Die seltsame Rettung in Xanth
Carmen Seegers
Nachdem er die Theorie aufgestellt hatte, dass man innerhalb seiner eigenen Lebensspanne Zeitreisen könne, stieg Dr. Sam Beckett in den Quantensprungzeitbeschleuniger ... und verschwand.
Als er aufwachte, fand er sich in der Vergangenheit wieder. Im Spiegel wurde er mit Gesichtern konfrontiert, die nicht seine eigenen waren. Und eine unbekannte Kraft trieb ihn dazu, die Geschichte zum Besseren zu wenden.
Sein einziger Führer auf dieser Reise ist Al. Ein Projektbeobachter seiner eigenen Zeit, der ihm als Hologramm erscheint, das nur Sam sehen und hören kann.
Und so springt Dr. Beckett von Leben zu Leben, immer darum bemüht zu korrigieren, was einmal falsch gelaufen ist. Und jedes Mal hofft er, dass sein nächster Sprung der Sprung nach Hause sein wird.
"Admiral Calavicci, Dr. Beeks, bitte sofort in den Kontrollraum!" Gooshies Stimme klang leicht nervös über den Lautsprecher.
Al Calavicci und Verbena Beeks sahen sich fragend an, schoben dann ihre Tabletts in die Mitte des Tisches und erhoben sich gleichzeitig.
Einige Augenblicke später kamen die beiden im Kontrollraum an.
"Was ist los? Kann man nicht mal in Ruhe Mittagessen?", maulte Al.
"Nun, Ziggy sagt, dass Sam jeden Moment springen wird!"
"Wieso weiß Ziggy auf einmal, wann Sam springen wird?", fragte Al verwundert. Bis jetzt hatte es doch sogar immer Stunden oder Tage gedauert, bis sie Sam nach einem Sprung lokalisiert hatten?
Gleichzeitig öffneten sich die Türen der Warte- und der Bilderkammer.
Al und Verbena warfen sich erneut einen fragenden Blick zu und gingen dann in verschiedene Richtungen auf sie zu.
"Dr. Beckett ist gesprungen und sein Körper liegt im Sterben!", erklang Ziggys wohlmodulierte Stimme leise.
"Waas?" Verbena drehte sich auf dem Absatz um, doch die Tür der Wartekammer hatte sich schon hinter ihr geschlossen. Sie drehte sich wieder um und blickte auf den Körper auf der Liege. "Schnell, Ziggy, bereite alle Lebenserhaltungsinstrumente vor!", rief sie.
Sofort verwandelte sich die sonst nur mit einer Liege ausgestattete Wartekammer in ein Krankenhausintensivzimmer. Überall aus den Wänden waren Instrumente hervorgeschoben.
"Ziggy, hat Dr. ... unser Gast noch etwas gesagt, als er ankam?", fragte Verbena, während sie die Instrumente anschloß.
"Ja, Dr. Beeks. Ich konnte ihn noch nach seinem Namen fragen. Er lautet Zush."
"Zush? Was ist das denn für ein seltsamer Name?"
"Unbekannt. Aber ich bin dabei, sämtliche Dateien nach einem solchen Namen abzusuchen."
Einen Augenblick herrschte absolute Stille, die nur durch das Piepsen der diversen Instrumente unterbrochen wurde. Sowohl der Computer als auch die Ärztin waren sich der Gefahr bewußt, in der Sam Beckett schwebte. Niemand wußte, wie sich der Tod eines "Gastes" in seinem Körper auswirken würde. Würde Sam, wo immer er auch gerade war, das selbst überleben? Würde seine Seele Schaden nehmen?
"Momentan haben sich die Werte stabilisiert. Aber Dr. Beckett wird allein von den Instrumenten am Leben erhalten. Admiral Calavicci sollte schnell herausfinden, warum Dr. Beckett in diesen Zush gesprungen ist, Ziggy, und ihn herausholen. Ich weiß wirklich nicht, wie lange ich ihn hier am Leben erhalten kann."
"Verdammt will ich sein, wenn das mit rechten Dingen zugeht", murmelte Gooshie, als die beiden Türen sich gleichzeitig geöffnet hatten.
