt. Der Geruch der Wohnung war eindeutig interessanter. Neben dem Geruch des Mannes, konnte sie deutlich einen schwächeren, weiblichen Geruch ausmachen.
Zu gerne hätte sie gewußt, was eigentlich geschehen war. Erst war sie von diesen Männern mit den Gewehren durch den Wald gejagt worden. Als sie über die Straße gerannt war, mußte sie dann von einem Wagen angefahren worden sein. Wahrscheinlich hatte der Mann sie dann gefunden und in der Annahme, daß sie eine ganz normal Hündin sei, mitgenommen. Sie hätte jetzt gerne ihre menschliche Form angenommen, und sei es nur um durch den Wechsel die Wahrscheinlichkeit einer Infektion zu reduzieren. Aber dann würde der Mann sie ohne Zweifel sehen, und es war allen Weren in der Familie von klein an eingetrichtert worden, daß man ohne zwingenden Grund nicht vor einem Fremden seine Form wechselte.
Was sollte sie tun? Sicher würde die Familie langsam anfangen sich Sorgen um sie zu machen. Aber sie konnte hier nicht weg. Im Moment konnte sie ihren Hinterlauf nicht belasten, somit war eine überraschende Flucht ausgeschlossen. Nun, was man nicht ändern konnte, mußte man hinnehmen. Nachdem sie einige Zeit den Mann beobachtet hatte, wurde sie müde und sie schlief ein.

 

* * *

 

Bei Einbruch der Dunkelheit legte MacGyver seine Sachen zur Seite und stand sich streckend auf. Aus Mels Kühlschrank holte er sich eine Flasche Orangensaft und nahm einen großen Schluck. Stirnrunzelnd schaute er auf seine Uhr. Mel wollte doch schon vor einiger Zeit zurück sein. Plötzlich klingelte das Telefon.
"Hallo?"
"Bist Du's MacGyver? Hier ist Mel."
"Wo bleibst du Mel? Ich habe dich schon vor Stunden zurück erwartet. Ich habe hier einen Patienten für Dich."
"Einen Patienten? Oh, das tut mir aber leid, Mac. Ich rufe nämlich an, um dir zu sagen, daß es bei mir noch ein paar Tage dauern kann. Ich habe eine alte Freundin getroffen und ich habe mich für ein paar Tage bei ihr einquartiert. Wenn es mit dem Patienten kritisch ist, dann wende dich doch an Dr. Duncan in der Winchester Road. Die Telefonnummer steht in dem kleinen braunen Buch neben dem Telefon. Und vergiß bitte nicht die Blumen zu gießen."
"Mel, du kannst doch nicht ...." Ein Klicken in der Leitung verriet MacGyver, daß er tauben Ohren predigte. Verärgert warf er den Hörer auf die Gabel.
Das erschreckte die Hündin, die bisher die ganze Zeit ihn nur aufmerksam beobachtet hatte. MacGyver ging zu ihr und setzte sich neben sie. Die Hündin schaute ihn mit ihren großen Augen aufmerksam an. Sie stellte die Ohren auf.
"Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Es ist nur so, daß ich mir Sorgen um Mel mache. Sie hat die Neigung in Schwierigkeiten zu geraten, wenn keiner da ist, der auf sie aufpaßt. Das hier ist nämlich ihre Wohnung. Ich wohne hier nur solange, wie ich die ökologischen Untersuchungen für das Forsey-Projekt durchführe. Aber keine Angst, morgen werde ich mich an die Polizei wenden, und die werden schon herausfinden zu wem du gehörst. Und bevor du es weißt, bist du wieder bei Deinen Besitzern."
MacGyver stand auf. Die Hündin schaute erwartungsvoll an.
"Und nun werde ich einmal schauen, ob ich etwas Eßbares für uns beide auftreiben kann. du scheinst ja kein Hühnerfrikassee zu mögen."
Der Teller, in dem er vorhin das Frikassee eingefüllt hatte, stand immer noch unberührt da. Im Gefrierfach des Kühlschrankes fand er dann etwas, von dem er erwartete, daß es eher die Zustimmung der Hündin erregen würde. Und da Mel einen Mikrowellenherd hatte war das Auftauen des Hackfleisches kein Problem. Es selbst aß einige Scheiben Vollkornbrot mit Quark und Gurkenscheiben.
Während er der Hündin zuschaute, wie sie ihr Abendessen verdrückte, überlegte er sein weiteres Vorgehen. Die Wunde am Hinterlauf der Hündin hatte sich nicht entzündet und sie sah deutlich weniger schlimm aus, als er zuerst befürchtet hatte. Bevor er morgen früh zum Projekt fuhr, konnte er bei der Polizeiwache vorbeifahren und anfragen, ob einer der Farmer hier in der Gegend einen seiner Hunde vermissen würde. Auch wenn die weiße Hündin kein Halsband mit Steuermarke trug, war er sich ziemlich sicher, daß sie kein wild lebender Hund war. Das Fell war hervorragend gepflegt und sie schien auch recht gut genährt zu sein. Und wenn sich kein Besitzer finden würde, würde ihm auch noch etwas einfallen.
"Wie ist eigentlich dein Name?" MacGyver hatte sich wieder neben der Hündin auf den Boden gesetzt und untersuchte noch einmal den Hinterlauf. "Laß mich einmal raten. Snowwhite? Der Name würde passen."
Die Hündin schaute ihn an, als ob er sie zutiefst beleidigt hätte.
"Also gut, nicht Snowwhite! White, Blizzard, Moonlight, Flake?"
Die Hündin stand auf und schüttelte sich. MacGyver gab auf. Er streichelte der Hündin noch einmal über das weiche Fell und stand dann ebenfalls auf. Wieder fing er an in Mels Sachen zu wühlen, um dann mit einem längeren Stück Seil aufzutauchen. Er nahm er es und versuchte eine lose Schlinge um den Hals des weißen Hundes zu binden.
"Ich denke es wird Zeit, daß wir jetzt mal 'Gassi gehen'."
Die Hündin wich zurück. Sie begann tief in ihrer Kehle zu knurren.
"Komm schon. Ich möchte Mel nicht erklären müssen, wie es zu Flecken auf ihrem Teppich gekommen ist. Und ohne Leine kann ich dich nicht raus lassen."
Die Hündin sah ihn an, als ob sie ernsthaft überlegen würde, welches denn nun das geringere Übel sei. Eine Leine um ihren Hals oder eine Katastrophe im Wohnzimmer. Sie entschied sich für die Leine.

 

* * *

 

Immer wenn Henry Fitzroy bei Sonnenuntergang in einer für ihn fremden Umgebung aufwachte, mußte er einen Moment gegen eine in ihm aufsteigende Panik kämpfen. Doch nach wenigen Sekunden kam seine Erinnerung wieder und er beruhigte sich.
Er war auf der Farm von Freunden, den Heerkens. Er besuchte sie zum ersten Mal seit er ihnen von einem Jahr gegen diesen Verrückten geholfen hatte. In ein paar Tagen würde auch Vicki kommen, die im Moment bei ihrer Mutter zu Besuch war. Sie hatte ihn wohlweislich nicht gefragt, ob er mit zu ihrer Mutter kommen wollte, nachdem er das 'Vergnügen' schon einmal vor fünf Monaten gehabt hatte. Er war nicht wild darauf diesen Besuch in nächster Zukunft zu wiederholen.
Wie er es beim Aufwachen gewohnt war, fing er erst einmal an zu fühlen, wie der Zustand in seiner Umgebung war. Jahrhunderte von Erfahrungen hatten ihn vorsichtig werden lassen.
Henry Fitzroy war das, was man landläufig als einen Vampir bezeichnete. Und das war er schon ziemlich lange – genau genommen etwa 450 Jahre. Henry war der uneheliche Sohn von Henry VIII und der Ex-Herzog von Richmond. Entgegen aller Schauergeschichten flog er nachts nicht in Form einer Fledermaus herum und saugte junge Mädchen aus. Erstens konnte er sich nicht in eine Fledermaus verwandeln und zweitens stürzte er sich nicht auf irgendwelche hilflosen Opfer und ließ sie blutleer zurück. Henry brauchte sehr wenig Blut zum Überleben und das auch nicht jede Nacht. Außerdem war er ein zivilisierter Mensch, beziehungsweise Vampir!
Nur wenige wußten, was Henry wirklich war. Darunter waren Vicki Nelson, eine Ex-Polizistin, die jetzt als Privatdetektiv arbeitete, und Tony, ein Straßenjunge, der Vicki als Informant diente. Und natürlich die Heerkens.
Henry konnte Besorgnis spüren, die wie eine schwere, schwarze Decke über den Anwesenden der Farm lag. Etwas stimmte nicht. Es waren zu wenige Personen da. Nur Nadine und Daniel waren im Haus zu spüren. Er streckte seine 'Fühler' weiter aus, aber das Ergebnis änderte sich nicht. Wo waren die anderen?
Blitzschnell war er an der Tür und beseitigte den Riegel, der von der Innenseite vorlag. Danach ging er zum Haupthaus, wo Nadine und Daniel sich in der großen Wohnküche aufhielten. Deutlich spürte er, daß die beiden sich Sorgen machten. Der kleine Junge verwandelte sich als er seine Anwesenheit bemerkte, und Shadow – so war Daniels Name, wenn er sich in seine Werform verwandelt hatte – stürmte auf ihn zu. Henry beugte sich herunter und begann den schwarzen Wer hinter den Ohren zu kraulen. Er warf Nadine einen fragenden Blick zu.
"Rose ist verschwunden." Nur dank Henrys hochempfindlichem Gehör konnte er die unterschwellige Panik in Nadines Stimme hören. Er machte ihr deswegen keinen Vorwurf. Letzten Sommer hatten ein religiöser Fanatiker und sein mißratener Neffe versucht die Mitglieder der Familie Heerkens zu töten, nachdem sie herausgefunden hatten, daß sie Were – den Begriff Werwölfe mochte Henry nicht sonderlich – waren. Nadines Zwillings-schwester und ein Onkel von ihr wurden erschossen bevor er und Vicki den Kerlen das Handwerk legen konnten. Victoria 'Vicki' Nelson war eine Privatdetektivin aus Toronto, die erstens über Henrys vampirielle Natur und zweitens auch über die Heerkens Bescheid wußte. Sie und Henry kannten sich nun schon seit knapp eineinhalb Jahren und hatten zusammen schon so manch seltsamen Fall gelöst, der ins Mystische oder Übernatürliche ging.
"Seit wann ist sie weg?" fragte er.
"Wir vermissen sie seit dem frühen Nachmittag. Ihre Spur ging erst einige Zeit von der Farm weg und dann in einem weiten Bogen wieder in unsere Richtung. An der Straße verliert sich dann jede Spur. Wir haben auch Blut gefunden. Colin und Stuart sind in die Stadt und hoffen dort etwas zu erfahren. Der Rest sucht die nähere Umgebung ab."
Henry lächelte Nadine aufmunternd an und verschwand dann durch die angelehnte Küchentür. Innerhalb kurzer Zeit hatte er Nadines Angaben überprüft. Er fand auch auf der Straße den Blutfleck, den Nadine erwähnt hatte, und der eindeutig von Rose stammte. Es war nicht all sehr viel Blut, so konnte die Wunde nicht all zu schwer sein. Vielleicht war Rose angefahren worden. Im nahe gelegenen Wald spürte er noch Schatten der Panik, die auf die Ereignisse des Nachmittags hinwiesen.
Zurück bei der Farm versuchte er noch einmal Nadine zu beruhigen und dann fuhr er mit seinem BMW los. Auch er rechnete sich in London die größten Chancen aus, doch er hatte Mittel und Wege, die den Weren nicht zugänglich waren. Wenn seine Überlegungen stimmten und wenn Rose in der Stadt war, dann würde er sie finden. Koste es was es wollte!

 

* * *

 

MacGyver wurde durch das Klingeln der Türglocke aus seinem Schlummer geweckt. Für einen Moment war er durch das ungewohnte Geräusch und die ihm fremde Umgebung verwirrt. Er mußte beim Fernsehen eingeschlafen sein. Im Moment gab die Mattscheibe nur ein monotones Rauschen von sich. Mit einem Griff zur Fernbedienung schaltete er den Kasten aus. Sein Arm lag immer noch um den Hals der weißen Hündin, die sich auf der zweiten Hälfte der Couch breit gemacht hatte, als er angefangen hatte den alten Western anzuschauen. Er versuchte sich vorsichtig unter der Hündin herauszuwinden ohne sie aufzuwecken, doch ohne Erfolg. Große schwarze Augen starrten ihn erwartungsvoll an.
Ein kurzer Check im Flurspiegel zeigte ihm, daß er halbwegs präsentabel war und ein Blick auf die Uhr sagte ihm, daß es kurz nach zwei Uhr morgens war. Wer in drei Teufels Namen klingelte um diese Zeit bei Mel? Lange Jahre der Erfahrung hatten ihm gezeigt, daß Vorsicht nie fehl am Platz war. Neben dem Garderobenständer lehnte – aus was für einen Grund auch immer – ein Baseballschläger an der Wand. Er griff ihn sich und ging dann zur Tür.

 

*

 

Henry war sich sicher an der richtigen Adresse zu sein. Im Wagen, der vor der Tür stand, war der Geruch nach Roses Blut noch viel intensiver als vorhin auf der Straße. Auch an der vorderen Stoßstange war ihr Blut, außerdem auf der hinteren Ladefläche. Sie war mit dem Wagen gefahren.
Er konzentrierte sich ganz auf seine Sinne. In dem Haus waren zwei Personen. Deutlich hörte er den Herzschlag. Einer war der von Rose und sie war in ihrer Werform. Sie und die andere Person – ein Mann – schliefen beide. Er umrundete das Haus und konnte am Hintereingang Roses Geruch aufnehmen. Sie war vor wenigen Stunden hier mit dem Mann draußen gewesen.
Nun konnte sich Henry mehr oder weniger die ganze Geschichte zusammenreimen. Es hatte einen Unfall gegeben. Der Mann im Wagen hatte das verletzte Tier eingesammelt und mit nach Hause genommen, wahrscheinlich um es zu pflegen. Es bestand also keine unmittelbare Gefahr. Henry überlegte, ob er die ganze Sache auf sich beruhen lassen und die Familie am nächsten Morgen kommen sollte, um Rose abzuholen, doch er entschied sich dagegen. Vielleicht hatte der Mann etwas bemerkt. Es war besser, wenn er dies überprüfen würde und dann dafür Sorge trug, daß der andere im Zweifelsfalle die ganze Sache wieder vergaß.
Er klingelte an der Tür. Lange Zeit tat sich nichts. Er fing schon an zu überlegen, ob er auf eine andere Art und Weise sich Einlaß verschaffen sollte, als er den Mann zur Tür kommen spürte.
Die Tür öffnete sich einen Spalt und ein verwuschelter blonder Kopf schaute hervor.
"Mr. McAllister?" Er hatte den Namen auf dem Schild der Klingel gelesen.
Der Mann schüttelte den Kopf. "Der Name ist MacGyver. Was kann ich für Sie tun?"
MacGyver wirkte nicht gerade begeistert mitten in der Nacht aus seinem Schlaf gerissen worden zu sein. Henry konnte spüren, daß der Mann hinter der Tür eine Waffe verborgen hielt. Er würde vorsichtig vorgehen müssen. Aber er machte so etwas ja nicht zum ersten Mal.
Zuerst fing man mit einem Ablenkungsmanöver an.

