STUMME HÖLLE
von Bimo

 

Zwei Tage seit der Arzt ihm die Schienen abgenommen hatte. Noch immer fühlten die Finger sich seltsam an, steif und ohne ihre gewohnte Kraft. Vorsichtig streckte Giles sie mehrmals auf und ab, halb erschreckt, halb fasziniert von der unglaublichen Leichtigkeit mit der Angelus sie ihm gebrochen hatte. Einfach so, wie trockene Zweige im Herbst.

Er schluckte, versuchte sich wieder auf die Abschrift altägyptischer Schutzzauber zu konzentrieren, die vor ihm ausgebreitet auf dem Tisch lag. Ein schwacher Versuch, wenigstens irgendetwas für Buffy zu tun, wo immer sie auch sein mochte. Ganz alleine auf sich gestellt, ohne ihren Wächter, ohne ihre Freunde würde die Jägerin alle Unterstützung benötigen, die sie bekommen konnte. Selbst wenn diese nur in der Anrufung einiger Schutzgeister bestand.

Mit tiefen, intensiven Zügen sog Giles die trockene Bibliotheksluft in sich auf, den einzigartigen Geruch von Leder und altem Papier. Vertraut. Real, beruhigend. Angestrengt las er weiter, bis Wörter und Zeilen vor seinen Augen zu einem zähen Brei aus Buchstaben und tanzenden Flecken verschwammen. Schließlich hielt er inne, legte die Brille beiseite. Mit seinem Taschentuch polierte er die Gläser. Ihm selbst war nie aufgefallen, wie oft er das eigentlich tat, bis Buffy ihn einmal zufällig auf diesen Tick aufmerksam gemacht hatte.

Das elegante, dünnrahmige Metallgestell war noch ein wenig ungewohnt, deutlich leichter als das alte –es war auch dreimal so teuer gewesen. Nüchtern betrachtet ein überflüssiger Luxus. Xander hatte die alte Brille bei ihrer Rückkehr zu Angelus Unterschlupf inmitten der Trümmer auf dem Fußboden gefunden. Leicht verbogen zwar, ansonsten aber noch vollkommen intakt. Eigentlich ein kleines Wunder.

Laut Optiker wäre es simpel gewesen, sie wieder zu richten. So wenig Arbeitsaufwand, dass er dafür noch nicht einmal Geld verlangen wollte. Wahrscheinlich wunderte der Mann sich noch immer, warum Giles aus einem plötzlichen Bedürfnis heraus so vehement auf einer neuen bestanden hatte. Einer, die so wenig Ähnlichkeit mit dem alten Modell aufwies, wie irgendmöglich.

Giles hätte ihm Gründe ohnehin nicht nennen können. Wie sollte er auch erklären, dass er nicht in der Lage war, sich mit diesem verdammten Ding im Spiegel zu betrachten, ohne gleichzeitig auch Angelus vor sich zu sehen. Angelus, der ihm die Brille aus dem Gesicht schlug, oder wieder aufsetzte, ganz nach Belieben. Wohlwissend, dass sein kurzsichtiges Opfer im Halbdunkeln des Zimmers ohne sie praktisch blind sein würde. Auf einige Meter Entfernung kaum mehr erkennen konnte als vage Schatten. Ein kleiner, aber effektiver Trick zur Steigerung der Angst und des Gefühls von Hilflosigkeit.

 

Manche von Angelus Schlägen waren so hart gewesen, dass das erbarmungslose, sirrende Klingeln in Schläfe und Ohr ihn für Minuten glauben ließ, sein Trommelfell wäre geplatzt.

Natürlich war es das nicht, denn der Vampir hatte genau gewusst, wie weit er gehen durfte.
Buffys treuer Mr. Giles war ein viel zu kostbares Spielzeug, um ihn zu schnell zu zerstören. Angelus wusste das. Giles wusste das. Und ganz genau darin lag das perfide.

Seine Hände zitterten noch immer, wenn er an jene Stunden zurück dachte. Wehrlos an einen Stuhl gefesselt, jede einzelne Nervenfaser seines Körpers taub und pochend, solange bis Angelus einen neuen Weg fand, sie erneut in loderndem Schmerz explodieren zu lassen. Der Vampir hatte Weißgott nicht gelogen, als er sagte, er wüsste wie man einen Menschen brach. Langsam, Schritt für Schritt. Erst den Körper, dann den Verstand.

Auch jetzt, Wochen später kämpfte Giles noch immer mit den Nachwirkungen. Angstzustände, Panikattacken, unwillkürliche Überreaktion bei ganz alltäglichen Situationen oder Geräuschen, Schlaflosigkeit, Alpträume... Fast die gesamte Palette der Lehrbuchdefinitionen. Gewisse psychologische Kenntnisse waren Teil der Standardausbildung zum Wächter. Mussten es sein, wenn man sich im ständigen Kampf gegen übermächtige Monstren befand. Verrückt nur, die Symptome ausgerechnet an sich selber zu diagnostizieren, nicht etwa bei einer frisch berufenen Jägerin nach der Tötung ihres ersten Vampirs, oder dem Opfer einer schwarzmagischen Dämonensekte.