Al stimmte ihm innerlich zu, sagte aber nichts. Statt dessen nahm er seine Handsteuerung und betrat die Bilderkammer. Die besorgten Blicke der anderen Mitarbeiter, vorneweg Donna Elesee und Sammie Jo Fuller, folgten ihm.
Kaum hatte sich die Tür hinter Al geschlossen, als das blaue Pulsieren des Zeitstromes, welches nur Sam und er sehen konnten, leuchtete. Aber es war diesmal seltsam schwammig, irgendwie farblos und doch hell.
Als es nachgelassen hatte, fand sich Al inmitten eines Schloßgartens wieder. Um das Schloß, welches nicht verfallen, sondern eher "faulig matschig" wirkte, zog sich ein Graben, in dem schlammiges Wasser beinahe brodelte. Doch dann erkannte Al, dass sich das Wasser nicht nur bewegte, weil etwas darin schwamm, ein schleimiges, braunes Ungeheuer, sondern auch weil dessen Oberfläche mit ständig wechselnden Wörtern, Sätzen und ganzen Absätzen überzogen war!(1)
Al schüttelte den Kopf, in der Hoffnung, dass dann die Buchstaben, die buchstäblich in der Luft zu schweben schienen, verschwunden waren. "Ziggy, weißt du schon, wo wir hier sind?"
Die Antwortet kam nicht sofort.
Al stoppte. "Ziggy, was ist los?"
"Dort wo sie und Dr. Beckett sich gerade befinden, dürften sie normalerweise nicht sein!"
"Warum nicht, was soll das bedeuten, wir dürften normalerweise nicht hier sein? Wir sind doch hier!"
"Dieses Land gibt es aber nicht."
"Land, welches Land? Ziggy, nun laß dir die Worte doch nicht einzeln aus der Nase ziehen!"
Der Computer überhörte die Worte einfach. "Dr. Beckett ist in Xanth materialisiert. Aber das Land Xanth gibt es nicht. Jedenfalls nicht in der Realität. Xanth ist ein Fantasyprodukt des Schriftstellers Piers Anthony."
Darauf wußte Al nichts zu sagen. Wie zum Teufel konnte Sam in einem Fantasieprodukt landen? Doch noch ehe er eine dementsprechende Frage stellen konnte, wurde seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt. Er drehte sich um, blickte in Richtung des nahegelegenen Waldes. Eine Rauchwolke näherte sich dem Schloß.
Je näher sie jedoch kam, desto besser konnte man erkennen, dass es sich nicht um hellen Rauch, sondern um Dampf handelte, aus dem sich langsam aber sicher die Konturen eines riesigen, aber dennoch flachen Geschöpfes mit drei Beinpaaren und metallischen Schuppen herauslöste.
Ein Schrei lenkte Al von dem sich nähernden Drachen ab. Er konnte einige rennende Gestalten im Schloßgelände erkennen, sowie auch einige im Garten. Er registrierte drei Kinder, zwei Jugendliche und ein etwa dreijähriges Mädchen, aber auch noch einige andere Gestalten. Einige waren menschlichen, andere tierischen Ursprungs, die jedoch einheitlich breiig erdbraun aussahen, beinah wie verfault, und bei jeder heftigeren Bewegung irgendwelche Körperteile verloren.
Zombies!
Das konnte doch nicht sein! "Oh, man!" Al bemerkte nicht einmal, dass er Sams Standardspruch von sich ließ.
Aufgeregte Stimmen erregten erneut Al's Aufmerksamkeit. Zwar wußte er nicht, in wen Sam gesprungen war, doch das war kein Problem, er hatte in den vielen Sprüngen gelernt, Sams Aura zu erkennen, ohne dass er dessen Wirt kannte. Suchend drehte er sich einmal um seine eigenen Achse. Dann blieb sein Blick an einem menschlichen Zombie hängen, der ganz in der Nähe der Kinder stand.
Aus den Augenwinkeln sah Al den Drachen immer näher kommen. Die beiden Teenager liefen schon weg, doch das kleine Mädchen hatte dem Drachen den Rücken zugekehrt, und winkte einer Person im Schloß zu.
"Sam!", brüllte Al, da sich der Drachen scheinbar das kleine Mädchen als Appetithäppchen ausgesucht hatte.