 

*

 

Es muß schon etwas sehr wichtiges sein, einen anderen um diese nachtschlafende Zeit aus einem wohlverdienten Schlaf zu reißen. Ich hatte einiges erwartet: Pete, der mir irgend etwas wichtiges mitzuteilen hatte, das nicht bis morgen warten konnte; Jack, der eine seiner wahnwitzigen Ideen hatte, für die er meine Hilfe brauchte, oder sonst jemand. Was ich nicht erwartet hatte war wer, oder besser gesagt was vor meiner Tür stand!

Der Mann auf der anderen Seite der Tür war ziemlich klein. MacGyver schätzte ihn auf vielleicht einen Meter fünfundsechzig, doch auf eine seltsame Weise wirkte der Mann größer. Er hatte rotblonde Haare und hellbraune, fast magnetische Augen. Mit einer angenehm tiefen Stimme fing der Mann an sein Hiersein zu erklären.
"Mein Name ist Henry Fitzroy. Ich wohne momentan bei Freunden von mir auf einer Farm nicht weit von hier."
Eine Armschlenker deutete die ungefähre Richtung an.
"Seit heute Mittag wird einer von den Hunden der Farm vermißt. Ein ziemlich großer weißer Hund. Man hat beobachtet, wie er von einem Jeep heute mittag angefahren worden war. Sie haben doch einen Jeep?"
MacGyvers Instinkte ließen alle Alarm-glocken läuten. So weit klang zwar die Geschichte vernünftig. Aber dies war doch kein Grund jemanden mitten in der Nacht aus dem Schlaf zu werfen. Irgendwie fühlte er, daß viel mehr dran war, als es sich auf den ersten Blick erkennen ließ. Aber was?
MacGyver hatte viel Phantasie. Etliche Ideen schossen durch seinen Kopf. War der Hund vielleicht aus einem geheimen und dann auch sicher verbotenen Forschungslabor ausgebüchst und sie wollten ihr Opfer wiederhaben? Er hatte zwar keine Spuren in diese Richtung ausmachen können, aber das mußte nichts heißen. Oder hatte man den Hund entführt, um jemanden mit ihm zu erpressen? Oder ....
Er entschied sich erst einmal mitzuspielen und vielleicht noch etwas herauszufinden.
"Ja, ich habe einen Jeep."
"Waren Sie vielleicht heute Mittag in der Gegend unterwegs?"
Ohne recht zu verstehen wie oder wieso, spürte MacGyver plötzlich wie sein Blick von den hellbraunen Augen des anderen Mannes eingefangen wurden. Warum sollte er ihm nicht wahrheitsgemäß antworten?
"Ich bin heute gegen zwei dort gewesen." Selbst für ihn klang seine Stimme mit einem Male schleppend. Was geschah mit ihm?
Er fing an dagegen – was es auch immer war – anzukämpfen, doch er konnte spüren, daß es schon längst zu spät war. Er hatte die Schlacht, von der er gerade erst erfahren hatte, schon verloren. Oder fast verloren!
"Bitte Henry, laß das. Ich glaube er kann uns helfen."
Mit einem Ruck riß MacGyver sich bei dem Klang der weiblichen Stimme aus dem Bann. Blitzschnell drehte er sich um – und genauso schnell wieder zurück zu Fitzroy.
Am Eingang zum Wohnzimmer stand eine junge Frau mit weißblondem Haar. Sie war vielleicht achtzehn Jahre alt, und sie hatte keinen Fetzen Stoff am Leib!
Moment mal! Wie kommt einen junge Frau hier in die Wohnung? Wer ist diese Frau? Und warum steht sie splitterfasernackt da, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte?
Aus dem Blick von Fitzroy schloß er, daß dieser die Frau kannte. MacGyver sah sich bemüßigt, eine Erklärung abzugeben. Aber wofür?
"Äh, das ist nicht das was Sie vielleicht denken! Ich kenne diese Frau nicht und ich habe keine Ahnung, wie sie hierher gekommen ist!"
Mac, du fängst an Schwachsinn zu reden. Hol' einmal tief Luft und fang an nachzudenken.
Fitzroy ignorierte MacGyver vollkommen.
"Rose, bist du in Ordnung?"
"Danke, Henry, ich bin okay. Das Bein tut ein wenig weh, aber das wird sich bald geben."
WAS WAR HIER LOS?!?! Vor ihm stand ein Mann, von dem er erstens nicht wußte, wer er genau war; zweitens, wie er hierher gefunden hatte und drittens, was er eigentlich hier wollte. Und dann war da außerdem diese nackte Frau, von der er auch nicht wußte, wer sie war, wie sie hierher gekommen war und was sie von ihm wollte. Und der Hund fehlte! Er hätte gedacht, daß dieser wenigstens bei der Anwesenheit fremder Personen knurren würde – oder sonst etwas. Plötzlich runzelte er die Stirn. Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf. Was hatte die Frau über ihr Bein erzählt? Bein wie Hinterlauf? Konnte es sein...? Nein! Absurd, völlig absurd!
Henry Fitzroy schob den immer noch verdutzten Mann zur Seite und ging auf Rose zu. Auch wenn MacGyver ihn hätte aufhalten wollen, er hätte es wahrscheinlich nicht geschafft. Der Mann war stärker als man auf den ersten Blick hätte vermuten können. Henry zog seinen Trenchcoat aus und hängte ihn Rose um die Schultern.
MacGyver war mit seinem Blick Fitzroy gefolgt, hatte es jedoch tunlichst vermieden, die nackte Frau anzusehen. Nachdem sie nun wieder einigermaßen bekleidet war, sah er sich gezwungen nun doch endlich etwas zu tun. Schließlich waren hier plötzlich zwei völlig Fremde in Mels Wohnung, die hier nichts zu suchen hatten!
"Entschuldigen Sie", begann MacGyver und Henry drehte sich zu ihm. "Könnten Sie mir bitte einmal sagen, was hier eigentlich los ist?!"
Die junge Frau und der Fremde wechselten einen unschlüssigen Blick, dann meinte MacGyvers nächtlicher Besucher: "Tut mir leid, Mr. MacGyver, aber das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich danke Ihnen nur, daß Sie sich um Rose gekümmert haben."
Um Rose gekümmert? MacGyver hatte die Frau ja noch nie zuvor gesehen! Er stellte sich zwischen die Tür und den Mann.
"Entweder Sie sagen mir jetzt, was das ganze soll, oder ich hole die Polizei!"
Henry seufzte leise. Rose entschloß sich einzugreifen. Sie legte Henry die Hand auf den Arm und schüttelte nur den Kopf.
"Rose...", sagte Henry leise.
"Ich übernehme hierfür die Verant-wortung, Henry. Dieser Mann kann uns helfen. Er arbeitet für das Forsey-Projekt."
Henry sah MacGyver wieder an. Dann gab er auf. Er folgte den beiden ins Wohnzimmer.
"Mein Name ist Rose Heerkens", begann Rose, als sie sich alle gesetzt hatten. "Ich lebe mit meiner Familie auf der Heerkens-Farm außerhalb von London."
"Die Heerkens-Farm." MacGyver runzelte nachdenklich die Stirn. "Ich habe das schon einmal gelesen! Natürlich!" Er ging zum Couchtisch und durchwühlte einen Stapel von Karten und Mappen. Mit einer Karte kam er wieder zurück. Er breitete sie auf dem Küchentisch aus. Die Karte zeigte die geplante Bürostadt und das Gelände auf dem sie errichtet werden sollte. Deutlich konnte er 'Heerkens' auf einem markierten Feld lesen. Ein großer Teil dieses Gebietes sollte vom Forsey-Projekt überbaut werden.
"Ich glaube, Sie haben das Problem erkannt", kommentierte Rose. "Mr. Heneghan, der stellvertretende Leiter des Forsey-Projekts, trat vor einigen Monaten an meinen Onkel Stuart heran und bot ihm ziemlich viel Geld für einen Teil der Farm. Onkel Stuart lehnte ab. Heneghan bot mehr Geld, mehr als das Land wert ist. Trotzdem lehnte mein Onkel wieder ab. Wir waren schon immer auf dieser Farm und das Land gehört uns!" Roses Stimme wurde heftiger. "Keiner kann uns dieses Land so einfach wegnehmen!" Henry legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm.
"Vor zwei Wochen ungefähr fingen die Drohungen an", fuhr Rose etwas ruhiger fort. "Es waren gemeine, widerwärtige Briefe. Sie bedrohten uns, die Farm, alles was wir haben. Als wir auf das nächste Angebot nicht eingingen, fingen sie an, auf uns zu schießen."
"Auf Sie?" frage MacGyver entsetzt.
"Nun, eigentlich mehr auf die 'Hunde' der Farm", erklärte Rose.
"Auf die Hunde?" wiederholte MacGyver ungläubig. "Was sollte das denn bezwecken?"
Rose sah Henry an, der nur mit den Achseln zuckte.
"Glauben Sie an Werwölfe, Mr. MacGyver?" fragte Henry ihn dann.
MacGyver war froh, daß er saß.
"Werwölfe? So wie aus diesen billigen Horrorstreifen im Late Night Programm? Menschen, die sich in reißende Bestien verwandeln? Diese Werwölfe?"
Henry sah Rose an. Diese mußte grinsen.'
"Nein, nicht 'reißende Bestien', wie Sie es ausdrücken. Wir reden von Weren, die in engen und organisierten Familienverbänden mit einem ziemlich stark ausgeprägten Territorialverhalten leben."
MacGyver fing an, an der geistigen Gesundheit seines Gegenübers zu zweifeln. Werwölfe! Was für ein Schwachsinn! Aber wo war der Hund?
"Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, daß heutzutage Werwölfe hier frei herumlaufen! Das ist kompletter Humbug!"
Fitzroy lächelte nur verständnisvoll. Er sah Rose an, die ihren Trenchcoat ablegte. MacGyver sah automatisch weg. Als er wieder hinsah, saß an der Stelle, an der die junge Frau – Rose – gestanden hatte ein ihm wohlbe-kannter, weißer Hund mit einer Wunde am Hinterlauf.
"Ähm", machte er.
Henry lächelte noch immer. "Nun, glauben Sie jetzt an Werwölfe?"

 

*

 

Eine halbe Stunde und mehrere Tassen Tee später glaubte MacGyver an Werwölfe. Er war sich zwar nicht sicher, daß er alles verstand, aber er glaubte daran.
"Ihr Name ist also Rose Heerkens und Sie sind ein Werwolf. Ihre gesamte Familie besteht aus Werwölfen." Er musterte Fitzroy. "Und Sie?"
Henry schüttelte den Kopf. "Nein, ich nicht."
"Okay, also kein Werwolf. Was sind Sie dann: ein Vampir?" fragte MacGyver sarkastisch.
Henry hob mit einem amüsierten Glitzern in den Augen eine Augenbraue, sagte aber nichts. MacGyver seufzte nur leise und lehnte sich in den Sessel zurück. Womit hatte er das verdient?
"Diese Leute schießen also auf Sie", sagte er dann.
Rose nickte. "Ja, sie kennen uns nicht als das, was wir wirklich sind. Wir müssen vorsichtig sein, wem wir von uns erzählen. Daher glauben die Männer, die Fellformen sind Hunde."
"Fellformen?" fragte MacGyver.
"So nennen sie es, wenn sie sich in einen Wolf verwandelt haben", warf Henry ein.
"Summer – meine Cousine Marie – wurde vor drei Tagen angeschossen, als sie zusammen mit Shadow – meinem Cousin Daniel – zum See hinunterlief", fuhr Rose fort.
"Ah, einen Moment", unterbrach MacGyver. "Damit ich das auf die Reihe bekomme: sie sagen Summer und Marie und Daniel und Shadow sind die gleichen Personen?"
"Wir haben zwei Namen", erklärte die junge Frau. "Mein Name ist Rose Heerkens, aber wenn ich mich verwandle, also in meiner Fellform bin, habe ich den Namen 'Cloud'. Damit vermeiden wir allgemein Verwirrungen bei Besuchen von Menschen, die uns nicht kennen."
MacGyver grinste etwas. Er konnte sich schon vorstellen, daß es verdächtig sein würde, wenn man nach dem Hund rief und dieser den Namen der Tochter trug, die gerade nicht da war.
"Zum Glück hatte Marie nur einen Streifschuß", erzählte Rose weiter. "Gestern wurde ich von zwei Männern verfolgt. Sie hatten mir den Weg zur Farm abgeschnitten und so rannte ich zur Straße hinauf. Den Rest kennen Sie."
"Das verstehe ich nicht", sagte MacGyver. "Warum ist Mr. Heneghan so hinter dem Land her? Ich kenne die Pläne des Projekts. Es gibt einige Ausweichmöglichkeiten."
Er deutete das besagte Gebiet auf der Karte vor ihnen an.
"Das wissen wir nicht", gab Rose zu.
"Was ist mit der Polizei?" fragte MacGyver.
"Stuart läßt es nicht zu", sagte nun Henry. "Es ist sein Territorium, sein Rudel – er ist das Alpha-Männchen?"
"Es ist ein Familienproblem", fügte Rose einfach hinzu.
"Aha", machte MacGyver. "Und was haben Sie mit der Sache zu tun?" wandte er sich an Henry Fitzroy.
"Ich bin nur ein Freund der Familie", erklärte er.
MacGyver stand auf und ging einige Schritte hin und her. Was er gehörte hatte war auf der einen Seite unglaublich, aber wahr; auf der anderen Seite weckte es etwas in ihm, das sein Freund Pete Thornton 'Helferkomplex' nannte.
"Ich werde Ihnen helfen", erklärte er dann.
Henry hob nun beide Augenbrauen und sah Rose an.
"Er kann uns helfen, Henry", wiederholte sie leise den Satz, den sie auch als erstes gesagte hatte, als Henry erschienen war.
"Stuart wird es nicht billigen", sagte er.
Rose senkte den Blick. "Aber er hat doch auch Vicki akzeptiert!" meinte sie dann.
"Vicki ist eine Frau", widersprach Henry. "Außerdem mußte er sie damals akzeptieren, da er ihre Hilfe brauchte. MacGyver ist ein Mann."
MacGyver fühlte sich von dieser Unterhaltung mehr als nur ausgeschlossen. Anscheinend ging es um etwas wichtiges, das ihn betraf. Aber er hatte keine Ahnung um was es dabei ging.
"Darf ich fragen, worum es hier geht?"
"Folgendes:", begann Henry, "Stuart ist der Rudelführer und somit die unangefochtene Autorität auf der Farm. Vergleichen Sie das mit einem Wolfsrudel. Were und Wölfe sind sich in dieser Beziehung sehr ähnlich. Das Rudel wird von einem Alpha-Männchen und einem Alpha-Weibchen geleitet. Jeder andere ordnet sich ihnen unter. Auch Außenstehende. Wenn sich der Rudelführer von einem dominanten – auch außenstehenden – Männchen herausgefordert fühlt, kommt es unweigerlich zu einem Kampf."
"Dominantes, außenstehendes Männchen?" wiederholte MacGyver.
"Er wird dabei keinen Unterschied zwischen einem Wer oder einem Menschen machen." Henry sah MacGyver an.
"Ich?"
"Mmmm – hmmm", machte Henry. "Sie. Für Stuart sind Sie eine Herausforderung. Sie sind ein dominantes Männchen – für ihn."
"Oh!" Was sollte dieser Zusatz? MacGyver beschloß, es lieber darauf beruhen zu lassen.
"Und was machen wir jetzt?"
"Ich bringe jetzt erst mal Rose nach Hause." Henry stand auf. "Und Sie sollten sich besser wieder ins Bett legen. Es ist ziemlich spät."
"Ach ja?" MacGyver hatte etwas dagegen, wenn ihm fremde Leute, die ihn noch dazu mitten in der Nacht aus dem Schlaf rissen, sagten, was er zu tun oder zulassen hätte.
"Ja! Was wollen Sie denn sonst tun?"
MacGyver war im Moment sprachlos. Irgendwo hatte der Typ ja recht. Er war wirklich müde, totmüde. Daß Henry in diesem Fall seine ehe schon vorhandene Müdigkeit mit seinen Fähigkeiten noch verstärkte, merkte er nicht. Bevor er noch etwas sagen konnte waren Henry und Rose schon an der Tür.
"Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft, Mr. MacGyver", sagte Rose, bevor sie von Henry aus der Tür geschoben wurde.
"Gern geschehen", murmelte MacGyver. "War mir ein Vergnügen."
Plötzlich war er allein. Er gähnte herzhaft und ließ sich auf die Couch sinken. Sekunden später war er eingeschlafen.