Wächter durften keine Schwäche zeigen. Sie waren dazu bestimmt, ihren Schützling aus der Ferne sicher zu leiten. Und was hatte er getan? Sich gefangen nehmen lassen. Foltern. Hatte das Geheimnis des Acathlas preisgegeben für eine aberwitzige Täuschung, einen einzigen Moment mit seiner geliebten Jenny....

*Drusilla * .

Auf Giles Lippen perlte ein dünnes Lächeln. Bitter und eiskalt, wie der seit Stunden unangetastete Tee auf seinem Schreibtisch. Welch Ironie, dass der entscheidende Vorschlag ausgerechnet von Spike stammte. Spike, der großen unbekannten Variablen in der undurchschaubaren Gleichung jener Nacht. Gegen Ende hatte er sich fast die ganz Zeit als stummer Beisitzer im Raum befunden. Mit zynischem Kommentar über Angelus’ Treiben wachend. Seltsamerweise genau dann einschreitend, wenn es um die Zufügung "bleibender Schäden" gegangen war. Die Kettensäge, oder auch jene Momente, in denen Angelus laut mit dem Gedanken gespielt hatte, nicht nur Giles Fingerknochen zu brechen, sondern auch die seiner Wirbelsäule.

Aber vielleicht war Spike einfach nur der überlegtere, abgründigere Sadist. Derjenige der es verstanden hatte, sich Drusillas übersinnliche Kräfte zunutzte zu machen. Die wahre Grausamkeit dieser Tat offenbarte sich nicht am helllichten Tag, nur in der Nacht, wenn es im Dämmerzustand zwischen Wachsein und Traum keinen Platz mehr gab für rationale Gedankengänge.

Die Stunden zwischen Mitternacht und halb fünf in der Frühe waren die Zeit des Unterbewussten. Die Zeit wenn die bei Tag so mühsam verdrängen Ängste und Selbstvorwürfe aus den dunklen Kammern der Seele hinauf an die Oberfläche krochen. Giles war dann derjenige, dem vom Anfang hätte klar sein müssen, was Angelus plante. Ein selbstsüchtiger Narr, der auf Drusillas Gaukelspiel hereingefallen war, nicht als hilfloses Opfer, sondern weil er es selber *gewollt* hatte.

Es war so entsetzlich leicht gewesen, nicht sie vor sich zu sehen, sondern Jenny. Lebendig, geheimnisvoll und strahlend schön. Sein rettender Engel. Sie hatte sich zu ihm heruntergebeugt, ihn angelächelt. Ihm versprochen, dass alles gut werden würde. Dass sie und er all jene Dinge miteinander teilen würden, die Giles durch ihren Tod auf ewig verwehrt blieben. Wie oft hatte er sich gewünscht, nur noch ein einziges Mal Jennys Nähe verspüren zu können. Ihre sprühende Lebendigkeit und Wärme, das sanfte elektrisierende Kribbeln ihrer Berührung.

Großer Gott, wie sehr hatte er an das Trugbild Jennys glauben wollen. Für den kurzen Moment ihres Kusses waren alle Qualen vergessen gewesen, alle Schmerzen, alle Furcht. Nur allein sie beide zählten. Um so zerschmetternder die Wucht des Schocks als der Schleier des Zaubers sich lüftete und er begriff, was er getan hatte. Den Schlüssel zur Vernichtung der Welt bereitwillig in Angelus Hände gelegt. Dass sie noch stand, war ganz gewiss nicht Rupert Giles zu verdanken. Allein dem unglaublichen Mut einiger Kinder. Nicht auszudenken, wenn sie nicht gewesen wären...

Ließ Giles sich erst einmal auf diesen schwarzen Strudel aus Schuld und unzähligen "Was Wäre Wenns" ein, so führte sein Weg geradewegs in die Gummizelle. Er wusste das, denn er war diesem Punkt bereits viel zu nahe gekommen. War es in all den Nächten, die er am ganzen Körper bebend und wie ein verängstigtes Kind hin und her schaukelnd auf seiner Couch verbracht hatte. Seine Gedanken ganz bei Angelus, Spike und Drusilla. Rasend, panisch. Sich mit irrwitziger Geschwindigkeit um die eigene Achse drehend. Immerfort und immerzu. Wie ein Käfighamster in seinem Laufrad.

Diese akuten Panikattacken waren mittlerweile seltener geworden. Drei oder viermal hatte er es sogar geschafft, durchzuschlafen. Ein paar Nächte noch, und er würde es vielleicht mit seinem Bett versuchen. Selbst obwohl das Schlafzimmer immer noch viel zu voll war mit all den wiederaufgewühlten Erinnerungen an Jenny. Manchmal, wenn er zu unvorbereitet die Treppen hinaufging, sah er ihren Leichnam. Sorgfältig zwischen den Kissen drapiert wie ein wertvolles Präsent. Ein Bild, das ihn jetzt vielleicht auf ewig verfolgen würde. Aber er musste lernen mit diesen Dämonen seiner Erinnerung zu leben, sie wenigstens unter Kontrolle zu halten. Für Buffy. Für die Kinder. Irgendwie....