Der Zombie, den Al als Sam erkannt hatte, drehte im Zeitlupentempo den Kopf.
"Sam, unternimm doch etwas!", rief Al erneut, dem das Herz heftiger im Körper schlug. Es konnte doch nicht sein, dass sie hier erschienen und dann nicht verhindern würden, dass so etwas grausames geschah! Egal wo sie sich auch befanden, hier mußte etwas unternommen werden!
Aber es war offensichtlich, dass Sam nicht nur den verfaulten Körper, sondern auch das breiige Gehirn eines Zombies hatte. Denn er zeigte keinerlei Regung, selbst als er den Drachen erspähte.
Al's Gedanken wirbelten durcheinander. So, wie es aussah, mußte er mal wieder helfen, doch wie? Eigentlich müßte das kleine Mädchen ihn sehen können. Doch auf der anderen Seite war dies nicht die Realität. Hier konnte schließlich alles geschehen, oder?
Und wenn das Mädchen ihn wirklich sehen konnte, würde es dann auch auf ihn hören? Was, wenn ihre Eltern ihm verboten hätten, mit Fremden zu reden und es ausgerechnet heute auf sie hören würde?
Der Drache näherte sich dem Mädchen immer mehr. "Sam!" Al war zu einem Entschluß gelangt. Da Sam ihn offensichtlich trotz seines verfallenen Zustandes erkannte und auf ihn hörte, würde er Sam eben dirigieren müssen.
"Sam, geh zu dem Kind!" Er zeigte auf das Mädchen. "Geh hin!"
Nur langsam setzte sich Sam in Bewegung. Und noch immer war ihm keinerlei Regung anzumerken. Aber Al, der nun nah bei Sam war, konnte in dem schwammigen, halb verfaulten Gesicht des Zombies sowieso kaum etwas erkennen. "Das Mädchen!", wiederholte Al, als Sam langsamer wurde und scheinbar nicht mehr wußte, was er machen sollte.
Die Schritte des Zombies wurden wieder ausgreifender, sofern man das holprige Schlurfen von zerfressenen Füßen und Beinen überhaupt als ausgreifend bezeichnen konnte.
Al hatte versucht, auf seiner Handsteuerung abzulesen, ob Ziggy schon Daten über die hiesige Situation hatte. Aber immer, wenn er Sam länger als einige Sekunden aus den Augen ließ und ihn nicht immer wieder vorwärts trieb, verharrte dieser. Das einzige was er auf die Schnelle entziffern konnte, war ein Name, Ivy. Er vermutete, dass es der des Mädchens war.
Sam hatte das Kind nun erreicht. Dieses lächelte ihn und Sam an. Angst vor Zombies schien es nicht zu haben.
"Ivy?" Al sprach das Mädchen an.
"Ja?" Die Kleine sah ihn an.
"Laß dich von ... " Al stockte kurz, schaute auf die Handsteuerung, auf der der Name des Zombies, in den Sam gesprungen war, stand. "... laß dich von Zush hochnehmen. Schnell."
"Warum?"
"Ein Spiel", wich Al aus, da Ivy den Drachen noch immer nicht bemerkt zu haben schien. Er wollte nicht, dass sie nun noch Angst bekam.
"Au, fein!", freute sich Ivy und klatschte in die Hände. Bereitwillig ließ sie sich von dem Zombie auf den Arm nehmen, auch wenn sie das Gesichtchen verzog, als sie dessen leicht verwesenden Geruch wahrnahm.
"Sam! Bring' sie weg von hier, so schnell du kannst", forderte Al dann auf.
Sam gehorchte und schlurfte mit dem Kind auf den Arm davon.
In der Zwischenzeit war der Drache dampfend herabgestürzt und stieß mit seinem Vorderkörper über den Grabenrand.
Das Zombie-Grabenungeheuer griff ihn an. Doch da seine Zähne größtenteils nur aus Karies bestanden, schüttelte der Drache es ab und rammte seine Schnauze in die Außenmauer des Schlosses.
"Sam, in diese Richtung!" Al nutzte diese Gelegenheit und führte den Zombie mit dem Kind auf dem Arm in Sicherheit.