 

* * *

 

Am nächsten Morgen erschienen ihm die Ereignisse der vergangenen Nacht fast wie ein Traum, wenn da nicht die beiden Teller vor dem Kamin gewesen wären. Außerdem entdeckte er den blutverschmierten Lappen, mit dem er die Wunde des 'Hundes' gereinigt hatte. Während des Frühstücks überlegte er sein weiteres Vorgehen für den Tag. Er mußte auf jeden Fall heute zum Projekt rausfahren, da man ihn erwartete. Das war auch eine gute Gelegenheit, dem von Rose erwähnten Mr. Heneghan auf den Zahn zu fühlen. Und dann war da ja noch Henry Fitzroy. Über ihn würde er auch gerne mehr erfahren, und da gab es nur einen Weg. MacGyver griff zum Telefon und wählte die Nummer von Petes Büro.
"Ja?"
"Hallo, Pete!"
"MacGyver? Was verschafft mir die Ehre?"
"Pete ich brauche deine Hilfe. Ich benötige Informationen über einige Leute hier."
"Typisch! Immer wenn du Hilfe brauchst, rufst du bei mir an!" beklagte sich Pete.
MacGyver lächelte. "Pete...."
"Ja, schon okay! Also, um wen geht´s?"
"Fangen wir vorne an: Henry Fitzroy, männlich, weiß, etwa 1,65 m groß, hellbraune Augen, rotblondes Haar."
"Notiert", kam es von Pete.
"Dann die Familie Heerkens", MacGyver buchstabierte den Namen. "Sie besitzen eine Farm außerhalb von London. Soviel ich weiß, heißt das Familienoberhaupt Stuart. Und dann noch ein Mann namens Heneghan. Er arbeitet für Forsey."
"Gut, in Ordnung, Mac. Ich rufe dich an, sobald wir etwas haben. Eine Frage noch: wofür brauchst du das? Gibt es Probleme?"
"Kann ich jetzt noch nicht sagen, Pete. Ich bin hier über etwas ... etwas Merkwürdiges gestolpert. Wenn ich mehr weiß, melde ich mich bei dir wieder."
Damit legte auf und schnappte sich seine Jacke. Wenige Minuten später war er auf dem Weg zum Forsey-Projekt.

 

* * *

 

Ich weiß, ich bin neugierig. Das hat mir auch mein Großvater schon immer erzählt. Auch als Kind konnte ich meine Nase aus fremden Angelegenheiten nicht heraushalten – vor allem dann nicht, wenn man mir erst etwas Aufregendes zeigte und mir hinterher erzählte, ich solle mich aber heraushalten, es gehe mich nichts an. Das jedoch löste in meinem Gehirn dieses kleine Klick aus.
Diesmal war es wieder das kleine Klick gewesen, das mich veranlaßt hatte, meine Nase in die Angelegenheiten der Heerkens zu stecken. Oder wie würden Sie reagieren, wenn nachts jemand bei ihnen anklopft, eine Frau abholt, die vorher ein Hund war, und Ihnen dann etwas von Werwölfen erzählt?

 

MacGyver befand sich am nächsten Abend gerade auf dem Weg zur Heerkens-Farm, als das Funktelefon in seinem Jeep klingelte. Es war Pete.
"MacGyver", begann dieser, "ich möchte wissen, wo du immer diese Leute kennenlernst!"
"Warum?" fragte MacGyver.
"Deine Liste war eine wirklich außerordentliche Zusammenstellung!" fuhr Pete fort. "Da ist zum Beispiel dieser Henry Fitzroy."
"Und?"
"Also Henry Fitzroy lebt in Toronto, fährt einen BMW mit dem amtlichen Kennzeichen VAM 450. Er verdient sein Geld", Pete hielt kurz inne und machte eine Kunstpause. "Halt dich fest, Mac: mit Büchern."
"Häh?"
"Er schreibt Romane. Liebesromane, du weißt schon: 'Sie versank in seinen leuchtend blauen Augen, wie die Sonne, die abends im Meer versinkt'."
MacGyver hätte den Wagen fast in den Graben gelenkt. Henry Fitzroy ein Schriftsteller?! Er hätte an alles mögliche, nur nicht an so etwas gedacht. Und dann auch noch Schundromane! Er konnte es nicht glauben!
Pete hatte MacGyvers Schweigen zwar bemerkt, doch ging er nicht darauf ein. Er fuhr fort.
"Er benutzt für seine Bücher das Pseudonym Elizabeth Fitzroy. Und er ist recht erfolgreich. 'Die Nacht der braunen Augen', 'Sklavin seines Herzens', 'Herzen in Flammen'. Alles Romane von ihm. Und sie gehen gut. Er hat Auflagen die in die Hunderttausende gehen. Für die Unterschriftsessions läßt er sich immer von einer Bekannten vertreten und so glaubt die Welt, daß Elizabeth Fitzroy eine ältliche Dame mit adligen Vorfahren und einem weißen Dutt ist. Er hat bisher immer seine Strafzettel für zu schnelles Fahren oder Falschparken bezahlt, hat kein Strafregister irgendeiner Art, läßt sein Geld von der 'Canada Trust' verwalten, zahlt schön brav seine Steuern und er spendet bevorzugt an das 'Rote Kreuz'."
Fitzroy ein Romanschriftsteller! MacGyver hatte diese Neuigkeit immer noch nicht ganz verdaut.
"Noch etwas?" fragte er dann.
"Nicht über Fitzroy. Aber über die Heerkens-Farm haben wir noch einiges. Also, die Farm ist schon lange im Familienbesitz der Familie Heerkens. Die derzeitigen Besitzer heißen Nadine und Stuart Heerkens-Wells. Sie leben dort zusammen mit ihren Kindern und dem Bruder von Nadine und dessen Kindern. Sie betreiben eine Schafzucht."
"Und das Gebiet soll von dem Forsey-Projekt aufgekauft werden?"
"Richtig, Mac. Der nordöstliche Teil der Farm soll laut Plan dazu gehören. Man hat den Heerkens einige Angebote gemacht. Bisher wurden sie alle ausgeschlagen."
"Okay, und was ist mit Heneghan?" wechselte MacGyver zum nächsten Punkt auf seiner Liste über.
"Walter H. Heneghan, stellvertretender Leiter des Forsey-Projekts", begann Pete. "Er arbeitet seit etwa einem Jahr für Forsey und war auch am Projekt 'Rimmer' im letzten Jahr in Quebec beteiligt. Keine Vorstrafen, nichts Außergewöhnliches was ihn betrifft."
"Das verstehe ich nicht."
"Was?"
"Warum ist der Mann so interessiert daran das Stück Land von den Heerkens zu kaufen?" MacGyver hatte laut nachgedacht.
"Ich könnte mich mal etwas genauer umsehen", schlug Pete vor.
"Danke", sagte MacGyver. "Ich bin auf dem Weg zur Heerkens-Farm. Du kannst mich dann dort erreichen, falls es etwas wichtiges gibt."
"Verstanden, Mac."
MacGyver legte auf.

 

* * *

 

Die Farm der Heerkens lag weit außerhalb von London. Es war ziemlich einsam hier draußen. MacGyver passierte einige eingezäunte Wiesen und kam dann zu der Auffahrt zum Haus. Ein Briefkasten stand am Anfang der Auffahrt und daneben saß ein kleiner schwarzer Hund. Als er den Jeep ankommen sah, stand er auf und rannte auf das Haus zu. MacGyver stellte den Jeep auf dem Platz vor dem Haus ab und ging dann auf das Wohnhaus zu. Er war noch keine drei Schritte gegangen, als sich die Eingangstür öffnete. In der Tür stand eine Frau Mitte 40 mit schwarzen, von einigen grauen Strähnen durchzogenen Haaren. Der kleine schwarze Hund sauste an ihr vorbei und sprang bellend vor MacGyver auf und ab.
"Guten Abend, Ma'm", begann MacGyver.
"Wer sind Sie?" fragte die Frau kalt. Sie wirkte nicht gerade freundlich.
"Mein Name ist MacGyver. Ich arbeite für die Phoenix Foundation", stellte MacGyver sich vor. "Ich wollte mit Mr. Fitzroy sprechen."
"Henry ist zur Zeit nicht da", erwiderte die Frau.
"Könnte ich dann vielleicht mit Rose Heerkens reden?" MacGyver sah die Frau bittend an. Diese runzelte nur die Stirn.
"Shadow!" sagte sie dann befehlend. Der kleine Hund hörte auf zu bellen und drehte sich zu ihr um. Sie wandte sich wieder an MacGyver. "Was wollen Sie von Henry und Rose?"
MacGyver war etwas hilflos. Was sollte er denn sagen? Mr. Fitzroy hat mir erzählt, daß das hier eine Farm ist, die von Weren geführt wird und Sie sind vielleicht einer davon?
"Es ist etwas privates", meinte er dann.
"Dann können Sie es mir sagen. Mein Name ist Nadine Heerkens-Wells. Rose ist meine Nichte."
"Oh", machte MacGyver. "Wenn das so ist. Rose war der Ansicht, ich könnte Ihnen vielleicht helfen."
"Wobei?"
"Es geht um das Forsey-Projekt." MacGyver kam sich etwas blöd vor, das ganze so zwischen Tür und Angel zu erzählen, aber Nadine machte keine Anstalten ihn hereinzubitten. "Rose hat mir erzählt, daß Sie deswegen ziemliche Probleme bekommen haben." Er sah auf den Hund. "Vor allem mit Ihren 'Hunden'."
Nadine sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, als sie bemerkte, wie er das Wort 'Hunde' betonte.
"Kommen Sie herein, Mr. MacGyver", sagte sie dann endlich.
MacGyver betrat das Haus und stand gleich im Wohnzimmer. Durch eine offene Tür zur linken Seite erkannte er eine große Wohnküche. Im Wohnzimmer saß ein junger Mann mit rotbraunen Haaren, der anscheinend gerade ein Buch las. Als MacGyver eintrat, sah er auf. Shadow schlüpfte ebenfalls herein und rannte erst einmal auf den Mann zu. Dieser raufte sich kurz mit ihm, dann ließ der Hund wieder von ihm ab, um sich MacGyver zuzuwenden.
"Nun, Mr. MacGyver", sagte Nadine, ohne ihm den Mann vorzustellen, "was hat Ihnen Rose erzählt?"
"Sie erwähnte, daß Mr. Heneghan Ihnen ziemlich viel Geld für einen Teil Ihres Landes angeboten hat, Sie es aber ablehnten. Und dann hätte er mit den Drohungen angefangen."
"Und?"
"Äh..." MacGyver sah etwas verlegen aus. Er konnte dieser Frau doch nicht sagen, daß Rose ihm erzählt hatte, daß sie alle Were seien! Aber Rose war einer.... Das hatte er letzte Nacht gesehen!
"Rose erwähnte auch noch die .... naja, die.... Were." Er quetschte das letzte Wort förmlich heraus.
Nadine sah den Mann am Tisch an. Dann wandte sie sich mit einem feinen Lächeln an MacGyver zurück.
"Und?"
Und? Was erwartete sie denn noch? Er musterte sie. Nadine Heerkens-Wells benahm sich, als hätte er ihr gerade die letzten Eishockeyergebnis erzählt – die sie außerdem nicht im Geringstem interessierten!
"Und nichts", sagte er dann.
Nadine sah wieder den Mann an.
"Sie glauben Rose?"
"Ja!"
Der kleine Hund sah zwischen MacGyver und Nadine hin und her. Nadine nickte kaum merklich und MacGyver wurde Zeuge einer kaum zu glaubenden Verwandlung. Denn anstatt eines schwarzen Hundes stand da plötzlich ein kleiner Junge von ca. 9 Jahren – völlig nackt! MacGyver schüttelte nur den Kopf. Er hatte sich das ganze also doch nicht eingebildet!
"Mom, darf ich ihn beißen?" fragte der Junge plötzlich mit fast flehender Stimme.
Beißen!? MacGyver sah den Jungen entsetzt an.
"Nein, Daniel, du kannst nicht einfach jeden beißen, der hier vorbeikommt!" schalt seine Mutter ihn.
"Ohhh, warum darf ich niemals jemanden beißen!! Bei Mr. Celluci durfte ich auch nicht! Und das, obwohl Dad ihn beißen wollte!"
Nadine lächelte. "Daniel", sagte sie dann nur und der Junge trollte sich schmollend.
"Nun, Mr. MacGyver?" wandte sie sich dann an MacGyver.
Dieser starrte noch immer Daniel nach.
"Das glaube ich einfach nicht", murmelte er leise.
In diesem Moment öffnete sich die Hintertür und ein Mann trat herein. Er trug eine grüne Shorts und über der Schulter hing ein T-Shirt. Als er MacGyver sah trat ein tiefes Runzeln auf seine Stirn. Nadine trat an ihn heran.
"Stuart", begann sie. "Das ist Mr. MacGyver von der Phoenix Foundation."
Aha, das war also Stuart – der Rudelführer, wenn er Henry richtig verstanden hatte.
Stuart musterte ihn. "Verschwinden Sie!" knurrte er dann und es war wirklich ein Knurren. MacGyver wich etwas zurück.
Nadine legte Stuart eine Hand auf den Arm. "Er kann uns helfen", sagte sie leise und sah ihn fest an.
"Wir brauchen keine Hilfe von Außenstehenden! Diese Angelegenheit geht nur uns etwas an! Es ist eine Familienan-gelegenheit!"
"Stuart, sei kein so egoistischer Kerl! Es ist keine Familienangelegenheit mehr! Menschen von außen bedrohen die Sicherheit von unserer Farm! Und wenn jemand bereit ist zu helfen, so bin ich bereit mir von ihm helfen zu lassen! Er wird dir nicht deine Rolle als Anführer streitig machen!"
Stuart musterte MacGyver von oben bis unten. Ein Glitzern trat in seine Augen. MacGyver konnte deutlich spüren, daß Stuart die Sache mit dem 'Nicht streitig machen der Position des Anführers' nicht so ganz glauben wollte. Was war das noch einmal, was Fitzroy zu dem Verhalten von Alpha-Männchen gesagt hatte? Andererseits war er nicht bereit sich auf den Boden zu legen und seine Kehle diesem Mann zu präsentieren. Wenn er sich recht erinnerte, zeigte nämlich auf diese Art ein Wolf dem anderen, daß er sich der Stärke des anderen unterwarf.
MacGyver erwiderte den Blick des anderen. Das Knurren in Stuarts Kehle wurde tiefer. MacGyver konnte deutlich sehen, wie der Mann alle Muskel anspannte. Er sah so aus, als ob er jeden Moment losspringen und MacGyver an die Kehle fahren würde. MacGyver hielt die Hände in einer Geste, die bedeuten sollte, daß er keine Bedrohung wäre, deutlich vom Körper weg. Er wußte, daß er die Situation irgendwie entschärfen mußte. Nur wie??
"Hören Sie", begann er und sah auch Nadine kurz an. "Ich will Ihnen wirklich helfen." Er drehte sich wieder zu Stuart um und erstarrte. In einer fließenden Bewegung entledigte sich Stuart Heerkens seiner Shorts und stand für den Bruchteil einer Sekunde nackt vor ihm. Doch das war es nicht, was MacGyver erstarren ließ. Vielmehr das, was dann folgte. Für einen Moment sah er noch einen Menschen vor sich, dann schien sich die menschliche Form zu verändern. Muskeln, Haut und Knochen flossen zusammen in eine neue, völlig nicht-menschliche Form. Wo soeben noch glatte Haut gewesen war, wuchsen in sekunden-schnelle dichte, schwarze Haare. Stuarts Körper wurde kleiner, kompakter und fremder. Sein Gesicht veränderte sich rapide und MacGyver glaubte eine Art von Schnauze zu erkennen.
Und als die Zeit für ihn wieder normal zu laufen begann, stand ein großer, schwarzer Hund vor ihm. Sehr groß und sehr schwarz und weniger ein Hund als vielmehr ein ...... Wolf?!
Er steckte in Schwierigkeiten!
"Tag!" Nadines Stimme hatte einen schneidenden, befehlenden Tonfall angenommen. Als der Hund einen Schritt nach vorne tat, packte sie ihn am Nackenfell. MacGyver hatte nicht den Eindruck, als ob diese fast zierliche Frau etwas gegen diesen Riesenköter – Moment: Werwolf – unternehmen konnte, aber er sah sich vom Gegenteil überzeugt. Der Wolf hielt seinen Abstand zu ihm. Doch das Knurren war kein Phon leiser geworden. Große Schwierigkeiten!
In diesem Moment kam Henry Fitzroy die Treppe, die in den großen Wohnraum führte, herunter. Er sah so aus, als ob er gerade aufgestanden wäre. Aber dabei war vor kurzem erst die Sonne untergegangen. Er hatte die Situation mit einem Blick erfaßt und stellte sich zwischen MacGyver und Tag – Stuart. Er warf einen ärgerlichen Blick in MacGyvers Richtung.
"Sie hätten nicht herkommen sollen. Ich habe Sie doch gewarnt."
"Sie haben mich nicht davor gewarnt, hierher zukommen. Und daß ich, wenn ich hierher komme, von einem blutrünstigen Riesenköter zerrissen werde!" MacGyver wurde langsam wütend.
"Darf ich ihn jetzt beißen, Mom." Keiner hatte das Hereinkommen von Daniel bemerkt. Er schaute seine Mutter erwartungsvoll an.
"Nein, Daniel." Nadines Stimme war fest und duldete keinen Widerspruch. Doch dieser kam trotzdem.
"Daddy will ihn doch auch beißen!"
"Nein!"
"Dann erzähle ich auch nichts von dem komisch riechenden Koffer, den ich in der Scheune gefunden habe!" erwiderte Daniel trotzig. In diesem Moment interessierte sich Nadine in keinster Weise, für das was der Junge in der Scheune gefunden hatte. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt der Situation vor ihr. Aber MacGyver interessierte sich dafür. Ein komisch riechender Koffer! Er hatte das unbestimmte Gefühl, daß etwas mit dem Koffer nicht stimmte. Und er hatte in langen Jahren gelernt, sich auf dieses Gefühl zu verlassen.
"Was für ein Koffer hast du gefunden?"
Er ging in die Hocke, um mit dem Kleinen besser unterhalten zu können. Dies war ein Fehler. Denn nun schaute er einem gewissen, sehr großen Wolf genau in die Augen. Dann war der Wolf verschwunden, und an dessen Stelle stand wieder Stuart. Dieser hatte nichts an. Für einen Moment schoß der Gedanke durch MacGyvers Kopf, daß er irgendwann einmal fragen mußte, ob Kleidungsstücke ein Hinderungsgrund für die Verwandlung zwischen Mensch und Wolf waren, aber er schob diesen Gedanken zur Seite, als Stuart die Boxershorts wieder anzog.
Daniel sah nervös zwischen seinem Vater und MacGyver hin und her. Man konnte spüren, daß er sich durch die plötzlich geballte Aufmerksamkeit mehr als nur unwohl fühlte. Sein Vater nickte ihm auffordernd zu.
"Da ist ein Koffer, etwa so groß", er deutete mit den Händen etwa die Größe einer Aktentasche an, "und er liegt bei uns in der Scheune hinter den Heuballen. Er riecht ganz ekelhaft. Wie verbrannte Kohle."
"Verdammt! Das ist eine Bombe!"
MacGyver rannte los. Dicht auf seinen Fersen waren Henry und Stuart. In der Scheune war es durch die vor kurzen eingebrochene Nacht so dunkel, daß MacGyver kaum etwas sehen konnte. Die anderen hatten anscheinend nicht dieses Problem. Er folgte den Geräuschen, die die anderen im Stroh, das auf dem Boden lag, machten. Plötzlich erkannte er unter einer Lampe an der Wand Stuart, der einen Aktenkoffer in seinen Händen hielt.
"Legen Sie das sofort wieder hin!"
Stuart zögerte.
"Sofort!" In MacGyvers Stimme schwang seine ganze Besorgnis mit. Wenn er mehr befehlend gewesen wäre hätte Stuart ihm sicher nicht gehorcht. So jedoch legte er den Koffer vorsichtig auf den Boden. Stuart wurde von MacGyver zur Seite geschoben, der nun seine gesamte Aufmerksamkeit auf den Gegenstand vor ihm konzentrierte. MacGyver kniete sich hin und ließ die Finger über den Kofferrand gleiten auf der Suche nach einer Sicherung, die die Bombe hochgehen lassen würde, wenn man den Koffer öffnete. Er fand keine.
"Sie sollten besser gehen", sagte er und sah Stuart und Fitzroy an.
Stuarts Blick wurde noch finsterer als er ehe schon war und MacGyver sah, daß auch Henry Fitzroy keine Anstalten machte, zu gehen.
"Okay", meinte er dann nur und öffnete vorsichtig den Koffer. Was er sah, ermutigte ihn wenig. In ihm befand sich definitiv eine Bombe. Eine Unmenge von Kabel verbanden verschiedene Schalttafeln miteinander und das ganze bildete einen großen Wirrwarr. Inmitten dieses Wirrwarrs befand sich die Uhr. Es war eine digitale Uhr, die ihm anzeigte, daß er nur noch wenige Minuten Zeit hatte. Genauer gesagt: 2:13 Minuten.
MacGyver entdeckte nach einigem Suchen den Zünder. Dieser war ein Schützschalter, der von einem transparenten Plastikgehäuse umgeben war. Nur zwei dünne Schlitze ließen einen Zugriff darauf zu. MacGyver kannte diese Art von Bombe. Wenn er irgendwo einen falschen Draht durchschnitt, flog alles in die Luft. Und das Ding hatte eine ganze Masse von Drähten!
1:45.
Es war nicht unmöglich eine solche Bombe zu entschärfen. Aber dazu brauchte man Zeit. Zeit, die sie nicht hatten.
1:20
MacGyver sah sich suchend um. Dann fing er an in seinen Taschen zu wühlen. Henry Fitzroy hob beide Augenbrauen als er sah, was MacGyver so alles zu Tage förderte. Ein Schweizer Taschenmesser, eine Rolle silberfarbenes Klebeband, einen Rolle Schnur, ein Heftpflaster, Streichhölzer und ein Päckchen Kaugummi. MacGyver sah die Kaugummis an und begann dann einen Streifen auszupacken.
1:02
Dann schob er den Streifen durch den Schlitz in dem Plastikgehäuse und versuchte, ihn zwischen die beiden Kontakte des Zünders zu bekommen. Es klappte nicht. Der Streifen war zu kurz. Hilflos sah MacGyver auf.
"Hat einer von Ihnen zufällig etwas Papier dabei?"
Stuart trug nur seine Jogginghose und darin befand sich nichts. Henry griff in seine Gesäßtasche und zog ein kleines, längliches Notizbuch hervor. MacGyver zögerte nicht lange und schnappte sich das Buch.
0:37
MacGyver schlug das Buch auf und ein Satz fiel ihm ins Auge.
Sie versank in seinen leuchtend blauen Augen, wie die Sonne, die abends im Meer versinkt
MacGyver starrte den Satz verblüfft an, riß dann die ersten drei Seiten aber kurzerhand heraus. Henrys Augen weiteten sich in Entsetzen.
0:14
Doch MacGyver schien das nicht weiter zu kümmern. Äußerst vorsichtig schob er die Papierstreifen zwischen die Kontakte. Als das Papier saß machte er einen Schritt zurück. Nun konnten sie nur noch hoffen.
Die Uhr zeigte 0:01 und dann waren nur noch drei Nullen zu sehen. Der Zünder löste sich von seiner Halterung und schlug auf das Papier auf. MacGyver hatte sich instinktiv den Kopf eingezogen und die Arme schützend erhoben. Nichts passierte. Er sah die Bombe etwas mißtrauisch an. Immer noch nichts. Es hatte funktioniert!
Er gab Henry das etwas mißhandelte Notizbuch zurück, bei dem jetzt die ersten drei Seiten fehlten. Hinter ihnen wurden Schritte laut. Nadine erschien, gefolgt von Shadow und dem anderen Mann, den MacGyver zuvor im Wohnzimmer des Farmhauses gesehen hatte. Als der Mann die Bombe sah, fluchte er nur leise und besah sich das Ding dann näher. MacGyver stellte fest, daß er das sehr professionell tat.
"Interessante Lösung", kommentierte der rotblonde Mann MacGyvers Werk.
"Danke", erwiderte MacGyver. "Mr.....?"
"Nennen Sie mich Colin. Ich nehme das Ding nachher mit und lasse es von John untersuchen", fuhr Colin an Stuart gewandt fort.
"Wer ist John?" fragte MacGyver.
"John Peterson. Er arbeitet bei uns im Labor", erklärte der junge Mann.
"Welches Labor?"
"London Ontario Police Department."
"Sie sind bei der Polizei?"
Colin nickte nur. Dann nahm er vorsichtig den Koffer hoch und trug ihn nach draußen.
"Ich werde darüber aber eine Meldung machen müssen. Ich kann das Ding nicht so einfach mir nichts, dir nichts ins Labor schleppen."
MacGyver sah, daß Stuart nicht gerade begeistert wirkte. Wahrscheinlich wollte er nicht, daß unnötige Aufmerksamkeit auf ihn und die Farm gelenkt wurde. Wenn bekannt würde, daß man auf der Farm eine Bombe gefunden hatte, würde es hier von Fremden nur so wimmeln. Und daß Stuart von Fremden nicht gerade begeistert war, das hatte MacGyver schon mitbekommen.
"Ich könnte das Teil zur Phoenix Foundation nach Toronto bringen und dort untersuchen lassen", bot MacGyver an. "Da werden weniger Fragen gestellt."
Vor allem, weil er ja sowieso des öfteren mit irgendwelchen Bomben zu tun hatte. Er sah Stuart an. Dieser nickte dann.
"In Ordnung", sagte er.
"Ich fahre Sie hin", schlug Henry vor.
MacGyver konnte nicht von sich behaupten, daß er begeistert war. Aber er wollte auch nicht alleine mit einer provisorisch entschärften Bombe im Auto nach Toronto fahren. Henry war ihm irgendwie unheimlich. Er wußte nicht warum, aber irgend etwas stimmte mit dem Kerl nicht. Andererseits siegte seine angeborene Neugier über seine ebenfalls angeborene Vorsicht.
"Okay", stimmte er zu.