Irgendwann, als Al nicht mehr so drängelte, setzte Sam das Kind ab und gemeinsam gingen sie einige Meter weiter. Ivy redete leicht auf den Zombie ein, was Al ein Lächeln entlockte.
Plötzlich reagierte Sam sonderbar. Er stoppte, drehte sich im Kreise.
"Sam?" Al blieb ebenfalls stehen und sah seinen Freund erstaunt an.
Doch dieser reagierte überhaupt nicht. Es war, als könne er mit dem Namen "Sam " nichts mehr anfangen.
"Sam, bleib' stehen!" Doch der Zombie reagierte nicht.
Leicht verwirrt sah Al auf die Handsteuerung. Dort stand etwas, dass Sam in einen unsichtbaren Vergessensstrudel geraten sei.
"Vergessensstrudel?" Al runzelte die Stirn. Er hätte gerne einen Zug seiner Zigarre genommen, um besser nachdenken zu können. Doch alles war so schnell gegangen, seit Gooshie ihn gerufen hatte, dass er nicht einmal eine Zigarre mit in die Bilderkammer genommen hatte!
Dann fiel ihm Ivy wieder ein. Er drehte sich um, doch von dem kleinen Mädchen war nichts mehr zu sehen.
Er tippte auf der Steuerung herum und atmete erleichtert aus, als er las, dass Ivy zwar noch einige Tage durch den Dschungel irren, aber nette Helfer finden und sogar Xanth vor einer üblen Plage retten würde.
Mittlerweile war auch von Sam nichts mehr zu sehen. "Gooshie, zentriere mich auf Sam!"
Einige Sekunden später stand Al nahe einer Gruppe von Zombies.
Sie hatten sich vor der Zugbrücke versammelt und horchten auf einen schlanken, dunkel gekleideten Mann, der offensichtlich ihr Meister war.
Drei Hände hoben sich gerade, als Al das blaue Leuchten des Zeitsprunges wahrnahm. Dieses Mal war es wieder hell und intensiv wie immer.
Einen Moment blieb um Al noch die Illusion von Xanth, doch dann verblaßte auch das und um ihn herum war nur die leere Bilderkammer.
Es war ihm schleierhaft, wie Sam in eine Unreelle Welt springen konnte.
Wieder in der Realität fragte Al Ziggy, was dieser Sprung eigentlich zu bedeuten hatte.
"Nun, Piers Anthony steckte in einer Schaffenskrise. Er wußte einfach nicht mehr wie es weiter ging. Ursprünglich hat er diesen Roman nie vollendet. Ja, es kam sogar soweit, dass er nicht einmal mehr andere Bücher schreib und deswegen in eine schwere seelische Krise geriet.
Doch nun hat Sam ihm nicht nur gezeigt wie es weiter ging, sondern auch dazu verholfen, dass noch weitere Romane der Xanth-Reihe folgten. Piers Anthony ist einer der ganz großen Fantasy und Science Fiction Schriftsteller unseres Jahrhunderts geworden!"
"Aber warum ist Sam nicht in diesen Piers Anthony selbst gesprungen, so wie man vermuten würde, oder in eine Person seines Umfeldes? Warum in eine Romanfigur, dazu noch einen Zombie?"
"Darüber liegen mir keinerlei Daten vor. Und ich möchte nicht einmal spekulieren!"
"Ich denke wir müssen es einfach hinnehmen", meinte Verbena, die dem Gespräch zugehört hatte, mit einem unergründlichen Lächeln.
Als das blaue Leuchten des Zeitstromes verblaßte, sah Sam vor sich einen schwarzhaarigen Jungen, der Jeans, T-Shirt und Weste trug. Neben sich sah er ein seltsames Wesen. Es ähnelte entfernt einem Hamster oder einer Maus, war allerdings ca. 30 hoch und etwa zweimal so lang, leuchtend gelb mit roten Zacken und gab gerade einen Donnerschock von sich. "Oh, man!", war alles was Sam noch denken konnte, als er geschockt zu Boden ging.
1) Siehe hierzu Piers Anthonys Xanth-Roman: Drachenmädchen / Dragon on a pedestal.
Wunstorf, 14.-16. Juli 1995, Carmen Seegers
Für Anregungen und Kritik bin ich immer zu haben: TashinaD@aol.com