 

* * *

 

Pete Thornton kam in sein Büro hereingestürmt, das MacGyver des öfteren als sein eigenes beschlagnahmte. So wie jetzt zum Beispiel. Das war normal. Was nicht normal war, war das, was er soeben erfahren hatte.
Der Morgen hatte eigentlich ganz gut begonnen. Pete war wie gewöhnlich in das Gebäude der Phoenix Foundation in Toronto gegangen und hatte, bevor er in sein Büro ging, seine Sekretärin gefragt, ob es etwas Neues gab. Diese hatte ihm nur eine Akte in die Hand gedrückt, die aus dem Labor stammte, und gesagt: "MacGyver ist in Ihrem Büro."
Pete hatte einen kurzen Blick in die Akte geworfen und war dann in sein Büro gestürzt.
"Würdest du mir bitte erzählen, um was es hier eigentlich geht!?"
MacGyver, der auf Petes Couch lag und anscheinend tief und fest geschlafen hatte, blinzelte verwirrt. "Hallo, Pete!" murmelte er dann verschlafen.
"Mac!"
"Ja?"
"Wie wäre es mit einer Antwort auf meine Frage?"
"Uh, welche Frage?"
"Die Frage, warum du hier mitten in der Nacht mit einer im MacGyver-Stil entschärften Bombe hereinschneist, das Ding ins Labor schleppst, und die armen Leute dort unten zu Überstunden verdonnerst!?"
"Ach das!" MacGyver setzte sich auf.
"Mac!!"
"Okay, Pete, krieg dich wieder ein, ja? Also, die Bombe stammt aus der Scheune, die auf dem Gebiet der Heerkens steht. Ich war gestern abend dort, um mich mal umzusehen. Dann entdeckte Daniel die Bombe...naja, und da wäre sie."
Pete war etwas verwirrt.
"Bitte etwas ausführlicher, MacGyver. Ich verstehe nichts, gar nichts."
MacGyver begann mit seiner Erzählung bei dem Unfall mit dem Hund und endete bei der Bombe. Was er nicht erwähnte, waren die Were. Pete hätte ihm das nie geglaubt!
"Daher also die Fragen über Heneghan", meinte Pete nachdenklich.
MacGyver nickte. "Hast du etwas über ihn oder die Untersuchungsergebnisse der Bombe?"
"Beides. Über Heneghan gibt es nicht viel, was man verwerten kann." Pete holte ein Blatt aus seinem Aktenkoffer. "Also, Walter Harvey Heneghan, 46 Jahre, gebürtiger Amerikaner, keine Vorstrafen. Er ist ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann, der seit etwa einem Jahr für Forsey arbeitet. Das Forsey-Projekt ist sein erstes Großprojekt. Er war vorher bei verschiedenen Firmen, unter anderem bei 'Locksey International', 'Smith, Lindsey & Partners', 'PLA Inc.' und so weiter."
"Er blieb also nie lange?"
"Nein. Man vermutet, daß er in einige Geldschiebereien verwickelt war, konnte ihm aber nie etwas nachweisen. Außerdem hat er den Ruf, ein unheimlich erfolgreicher Geschäftsmann zu sein. Was er anfaßt wird zu Geld."
"Was ist mit der Bombe?"
Pete schüttelte den Kopf.
"Das Ding ist zwar voller Fingerabdrücke, aber keine brauchbaren. Da sind zum Beispiel deine und die von einem Officer der Londoner Polizei namens Colin Heerkens. Die dritten Abdrücke sind nirgendwo verzeichnet."
"Wahrscheinlich sind das die Fingerabdrücke von Stuart Heerkens-Wells", vermutete MacGyver. "Er war der einzige, den ich die Bombe noch habe anfassen sehen."
Pete nickte und fuhr dann fort.
"Die Bombe wurde von einem Profi gebaut, Mac. Unser Experte meint, daß jeder Versuch, sie zu entschärfen, in einem Disaster geendet hätte. Man braucht sehr viele Spezialgeräte, um die Schaltkreise von dem Zünder abzuklemmen. Ach ja, bevor ich's vergesse", Pete wühlte in der Akte und zog drei Notizblätter heraus, "vielleicht willst du die wieder haben."
MacGyver grinste etwas und steckte Henrys Notizpapier ein.
"Gibt es irgend etwas in Heneghans Akte, das darauf schließen läßt, warum er gerade den Teil der Heerkens-Farm haben will? Ich meine, es gibt noch die Ausweichmöglichkeiten auf der anderen Seite des bisherigen Geländes."
Pete seufzte leise. "Ich weiß, ich habe es mir angesehen. Aber bisher habe ich auch nichts entdecken können, was das Heerkens-Gebiet zu so einer Besonderheit macht."
MacGyver zog eine Karte des Gebietes heraus und studierte sie. Plötzlich runzelte er die Stirn.
"Sieh dir das an."
Pete beugte sich vor und studierte ebenfalls die Karte.
"Dieses Stück Land", meinte MacGyver und deutete auf ein orange schraffiertes Gebiet, "liegt neben dem Teil der Heerkens-Farm, der aufgekauft werden soll."
"Das ist die Biehn-Farm, oder besser gesagt, das, was von ihr übrig geblieben ist. Vor etwas einem Jahr kam es dort zu einem Brand. Carl Biehn und sein Neffe kamen damals ums Leben. Seit dieser Zeit wird das Grundstück von einem Herren namens Douglas Reaves verwaltet. Er war der erste, der auf das Kaufangebot von Forsey einging."
"Und wenn man auf die Ausweichmöglichkeit zurückgreift, braucht Forsey dieses Teil nicht mehr", murmelte MacGyver.
"Was?"
"Pete, du mußt mir noch einen Gefallen tun......"
Pete verdrehte die Augen. "Schieß los!""Überprüf' diesen Reaves."
"Hast du einen Verdacht?"
MacGyver zuckte mit den Achseln. "Vielleicht." Dann stand er auf und streckte sich. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, daß es schon nach 8.00 Uhr war. Er würde zu Forsey fahren und sich mit ihm einmal unterhalten.

 

* * *

 

Der 'Tower' war das größte Gebäude in diesem Teil von Toronto. Er gehörte Jonathan Forsey, dem größten Baulöwen von Ostkanada. MacGyver betrat das Gebäude durch den riesigen Vordereingang und strich sich über seine Krawatte, die er sich extra für diesen Anlaß angezogen hatte. Die Sekretärin im 53. Stock des Gebäudes lächelte ihn freundlich an und ließ ihn dann noch weitere 15 Minuten warten, bis er zu dem Boss des Forsey-Projekts vorgelassen wurde.
Jonathan Forsey war ein Mittfünfziger mit eisgrauen Haaren und einem hageren, sonnengebräunten Gesicht. Er kam auf MacGyver zu, als dieser eintrat.
"Mr. MacGyver", begrüßte er ihn und schüttelte ihm die Hand.
"Mr. Forsey."
"Was verschafft mir die Ehre eines Besuches von der Phoenix Foundation?"
"Es geht um das geplante Bebauungsgebiet bei London."
"Gibt es etwa Schwierigkeiten damit?"
MacGyver setzte sich auf einen angebotenen Platz. "So könnte man es nennen." Und dann erzählte er von dem, was auf der Heerkens-Farm vorgefallen war.
"Was ich nun wissen will, Mr. Forsey, ist, warum Sie gerade diesen Teil des Landes haben wollen. Wir haben die Ausweich-möglichkeiten genauestens untersucht. Das Gebiet würde problemlos zu kaufen und zu bebauen sein."
Forsey hatte der ganzen Erzählung mit gerunzelter Stirn zugehört.
"Ich bestehe nicht darauf, daß bestimmte Gebiete bebaut werden, Mr. MacGyver", sagte er dann nach einiger Zeit. "Mr. Heneghan leitet diesen Teil des Projektes. Ich suche nur nach der finanziellen Unterstützung."
"Und er hat nichts davon erzählt?"
"Nein", Forsey schüttelte den Kopf. "Ich bekomme alle Berichte über das Projekt, aber ich habe nie etwas von irgendwelchen Problemen gehört. Vielleicht sollten wir uns mit Mr. Heneghan unterhalten."
Jetzt schüttelte MacGyver den Kopf. "Ich halte dies für keine gute Idee, Mr. Forsey. Wir haben keine Beweise und wenn Heneghan wirklich etwas mit der Sache zu tun hat, dann würden wir ihn hiermit nur verschrecken."
"Gut", meinte Forsey und rieb sich über das Kinn. "Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden, Mr. MacGyver."

 

* * *

 

Colin Heerkens las das Blatt durch, das einige Informationen über diesen Mann namens MacGyver enthielt. Er hatte es aus der Computerzentrale der Londoner Polizei erhalten Und diese Informationen waren sehr interessant. Der Mann stand also wirklich auf ihrer Seite. Aber das würde Stuart wenig beeindrucken. Der Rudelführer empfand MacGyver als Konkurrenten. Der Mann hatte ihnen zwar geholfen, die Bombe zu entschärfen, aber das brachte ihm nicht mehr Freundschaft von Seiten des Wers ein als vorher.
"Colin!"
Colin wurde durch den Ruf aus seinen Gedanken gerissen. Er sah in die Richtung, aus der er gerufen worden war, und entdeckte den Mann, über den er gerade etwas gelesen hatte. MacGyver stand neben einem seiner Kollegen im Eingangsbereich des Reviers und sah erwartungsvoll in seine Richtung. Colin stand auf und ging auf ihn zu.
"Guten Tag, Mr. MacGyver. Ich hätte nicht gedacht, Sie so früh schon wiederzusehen. Ich dachte, Sie wären in Toronto."
"Das war ich auch", erwiderte MacGyver. "Aber ich hatte hier in London einen Termin."
MacGyver erwähnte nicht, daß dieser Termin mit Walter Heneghan gewesen war, den er laut Forsey auf dem Baugelände hätte antreffen müssen. Doch dieser war nicht da gewesen und keiner wußte wo er war. Man hatte ihn seit gestern Nachmittag nicht mehr gesehen.
"Und was verschafft mir die Ehre Ihrer Anwesenheit?"
"Ich dachte, Sie würden sich für die Untersuchungsergebnisse der Bombe interessieren."
Colin nickte und MacGyver erzählte kurz, was sie über die Bombe herausgefunden hatten.
"Interessant", murmelte Colin. Zwischen-zeitlich waren sie bei MacGyvers Wagen angekommen.
"Ihr Jeep steht noch bei uns", sagte Colin, der den Leihwagen bemerkte. "Wenn Sie wollen, könnte ich Sie auf die Farm bringen, damit Sie wieder Ihren eigenen Wagen haben. Ich habe sowieso gerade frei."
MacGyver nahm das Angebot dankbar an. "Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir vorher noch einen Blick auf die Biehn-Farm werfen?"
Colin verband mit der Biehn-Farm nicht gerade erfreuliche Erinnerungen. Der verstorbene Besitzer, Carl Biehn, hatte vor knapp einem Jahr versucht, seine ganze Familie zu töten.
"Was wollen Sie denn da?" fragte er daher mißtrauig.
"Ich wollte mich nur mal umsehen", erklärte MacGyver. "Ich kenne das Gebiet nur von der Karte."
Colin spürte deutlich, daß noch etwas anderes dahinter steckte, aber er fragte vorsichtshalber nicht weiter.

 

*

 

Die Biehn-Farm war wirklich nicht umwerfend und hatte sich seit einem Jahr nicht verändert, stellte Colin fest. Es gab eine völlig abgebrannte Scheune und ein etwas verfallen wirkendes Haupthaus. Mehr war da nicht. MacGyver und Colin stiegen aus Colins Wagen und sahen sich um. Alles war still und verlassen.
"Und jetzt?" fragte Colin
"Jetzt sehen wir uns mal um."
Sie trennten sich und jeder begann mit seiner Untersuchung des Geländes.
Colin besah sich erst einmal die Einfahrt vor dem Haus. Irgend etwas störte ihn. Es hatte ihn schon gestört, als er und MacGyver die Einfahrt heraufgekommen waren. Er hockte sich hin und studierte den Kies. Es waren Reifenspuren – eindeutig. Er runzelte die Stirn. Die Reifenspuren waren ziemlich frisch, soweit er das beurteilen konnte. Und das war sehr seltsam. Die Farm war nicht mehr bewohnt und der Verwalter hatte sich höchstens ein- oder zweimal hier sehen lassen. Jemand war hier gewesen und das war noch nicht lange her. Er stand auf, um MacGyver zu suchen.
"Mr. Heerkens!"
Das war MacGyver. Und seine Stimme hatte einen merkwürdigen Tonfall. Colin rannte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Er kam um die Ecke des Gebäudes, als ihm der Geruch auffiel. Blut! Und Tod! Dann entdeckte er MacGyver, der in dem ehemals gepflegten, aber jetzt verwilderten Gemüsegarten von Biehn über etwas gebeugt saß.
Als er zu ihm kam, entdeckte er, was es war. Eine Leiche. Eine ziemlich übel zugerichtete Leiche.
"Wer ist das?" fragte er und sah sich die Leiche mit professionellem Blick an. Der Mann wies eindeutige Bißspuren am ganzen Körper auf. Seine Kehle war herausgerissen worden und er war noch nicht sehr lange tot. Das Blut war schon geronnen, aber die Verwesung hatte noch nicht eingesetzt.
"Ich habe keine Ahnung", gestand MacGyver und er klang etwas krank. Colin bemerkte, daß er ziemlich blaß um die Nase war. Der Anblick einer so übel zurichteten Leiche war wirklich nicht jedermanns Sache.
Colin kniete sich neben die Leiche des Mannes und besah sich alles genauer. Es roch irgendwie nach – Wolf?! Er schüttelte den Kopf. Was war hier los? Es gab hier keine Wölfe – jedenfalls keine richtigen. Und er konnte nicht glauben, daß ein Wer so etwas tun würde.
"Wir müssen die Polizei holen", sagte MacGyver und riß damit Colin aus seinen Gedanken.
Dieser nickte nur und ging zu seinem Wagen zurück, in dem sich ein Funkgerät befand.

 

* * *

 

Zweieinhalb Stunden nach Sonnen-untergang bog Henry Fitzroy auf die Straße ein, die von London aus zur Heerkens-Farm führte. Dabei kam er auch an der Biehn-Farm vorbei, die er noch vom letzten Jahr in guter Erinnerung hatte. Er bemerkte sofort, daß dort eine ganze Menge los war. Was war denn jetzt schon wieder passiert? Noch von der Straße aus entdeckte er Colins Wagen, der neben drei anderen Polizeiwagen in der Einfahrt der verlassenen Farm parkte. Kurzentschlossen hielt er an und stieg aus. Der erste, der ihm über den Weg lief, war MacGyver.
"Was suchen Sie denn hier?" fragten beide den anderen zur gleichen Zeit.
MacGyver runzelte die Stirn und Henry tat das gleiche. Henry, weil er die ganze Polizei von London auf der Farm herumlaufen sah – darunter auch Colin und seinen Partner Barry Wu – und MacGyver, das sah Henry deutlich, weil er wenig erfreut war Fitzroy zu sehen.
"Ich war gerade auf dem Weg zu den Heerkens", erklärte Henry dann. "Und Sie?"
"Ich warte eigentlich nur darauf, daß Colin mich zu meinem Wagen bringt, der immer noch auf der Farm steht."
Henry sah ihn an. "Und dazu brauchen Sie die gesamte Polizei von London?" fragte er spöttisch.
MacGyver verzog das Gesicht. Dann griff er in seine Tasche und zog drei etwas zerknitterte Zettel hervor.
"Bevor ich's vergesse. Ich glaube, das gehört Ihnen."
Henry erkannte sofort die drei Blätter, die MacGyver am gestrigen Abend zur Entschärfung der Bombe aus seinem kleinen Notizbuch herausgerissen hatte.
"Hallo, Henry!" rief in diesem Moment Colin und kam auf sie zu.
"Was ist passiert?" fragte Henry.
"Ich wollte MacGyver zur Farm bringen, damit er seinen Wagen holen kann. Aber er wollte vorher noch einen Blick auf die Biehn-Farm werfen und dann entdeckte er die Leiche im Gemüsegarten."
"Leiche im Gemüsegarten?" Henry verstand nichts.
Colin erklärte ihm kurz, was passiert war. Als er die Bißwunden erwähnte, wurde Henrys Stirnrunzeln tiefer. Er war sich der Tragweite dieses Mordes wohl bewußt.
"Ist hier ein Mr. MacGyver?" rief plötzlich einer der vielen Polizisten, der am Funkgerät an einem der Wagen stand.
MacGyver meldete sich und ging zu dem Wagen.
"Was gibt's?"
"Ich habe hier ein Gespräch für Sie."
Henry sah, wie der Polizist ihm das Mikro in die Hand drückte. MacGyver nickte dankend und setzt sich auf den Beifahrersitz. Auch wenn Henry fast auf der anderen Seite des Hofes stand, so hatte er keine Schwierigkeiten, dem Gespräch zu folgen. Sein Gehör war überaus empfindlich und wenn er sich konzentrierte, konnte er den anderen Gesprächsteilnehmer ebenfalls verstehen.
"MacGyver", meldete dieser sich.
"MacGyver, hier ist Pete. Wo zum Teufel treibst du dich schon wieder rum?"
"Oh, hallo, Pete. Wie hast du mich gefunden?" Er versuchte beruhigend zu klingen, doch aus dem Ton seines Gesprächspartners zu schließen, schien es ihm nicht ganz zu gelingen
"Mac! Ich habe das halbe Polizeirevier auf den Kopf gestellt und dann sagt mir einer der Beamten, daß du dich schon wieder einmal bei einer Mordszene rumtreibst. Kann man dich denn nicht mal für einige Stunden aus den Augen lassen?!"
"Pete, bitte beruhige Dich!" beschwichtigte MacGyver seinen Freund.
"Ich habe keine Lust mich zu beruhigen!" kam es aus dem Lautsprecher. "Jedes Mal, wenn ich von dir höre, hast du eine neue Katastrophe an Land gezogen! Was kommt als nächstes? Ein Erdbeben?"
"Pete!"
"Was?!"
"Warum hast du überhaupt angerufen?"
"Oh, ach ja! Es geht um diesen Douglas Reaves. Also, Douglas Reaves, 42 Jahre, gebürtiger Kanadier, hat eine ganz schön dicke Akte. Der Mann ist mehrfach vorbestraft. Vor allem wegen Betrug, Geldschieberei und diversen Verwicklungen in dubiose Geschäfte. Er war insgesamt fünfeinhalb Jahre im Gefängnis. Er ist auch sehr bekannt dafür, daß er für andere Leute als Strohmann bei einigen Geschäften auftritt. Wenn ihm die Biehn-Farm gehört, ist sicher etwas faul daran, Mac. Wo er sich zur Zeit aufhält, wissen wir leider nicht."
"Aber ich glaube ich weiß es, Pete. Er befindet sich zur Zeit auf dem Weg ins Leichenschauhaus nach London."
"Was?!"
"Pete, ich vermute, er ist derjenige der ermordet wurde."
"Oh, Mann!" murmelte Pete nur.
"Hast du zufällig einen Zusammenhang zwischen Reaves und Heneghan entdecken können?" fragte MacGyver dann.
"Man vermutet, daß zwischen Heneghan und Reaves mal geschäftliche Verbindungen bestanden, aber man konnte nie etwas nachweisen."
"Bingo!" rief MacGyver. "So langsam nimmt die ganze Sache Form an."
"Wieder ein Verdacht?"
"Ich erklär's dir später, Pete!"
Aus dem Lautsprecher
kam ein Seufzen.
"Okay, Mac. Aber versuche bitte, dich diesmal aus Schwierigkeiten herauszuhalten!" Petes Stimme klang sehr überzeugt davon, daß MacGyver dies nicht gelingen würde.
"Ich werd's versuchen, Pete." Dann beendete MacGyver die Unterhaltung.
Als er aus dem Wagen stieg, warf er einen Blick zur anderen Seite des Hofes und entdeckte Henry Fitzroy. Henry versuchte Desinteresse zu heucheln, doch hatte er das dumpfe Gefühl, daß er MacGyver nicht ganz täuschen konnte.
"Wir sind jetzt fertig", lenkte plötzlich der Polizist, der für die Untersuchung verantwortlich war, MacGyver ab. "Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, Mr. MacGyver, daß Sie Ihre Zeit für uns geopfert haben. Sollen wir Sie nach Hause fahren?"
"Nein, danke", erwiderte MacGyver. "Mein Wagen steht auf der Heerkens-Farm. Mr. Heerkens hier wird mich sicher dort hinbringen."
Colin nickte bestätigend. Der Beamte verabschiedete sich dann noch von seinem Kollegen und ging dann mit MacGyver zu seinem Auto. Auch Fitzroy stieg in seinem BMW. Sekunden später flammten die Scheinwerfer auf und der Wagen verließ den Hof der Biehn-Farm.
Als MacGyver bemerkte, daß Fitzroy nicht in Richtung Heerkens-Farm fuhr, sondern wieder in Richtung London, runzelte er die Stirn und drehte sich zu Colin.
"Wo will er denn hin? Ich dachte, er würde mit zu Ihrer Familie fahren."
Colin schüttelte den Kopf. "Ich habe keine Ahnung, wo er hin will", erklärte er.
MacGyver musterte den jungen Wer scharf und in ihm keimte der nicht ganz unbegründete Verdacht auf, daß Colin mehr wußte, als er zugeben wollte. Die Frage blieb also: wo wollte Fitzroy hin?

 

* * *

 

MacGyver lenkte den Jeep auf die Straße nach London und hob den Hörer seines mobilen Telefons hoch. Er wählte die Nummer von Heneghan, die er von seiner Arbeit mit den Leuten vom Forsey-Projekt her kannte. Es klingelte dreimal und dann knackte es.
"Hier ist der Anrufbeantworter von Walter Heneghan. Es tut mir leid, doch zur Zeit bin ich nicht zu erreichen. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht mit Ihrem Namen und gegebenenfalls Ihrer Telefonnummer nach dem Piepton."

MacGyver legte auf. Heneghan war also schon wieder nicht, oder noch immer nicht, daheim. In seinem Kopf formte sich ein vager Plan. Er könnte vielleicht....NEIN!! Oder vielleicht doch...??

 

* * *

 

In fremde Häuser einzusteigen ist nicht gerade eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Vor allem, wenn ich eigentlich keine gesetzliche Rückendeckung dafür habe. Aber was blieb mir anderes übrig? Ich brauchte mehr Fakten und die würde ich wahrscheinlich nur in Heneghans Haus finden. Daß ich nicht der einzige war, dem dieser brilliante Gedanke gekommen war, konnte ich ja nicht wissen........
Das einsam gelegene Haus von Walter Heneghan war größer, als er erwartet hatte. Schon als MacGyver die Adresse von Pete erhalten hatte, hatte er gestutzt, da die Gegend nicht gerade als ärmlich zu bezeichnen war. Gut, Heneghan war ein leitender Angestellter bei einem angesehenen Bauunternehmen, aber das...? Eine schneeweiße Mauer mit roten Ziegeln oben drauf umgab ein, nach MacGyvers Schätzungen, etwa 2 1/2 bis 3 Hektar großes Gelände. Die Villa stand ungefähr in der Mitte und war von einem kleinen Wald umgeben, der die direkte Einsicht verhinderte. Ein schmiedeeisernes Tor versperrte die Einfahrt. Von dort führte ein Kiesweg zum Haus.

MacGyver stellte überrascht fest, daß es nicht sehr schwierig war, dort einzubrechen. Man brauchte nur über die etwa zwei Meter hohe Mauer zu klettern und schon wäre man drinnen. Er konnte auch keine Überwachungsanlagen oder irgendwelche Sicherheitspatroullien feststellen. Nicht einmal einen Wachhund gab es hier! Mehrfaches Klingeln hatte ihm keine Reaktion aus Richtung des Wohnhauses eingebracht, also war keiner zu Hause. Jedoch hatte er auf der Zufahrts-straße zum Grundstück ein ihm wohlbekanntes Fahrzeug entdeckt: einen dunkelblauen BMW mit einem Torontoer Kennzeichen. Henry Fitzroy! Hier war er also hingefahren! Was zum Teufel wollte der Mann hier? MacGyver warf wieder einen Blick auf das unbeleuchtete Gelände.
Innerhalb weniger Minuten war er über die Mauer und bis zum Haus vorgelaufen. Er umrundete das schneeweiße Gebäude einmal, um festzustellen, ob es vielleicht eine aufgebrochene Tür oder ein eingeschlagenes Fenster gab. Schließlich mußte Fitzroy ja auch in das Haus gekommen sein. Er stellte fest, daß dies nicht der Fall war. Also mußte er einen eigenen Weg finden.
MacGyver ging wieder zur Vordertür und kniete sich vor das Schloß. Leider besaß er keinen einzigen Dietrich, dafür aber sein Schweizer Taschenmesser. Er klappte die kleine Klinge aus und knackte das Schloß in kurzer Zeit. Die Tür schwang auf. Tja, Übung macht den Meister.

 

*

 

Henry Fitzroy stand in dem dunklen Arbeitszimmer von Walter Heneghan und sah sich um. Da seine Sehfähigkeit im Dunklen die eines normalen Menschen weit überstieg, brauchte er kein Licht. Vor ihm war der schwere Schreibtisch aus seltenem Holz auf dem ein Computer und eine Diskettenbox standen. Ein Ledersessel stand dahinter. An der Wand waren moderne Regale mit gläsernen Böden, auf denen sich Skulpturen und andere Kunstgegen-stände befanden. An der anderen Wand hingen teuer aussehende Gemälde.
Henry durchsuchte den Schreibtisch, fand aber bis auf einige leere Blätter und einen Bleistift nichts von Bedeutung. Er runzelte die Stirn und dachte nach. Dann schaltete er den Computer ein und ließ sich eine Inhaltsangabe über die Dateien auf der Festplatte geben. Enttäuscht stellte er fest, daß sich keine Textdateien oder etwas vergleichbares auf der Platte befanden. Außer dem Bootprogramm und einigen allgemeinen Anwendungen war sie leer. Plötzlich hörte er etwas. Es war der Herzschlag eines Menschen. MacGyver! Wie war der denn hierher gekommen? Colin konnte ihm nichts erzählt haben, auf keinen Fall! Und gefolgt war ihm auch keiner. Er schaltete den Rechner wieder aus.
Er verließ den Raum und ging die Treppe hinunter in Richtung Wohnzimmer, aus dem der Herzschlag kam. Als er durch den Türbogen trat, entdeckte er MacGyver, der mit dem Rücken zu ihm in der Nähe der großen Glasfront zum Swimmingpool stand. Er trat auf ihn zu, ohne von ihm bemerkt zu werden.
"Wissen Sie, daß es gegen das Gesetz verstößt, in fremde Häuser ohne Haussuchungs-befehl einzusteigen", sagte er leise und ruhig, als er neben MacGyver angelangt war.
MacGyver machte einen Satz nach vorne, kollidierte fast mit der Glasscheibe und wirbelte herum.
"Fitzroy!"
"Mr. MacGyver."
"Was zum Teufel haben Sie hier zu suchen?" fragte MacGyver, der seinen Schock noch nicht ganz überwunden hatte.
"Genau dasselbe könnte ich auch Sie fragen", entgegnete Henry.
"Ich habe Ihren Wagen draußen gesehen."
Henry sah ihn an, aber als nichts weiter auf diesen Satz folgte, gab er sich mit dieser Erklärung zufrieden. Er hatte sowieso schon bemerkt, daß dieser Mann erstens unkonventionell, und zweitens krankhaft neugierig war. Irgendwann würde dies MacGyver noch mal in Schwierigkeiten bringen – wenn er das nicht schon war.
"Und was suchen Sie nun hier?" wollte MacGyver wissen.
"Ich habe Ihr Gespräch von vorhin teilweise mit angehört", erklärte Henry. Das stimmte eigentlich nicht so ganz, denn Henry hatte jedes einzelne Wort mitbekommen, aber er glaubte nicht, daß er dies MacGyver unbedingt erzählen mußte. "Und deshalb bin ich auf die Suche nach Beweisen gegangen."
"Und?"
"Und was?"
"Und haben Sie Beweise gefunden?" fragte MacGyver etwas genervt.
"Noch nicht. Das Arbeitszimmer ist wie leergefegt. Ich habe das Gefühl, Heneghan hat alle Beweise vernichtet."
MacGyver sah sich um. Sein Blick blieb auf dem Kamin hängen. Irgend etwas war falsch, aber er konnte es nicht genau bezeichnen. Er ging an Fitzroy vorbei auf den Kamin zu.
Der Kamin stand in der Mitte des Raumes. Er war aus rotem Stein und davor stand eine gläserne Blende mit goldener Verzierung. An der Seite hingen einige Schürhaken. Das Ding diente nur als Wohnungseinrichtung, wurde also nie benutzt. Jedenfalls bis vor kurzem. Einer der Schürhaken war verdreckt und im Kamin lag verkohltes Papier. MacGyver schob die Blende weg und besah sich den Papierhaufen.
Henry folgte MacGyver, der anscheinend etwas entdeckt hatte. Wie auch MacGyver bemerkte er sofort den dreckigen Schürhaken, der aus den anderen, sauberen Teilen hervorstach.
MacGyver holte sich eine ebenfalls blitzblanke Kehrschaufel von einem Haken und entfernte das Papier aus dem Kamin. Sehr, sehr vorsichtig trug er es zu dem Wohnzimmertisch hinüber und verteilte es ohne lange zu fackeln auf der teueren Marmorplatte.
"Was haben Sie jetzt damit vor?" erkundigte sich Henry, der keine Ahnung hatte, was der andere Mann mit dem verbrannten Papier anfangen wollte. Man konnte nichts mehr lesen.
"Ich brauche eine glyzerinhaltige Flüssigkeit. Schauen Sie mal in einem Medikamentenschrank nach", sagte MacGyver in einem befehlsmäßigen Ton. "Lebertran oder Schmierseife würde es zur Not auch tun."
Henry runzelte die Stirn.
"Ach ja, bevor ich's vergesse: ich brauche auch noch eine Kamera und einen Infrarotfilm."
"Infrarotfilm?"
MacGyver nickte und wandte sich dann den Papierstückchen zu. Vorsichtig entfernte er die größeren Teile aus dem Kohlenstaub. Henry schüttelte den Kopf und machte sich auf die Suche nach dem angeforderten Dingen. In einem Medikamentenschrank im Bad fand er den gewünschten Lebertran. Die Kamera war auch nicht schwer zu finden. Aber der Film gestaltete sich etwas schwieriger – bis er die Dunkelkammer entdeckte. Er war etwas überrascht, daß Heneghan in diesem Haus eine Dunkelkammer hatte – er hätte ihn nicht unbedingt als Hobbyfotografen eingeschätzt. Er öffnete die Tür und knipste das Licht an. Das plötzliche Licht blendete ihn etwas und er blinzelte heftig.
Die Dunkelkammer war leergeräumt, so als hätte Heneghan auch hier Spuren beseitigen wollen. Was für Spuren entdeckte er, als er einen Schnipsel einer entwickelten Negativrolle fand, die unter dem Tisch hervorlugte. Er hielt den Schnipsel gegen das Licht und ihm wurde fast schlecht. Er ließ den Film fallen
Schnell suchte er den von MacGyver gewünschten Infrarotfilm und verschwand aus dem Raum.
Unten im Wohnzimmer hatte MacGyver zwischenzeitlich die Papierüberreste auf dem gesamten Tisch ausgebreitet. Er hatte in der angrenzenden Küche eine Sprühflasche gefunden. Als Fitzroy mit dem gewünschten Material zurückkam, schüttete er den Lebertran in die Flasche, füllte ein wenig Wasser nach und schüttelte das Gemisch. Er sprühte etwas in die Umgebung, um die restliche Luft aus dem kleinen Schlauch in der Flasche zu entfernen. Dann begann er, die Papierreste auf eine Glasplatte zu tun, von der Henry nicht wissen wollte, wo MacGyver sie aufgetrieben hatte, und bewässert sie. Henry sah ihm interessiert zu. Sehr langsam und vorsichtig zog MacGyver die aufgeweichten Teile auseinander bis die Papierseite einigermaßen wiederhergestellt war.
Dann nahm er die Kamera und legte den Film ein. Er beleuchtete sein Werk kurz mit einer starken Lampe und fotografierte dann sein Werk.
"Durch das Licht werden die phosphorisierenden Eigenschaften der Tinte oder der Druckerfarbe angeregt und durch den Infrarotfilm kann ich sie dann sichtbar machen", erklärte MacGyver.
Nach einigen Fotos legte er die Kamera weg und machte sich in die Küche auf. Henry folgte ihm. MacGyver durchsuchte die verschiedenen Schränke.
"Was suchen Sie?" fragte Henry.
"Etwas, das ich als Entwicklerflüssigkeit verwenden kann", erwiderte MacGyver.
"Im hinteren Teil des Hauses befindet sich eine Dunkelkammer", meinte Henry einfach. "Wie wär's damit?"
MacGyver hielt inne und sah Henry ungläubig an.
"Eine Dunkelkammer? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?"
"Sie haben nicht gefragt", kam die einfache Antwort.
MacGyver verzog das Gesicht und Henry führte ihn zu der Kammer.
"Wieso hat Heneghan eigentlich eine Dunkelkammer?" fragte MacGyver. Die Frage war eigentlich mehr ein lautes Denken.
"Das wollen Sie sicher nicht wissen", murmelte Henry leise.
MacGyver sah ihn erstaunt an. "Wie?"
"Heneghan fotografiert", erklärte Henry, der starr geradeaus sah. Der Art nach, wie er es sagte, waren das keine normalen Fotos.
"Und?" fragte MacGyver nach.
"Es sind Fotos von nackten Kinder", sagte Henry tonlos.
Bevor MacGyver etwas sagen konnte, waren sie vor der Dunkelkammer und Henry öffnete die Tür. Dann bückte er sich und reichte dem anderen wortlos den Schnipsel, den er vorher gefunden hatte.
MacGyver wurde blaß als er das Bild musterte. Dann ließ auch er das Negativ angewiedert fallen.
Nun schnappte er sich, noch immer aufgewühlt, eine Filmdose. Dann sah er Henry an.
"Entweder Sie bleiben hier drin und machen das Licht aus, oder Sie gehen raus."
Ohne Worte schloß Henry die Tür von innen und machte das Licht aus. MacGyver wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

 

*

 

Etwa eine Stunde später waren sie fertig. MacGyver hängte die noch feuchten Fotos an die Leine und holte sich eine Lupe. Damit besah er sich die Fotos.
"Was sehen Sie?" fragte Henry.
"Das waren einmal Ausdrucke von einem Computer. Ich sehe Zahlenkolonnen und Buchstabenkombinationen. Sieht aus wie eine Dateiliste oder so was."
"Im Arbeitszimmer im ersten Stock steht ein Computer", meinte Henry. "Aber er ist leer."
"Sind Sie sich sicher?" fragte MacGyver.
Henry zuckte mit den Achseln. "Ich bin zwar kein Spezialist, aber die Festplatte sah sehr aufgeräumt aus."
"Sehen wir uns das Teil doch mal an."

 

*

 

MacGyver tippte auf der Tastatur herum und Henry sah ihm nur dabei zu. Anscheinend verstand MacGyver mehr von Computern als er, denn er entlockte dem Computer wahre Listen von Zahlen und Meldungen. Obwohl er in seinem Beruf eine ganze Menge mit Computern zu tun hatte, so war er immer damit zufrieden gewesen zu wissen, wie sein Schreibprogramm funktionierte, und hatte eigentlich nie mehr wissen wollen.
"Die Festplatte wurde vor kurzem fast total gelöscht", meinte MacGyver nach einiger Zeit. "Es sind nur noch die wichtigsten Anwendungen drauf, ohne eine einzige Fremddatei."
"Also Fehlanzeige."
MacGyver schüttelte den Kopf.
"Ganz und gar nicht. Der moderne Computer besitzt eine wunderbare Fähigkeit: er kann verlorene Dateien wiederherstellen. Dazu brauche ich nur das Recovery-Programm und das befindet sich noch auf der Platte."
Er tippte wieder auf der Tastatur herum und plötzlich kamen einige seltsame Geräusche aus dem Computer.
"Er stellt die Dateien wieder her."
"Aha", machte Henry nur.
Einige Minuten später kam eine 'ready'-Meldung.
"Jetzt wollen wir doch mal sehen, was unser Freund Heneghan da gelöscht hat."
MacGyver rief eine Datei nach der anderen auf und je mehr Daten sie zu sehen bekamen, desto mehr runzelte er die Stirn. Heneghan war bis zum Hals in eine ziemlich große Angelegenheit verstrickt. Und mit Hilfe dieser Daten hier könnte man ihm einen wunderbaren Strick drehen. MacGyver schnappte sich eine der Disketten und begann die Dateien auf die Diskette zu kopieren. Plötzlich bemerkte er, wie sich Henry anspannte.
"Was ist?" fragte er.
"Jemand kommt", war die knappe Antwort.
MacGyver lauschte angestrengt. "Ich höre nichts."
"Nehmen Sie Ihre Disketten!" befahl Henry. "Wir gehen!"
"Aber ich..."
"Wir gehen", sagte Henry nochmals und sah MacGyver an. Dieser spürte, wie er diesem einfachen Befehl nachkommen wollte – aber da waren noch die Disketten, auf die die Daten noch nicht vollständig überspielt worden waren. In ihm regte sich ein leiser Widerstand, aber der andere Mann war stärker. In diesem Moment kam das Signal, daß endlich alles Danten überspielt worden waren. MacGyver schnappte sich die Disketten und folgte Henry zum Ausgang.

 

* * *

 

Walter Heneghan stellte seinen Wagen auf den gewohnten Platz vor den Eingang seines Hauses. Er war die letzten Stunden unterwegs gewesen, um alle Beweise, die ihn und Douglas Reaves miteinander in Verbindung bringen konnten, zu vernichten. Er schloß die Tür auf und trat ein. Plötzlich bemerkte er ein Licht. Es kam aus seiner Küche. Merkwürdig, er war sich 100%ig sicher, daß er die Lichter nicht angelassen hatte, als er das Haus verlassen hatte.
Direkt im Eingangsbereich war ein halbgläserner Schrank, in dem sich einige Jagdwaffen befanden. Er öffnete die Tür und holte sich eine der Schrotflinten heraus. Er überprüfte kurz ob sie geladen war und suchte dann nach den Eindringlingen, als er ein Geräusch aus Richtung Wohnzimmer hörte.

 

* * *

 

MacGyver schob die große Glastür auf und schlüpfte hindurch, gefolgt von Henry. Vor ihnen befand sich der Swimmingpool, der im Winkel des L-förmigen Hauses lag.
Henry hörte den lauten Herzschlag des anderen Mannes, der sich jetzt auf dem Weg zu ihnen befand. Sie mußten von hier verschwinden. Dies teilte er auch MacGyver mit. Sie liefen auf die Treppen zu, die vom Pool in Richtung Vorderfront des Hauses führten und rannten die Stufen hinauf. Mit einem Mal stolperte MacGyver über ein in der Dunkelheit nicht erkennbaren Gegenstand und verlor das Gleichgewicht. Er ruderte mit den Armen und bekam Henry zu fassen, der fast auf gleicher Höhe mit ihm war. Henry hätte den etwas schwereren Mann normalerweise ohne Probleme halten können, war aber im Moment darauf nicht gefaßt, und verlor ebenfalls das Gleichgewicht. Zusammen rollten sie die Stufen hinunter und landeten in einem Knäuel aus Armen und Beinen am Fuße der Treppe.
Henry war der erste, der sich wieder erholt hatte, und rappelte sich auf.
"Alles okay?" fragte Henry.
Bevor MacGyver etwas erwidern konnte, fiel ein Schuß. Henry schien von einer unsichtbaren Faust getroffen zu werden, denn er taumelte auf den Pool zu und fiel hinein.
MacGyver sah Heneghan, der in der Glastür stand – ein Schrotgewehr in den Händen. Das Gewehr schwenkte zu ihm, aber MacGyver schaffte es mit einem Hechtsprung, sich hinter der Ecke des Hauses in Sicherheit zu bringen. Die Schrotladung riß nur den Verputz von der Hausecke. Verzweifelt sah er sich nach etwas um, mit dem er Heneghan ausschalten konnte. Sein Blick fiel auf einige Gartengeräte, die nicht weit von ihm entfernt an der Seite der Treppe lehnten. MacGyver nahm sich den Rechen und stellte sich an die Ecke des Hauses, den Rechen als Waffe erhoben. Er mußte schnell handeln, denn Henry lag wahrscheinlich bewußtlos im Wasser. Die Gefahr des Ertrinkens war äußerst groß.
Er hörte leise Schritte, die auf ihn zukamen. Er spannte sich an. Als die ersten Zentimeter eines Gewehrlaufes um die Ecke erschienen, handelte er. Mit voller Wucht schlug er Heneghan den Rechenstiel vor die Brust. Heneghan taumelte zurück und MacGyver sprang aus seinem Versteck. Er holte mit der Faust aus und versetzte Heneghan einen rechten Haken, der ihn wie immer mit nach vorne trug. Heneghan klappte zusammen.
MacGyver schüttelte seine Hand, die höllisch schmerzte. Dann ließ er Heneghan liegen wo er war und sah zum Pool hinüber. Fast in der Mitte trieb die regungslose Form von Henry Fitzroy. MacGyver handelte schnell. Er zog seine Jacke aus, sprang dann in den Pool und schwamm auf den Bewußtlosen zu. Dann packte er ihn bei der Jacke und zog ihn in Richtung Beckenrand. Er kletterte aus dem Pool und zog Henry heraus. Dann kniete er sich neben den verletzten Mann und besah sich die Wunde. Der Mann brauchte einen Arzt.
Henry war nicht gänzlich bewußtlos, sondern schwebte irgendwo zwischen Wachem und Dunkelheit. Er fühlte den Mann neben sich, dessen Herzschlag sich gesteigert hatte. Und er fühlte die Schmerzen in seiner rechten Schulter, wo ihn die Schrotladung getroffen hatte. Er bekämpfte das Gefühl, einfach in die Dunkelheit zu fallen und schlug die Augen auf. Über ihm entdeckte er MacGyvers besorgtes Gesicht.
"Mr. Fitzroy? Können Sie mich verstehen?"
"Ich bin nur angeschossen, nicht taub", erwiderte Henry mit schmerzverzerrtem Gesicht.
MacGyver verzog das Gesicht. "Ich werde die Polizei und einen Arzt rufen."
"Lassen Sie das mit dem Arzt." Henry setzte sich auf.
"Wie Sie eben richtig bemerkten, wurden Sie angeschossen! Wollen Sie verbluten?"
"Nein, aber ich brauche keinen Arzt, Mr. MacGyver. Fahren Sie mich einfach zu Stuart Heerkens' Farm."
"Auf die Farm? Sie gehören in ein Krankenhaus!"
"MacGyver." Henry sah in ruhig an und MacGyver wurde unschlüssig. "Die Farm."
MacGyver half Henry hoch und brachte ihn dann zur Vorderseite des Hauses. Dort stand Heneghans Chevrolet. Der Wagen war nicht abgeschlossen und der Schlüssel steckte im Zündschloß. MacGyver, der anscheinend nicht bereit war den verletzten Mann bis zur Straße vor zu schleppen, schob Fitzroy auf den Beifahrersitz und stieg dann selbst auf der Fahrerseite ein. Mit der Fernsteuerung, die er in der Seitenablage des Wagens gefunden hatte, öffnete er das Tor zur Auffahrt und fuhr dann los.
35 Minuten später waren sie bei der Farm der Heerkens angekommen. Nadine Heerkens-Wells öffnete die Tür zum Hauptgebäude der Farm. Die Tatsache, daß es inzwischen halb drei mitten in der Nacht war und er einen schwer verwundeten Mann mitbrachte, schien sie in keinster Weise zu stören. MacGyver, der sich mit einem Male anfing zu wundern, daß er so widerspruchslos dem Vorschlag Henrys nachgekommen war keinen Arzt zu verständigen, fing an sich zu fragen, was für den Lebenswandel eines Weres normal war.
Nadine half ihm dann Henry in die Wohnküche zu schaffen und verschwand dann wieder, wahrscheinlich um Verbandsmaterial zu besorgen. Dann zog sie Henry das Hemd aus. Als MacGyver die Wunde sah, runzelte er die Stirn. Er hatte schon einige Male das zweifelhafte Vergnügen gehabt, Schußwunden von Schrotflinten zu sehen. Normalerweise waren sie kein besonders schöner Anblick. Auch diese Wunde hätte keinen Preis bei einer Schönheitskonkurrenz gewonnen. Aber sie sah zehnmal besser aus, als das was er erwartet hätte. Und nachdem Nadine die Wunde gesäubert und die Schrotkugeln entfernt hatte, war kaum noch etwas von ihr zu sehen. Es sah eher so aus, als ob er eine harmlose Schürfwunde hätte, die auch schon angefangen hatten zu verheilen. Das war doch nicht normal! Wer war dieser Henry Fitzroy? Und wie hatte er ihn dazu gebracht, doch keinen Arzt zu verständigen, obwohl er dies fest vorgehabt hatte?
"Wer sind Sie?" MacGyver entschied sich einfach zu fragen.
Fitzroy schaute ihn aus seinen haselnußbraunen Augen an. MacGyver hatte den Eindruck, daß der Blick sich in sein Innerstes bohrte, und dort nachschaute, ob man ihm ein großes Geheimnis anvertrauen könne. Anscheinend fanden sie das was sie suchten, denn Henry lächelte kurz und schaute ihn dann fragend an.
"Glauben Sie an Vampire?"
Moment Mal! Hatte Fitzroy ihn nicht erst vor zwei Tagen gefragt, ob er an Werwölfe glauben würde? Und jetzt fing er an nach Vampiren zu fragen! Das konnte doch nicht wahr sein! Wo war er hier gelandet!!
Aber als Fitzroy ihm das von den Werwölfen erzählt hatte, hatte es sich als wahr herausgestellt. Daran konnte MacGyver nicht mehr zweifeln. Nun stellte sich die harte Frage: was ließ sich daher über Vampire schließen............?
"Oh, nein!" stöhnte MacGyver. "Bitte nicht!"
Fitzroy lächelte nur. Er hatte schon vor einiger Zeit beschlossen, daß dieser Mann etwas besonderes war – wie Vicki Nelson. Er hatte den Heerkens aus freien Stücken geholfen und ihr Geheimnis bewahrt. Und Henry glaubte fest, daß dieser Sterbliche auch sein Geheimnis nicht mißbrauchen würde.
"Ein Vampir?" MacGyvers Stimme klang – nicht ganz – ungläubig.
Fitzroy fuhr fort zu lächeln. Die Szene, die anscheinend langsam anfing MacGyver unangenehm zu werden, wurde vom Erscheinen Stuarts, der in diesem Moment aus dem Hof in die Küche kam, unterbrochen. Dieser blieb, als er MacGyver sah wurde, wie angewurzelt im Türrahmen stehen. Aus seiner Kehle war plötzlich ein warnendes Knurren zu hören. MacGyver, der offensichtlich sowieso schon am Rande seiner Geduld war, warf Stuart einen herausfordernden Blick zu.
Oh-ohh!!!, dachte Henry. Jetzt war es passiert. Er sah schon MacGyver und Stuart in einen Kampf auf Leben und Tod sich auf dem Boden wälzen. Er machte sich bereit im Notfall einzugreifen. Mit seiner überlegenen Kraft sollte er eigentlich in der Lage sein das Schlimmste zu verhindern – selbst wenn er verwundet war.
Doch was dann geschah hätte keiner der Anwesenden erwartet. Stuart hörte auf zu knurren und mit einem Male stand ein ziemlich überraschter Ausdruck in seinem Gesicht. Henry sah mit einer hochgezogenen Augenbraue Nadine an, die auch nur erstaunt mit den Achseln zucken konnte. Stuart war normalerweise derjenige, der jede männliche Person, die auch nur annähernd seine Autorität im Rudel gefährden könnte, angriff und im hohen Bogen aus dem Hause warf.
Auch MacGyver war ebenso verblüfft. Er hatte, als er Stuart herausfordernd angeschaut hatte, eigentlich nur ein Ventil gesucht, bei dem er seine Frustrationen, die sich im Laufe des Tages angesammelt hatten, abladen konnte. Daß Stuart einen Rückzieher gemacht hatte, hatte er nicht erwartet. Aber was sollte er machen. Er hatte immer noch das Problem, daß der Mann vor ihm behauptete, daß es Vampire gab, und so wie er den Fragesteller einschätzte, vermutete er, daß Fitzroy als nächstes behaupten würde, er sei ein Vampir!
"Sind Sie also ein Vampir." MacGyver war inzwischen soweit zu glauben, daß wenn Fitzroy erzählte, daß er sich in seiner Wohnung eine lebende Mumie hielt, daß er es ihm auch glauben würde.
"Glauben Sie, daß das möglich wäre?" Fitzroy lächelte MacGyver an.
Dieser nickte nur.
"Trinken Sie Blut?" MacGyver kam sich in dem Moment, als er die Frage stellte, unglaublich dämlich vor, aber er mußte diese Frage stellen. Er wußte nicht genau warum, aber er mußte sie stellen!
Fitzroy schaute ihn an. Er hatte aufgehört zu lächeln. Dann erklärte er in klarer, ruhiger Stimme:
"Ja, ich trinke Blut. Alle zwei bis drei Tage muß ich etwa eine Tasse voll zu mir nehmen, sonst verliere ich die Kontrolle. Der 'Hunger' wird dann so groß, daß ich ihn nicht mehr kontrollieren kann. Nur wenn ich verletzt werde, ist die Zeitspanne kürzer. Dadurch können meine Wunden auch schneller heilen. Doch die Personen von denen ich 'trinke', erleiden dadurch keinerlei Schaden. Es ist fast so, als ob Sie Blut spenden würden. Und ich arrangiere es meistens so, daß diese Personen keinerlei Erinnerung daran habe, daß ich mich bei ihnen bedient habe."
MacGyver sah plötzlich etwas blaß um die Nase herum aus.
"Haben Sie ..... Ich meine, war ich ......, äh?"
Betroffen sah er zu Boden. Dann schaute er Fitzroy an. Er mußte es wissen. Fitzroy erwiderte seinen Blick. Er schaute ihm tief in die Augen.
"Nein, ich habe nicht", erklärte er ruhig.
MacGyver glaubte ihm. Erleichtert atmete er tief durch.
"Gut. Ich denke, daß ich jetzt besser nach Hause fahre. Ich muß auch noch bei der Polizei vorbei, um die Beweise abzugeben. Ich denke, mit dem was wir haben, können sie Heneghan festnageln."
Damit verschwand er ziemlich schnell durch den Ausgang.
Nachdem MacGyver verschwunden war, hängte Nadine sich bei Stuart ein. Nachdenklich schaute sie auf die Stelle auf der vor wenigen Sekunden noch MacGyver gestanden hatte.
"Weißt du was? Irgendwie mag ich ihn." Dann lächelte sie ihren Mann an und führte ihn mit zartem Druck in Richtung des ehelichen Schlafzimmers.

 

* * *

 

Eigentlich hatte ich keine Veranlassung mehr, Mr. Henry Fitzroy zu besuchen. Er würde bestimmt von seinen Freunden auf der Heerkens-Farm über das Geschehen der letzten Tage aufgeklärt werden. Außerdem war ich auch nicht so wild darauf einem Mann wieder zu begegnen, der von sich behauptet, ein Vampir zu sein. Es bestand ja immerhin die Gefahr, daß Fitzroy wirklich das war, was er von sich behauptete – wie lächerlich das auch immer klingen mochte – und somit mich eventuell als einen potentiellen 'Blutspender' ansah. Und darauf war ich ganz ehrlich nicht so scharf.
Wie auch immer: hier war ich.

MacGyver stellte zwei Tage später seinen Jeep um die Ecke von Henry Fitzroys Apartments ab. Er hatte im Laufe des letzten Tages einige Male versucht den Mann telefonisch zu erreichen, doch hatte er bis zum heutigen Abend immer nur dessen Anrufbeantworter an der Strippe.
Nachdem er mitten in der Nacht aus London zurückgekehrt war, hatte er die Disketten bei der Phoenix-Foundation abgeliefert und sich dann erst einmal dem wohlverdienten Schlaf hingegeben. Am gestrigen späten Nachmittag war er dann zu Pete gefahren, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Dort hatte er dann erfahren, daß die Polizei Heneghan dabei erwischt hatte, wie er versuchte mit dem Flugzeug das Land zu verlassen. Die Beweise, die er und Fitzroy in dessen Haus gefunden hatten, reichten aus, den Mann für etliche Jahre hinter Gitter zu bringen. Auch hatte die Polizei bei einer Durchsuchung von Heneghans Haus eine Spur gefunden, die beweisen könnte, daß er mit der Ermordung von Reaves zu tun hatte. Und dann waren da noch die Kinderpornos....
MacGyver klopfte an Fitzroys Wohnungstür. Eine blonde Frau öffnete die Tür. Sie war einen halben Kopf kleiner als MacGyver – und damit immer noch einen halben Kopf größer als Fitzroy. Sie trug eine einfache blaue Jeans und ein knallrotes Sweatshirt. Auf ihrer Nase saß eine Brille mit dicken Gläsern.
"Ja?" Ihre Stimme war neutral-freundlich.
"Mein Name ist MacGyver. Ich möchte gerne zu Mr. Fitzroy."
Die blonde Frau trat zur Seite und ließ MacGyver herein. MacGyver stand in einem großen Wohnzimmer, das eine breite Glasfront zur Straße hin hatte. Vor dieser Glasfront stand Fitzroy, der – wie MacGyver feststellte – schon um einiges besser aussah als noch vor zwei Tagen.
"Schön, Sie wieder zu sehen, Mr. MacGyver", begrüßte Henry seinen Gast. "Was führt Sie her?"
"Ich wollte Ihnen nur sagen, was sich in den letzten Tagen ergeben hat." MacGyver sah die blonde Frau an, unsicher, ob er ihr gegenüber etwas über die ganze Geschichte erwähnen sollte.
"Mr. MacGyver, darf ich Ihnen Vicki Nelson vorstellen?" klärte Henry die Lage. "Sie weiß über die Sache Bescheid."
"Über alles?" fragte MacGyver und sah Vicki an, von der er nicht wußte, was er von ihr halten sollte. War sie vielleicht auch ein... naja, so wie Fitzroy.... Oder gehörte sie zu seinen 'Blutspendern'?
"Über alles", bestätigte Vicki und setzte sich auf einen der Sessel.
"Was ist mit Heneghan passiert?" fragte nun Henry.
"Er wurde gestern nachmittag auf dem Flughafen von Toronto verhaftet, als er sich aus dem Staub machen wollte. Man hat sein Haus durchsucht und einige interessante Dinge gefunden, die eine Verurteilung nur begünstigen können. Anscheinend war Mr. Heneghan in mehr als nur in einer Branche tätig. Die Polizei fand unter anderem Beweise, daß er Douglas Reaves ermorden ließ. Anscheinend ließ er ihn zu einem Wolfsgehege ca. 100 Meilen von Toronto entfernt bringen und dort von den Tieren zerfleischen. Die Leiche wurde dann auf die Biehn-Farm gebracht. Es sollte so aussehen, als ob die 'Hunde' der Heerkens-Farm den Mann getötet hätten. Es sieht so aus, als ob er dadurch versuchen wollte Stuart zu erpressen. Er hat ziemlich gute Kontakte bei der Polizei – vor allem in den oberen Etagen – und er hätte leicht die Untersuchungen in diesem Mordfall in eine bestimmte Richtung lenken können. Als Heneghan fiel, landeten noch einige anderen faulen Äpfel mit ihm auf dem Boden. Es wird noch lange dauern, alles richtig zu sortieren."
"Was passiert jetzt weiter? Ich meine mit dem Projekt."
"Ich habe heute Mittag mit Mr. Forsey geredet. Er hat sich bereit erklärt, auf das Alternativgelände auf der anderen Seite von London auszuweichen. Es wird also zu keinen weiteren Reibereien kommen."
"Gut", ließ sich jetzt wieder Vicki vernehmen.
"Und wie geht es Ihrer Schulter?" erkundigte sich MacGyver, obwohl man Henry nichts mehr von einer Verwundung ansah. Er sah ziemlich 'gesund' aus, wenn man das von einem ....naja, das was er halt war!... behaupten konnte.
"Es ist schon fast wieder alles beim Alten. Danke der Nachfrage."
"Okay, dann werde ich mal auf die Socken machen. Ich muß morgen früh zum Flugzeug, da ich endlich meinen langverdienten Urlaub antreten werde." Wenn nichts dazwischen kommt, dachte er im Stillen. Es bestand ja – wie üblich – die Möglichkeit, daß Pete einen neuen Auftrag für ihn aus der Schublade zauberte. Darin war dieser sehr gut!
Henry Fitzroy streckte die Hand aus und MacGyver griff sie.
"Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen", meinte Fitzroy.
"Die Begegnung mit Ihnen war ... interessant", erwiderte MacGyver und bemerkte, wie Vicki grinste. Er hatte den nicht ganz unbegründeten Verdacht, daß sie genau wußte, was er damit meinte. Er verabschiedete sich noch von Vicki und verließ dann die Wohnung.

 

Ende