O.K. Freunde des Klassikers der Fantasyliteratur. Ich konnte einfach nicht widerstehen, ich musste einmal eine Fanfic zum HdR schreiben. Immerhin habe ich mir damit fast zwanzig Jahre Zeit gelassen, aber da mir meine Muse so beharrlich auf die Füße getreten ist ... Ich kann mich übrigens glücklich schätzen, die alte Übersetzung (in edler Ausführung) zu besitzen, das werdet ihr auch an meinem Schreibstil bemerken.
Disclaimer: Mir gehört nichts, Tolkien gehört alles (immer noch). Und wenn ich ein bisschen spekuliere, sei mir das verziehen. Just for fun und als Hommage gedacht, und auf keinen Fall zum Geld verdienen.
Beim Schreiben hat mich häufig „The Bridge of Khazad Dûm“ begleitet. Ich liebe mitreißende Soundtracks, und Howard Shore ist so einer gelungen.
Ach, ja. Es haben mich mal wieder die Bösen Buben erwischt. Wer mal über meine Star Wars FF „stolpert“, wird das bemerken. *g*
Falls jemand eine Fortsetzung dieser Story wünscht ...
Mailt mir, auch wenn ihr Lob und Tadel loswerden wollt. Oder wenn Ihr diese Story auf Eure Webseite packen möchtet. Ich weiß gerne, wo sie sich herumtreibt.
Heru n’ nertë

 

Der Schatten von Angmar

von Dairyu

 

 

Eisig war der Ostwind, der über die Ebenen von Forodwaith fegte und um die Mauern der Festung von Carn Dûm tobte, als sei er ein lebendiges Wesen und versuche, mit unsichtbaren Krallen die starken, schwarzen Steine einzureißen.
Aber die Festung trotzte jedem Unwetter, war sie doch nicht nur aus den Steinen des Nebelgebirges erbaut, sondern auch durch Magie.
Eng war sie an die letzen Ausläufer des Gebirges geschmiegt, ein Teil von ihr direkt aus dem Felsen gehauen, ein anderer aus schweren Quadern erbaut, die Orks und Trolle in Jahre langen Mühen herbeigeschleppt hatten.
Hoch lag die Festung, und nur ein einziger Weg führte hinauf – gewunden, gefährlich und kaum breit genug, um einen Heerwagen passieren zu lassen.
Ein breiterer Pfad war nicht nötig, denn am Fuße des Berges lagen, verborgen in tiefen Höhlen und geschützt durch Magie, die Stallungen, Waffenkammern und die Quartiere der Krieger, die ständig in der Festung ihren Dienst taten. Willenlose Sklaven verrichteten die nötigen Arbeiten, Schmiede schufen Tag und Nacht Waffen und es herrschte eine Geschäftigkeit, wie schon lange Jahre nicht mehr. Carn Dûm glich eher einem Kriegslager, denn einem Königssitz.
Nur eines der Elbenheere, wie sie in den Kriegen des Zweiten Zeitalters in Mittelerde zu finden gewesen waren, oder der Dunkle Herrscher selbst, hätten die Festung von Carn Dûm einnehmen können.
Jetzt gab es niemanden mehr in Arnor, der es vermocht hätte.

Schneeluft brachte der Wind mit sich, und noch etwas anderes, das nur die Kundigen zu spüren vermochten: eine finstere Drohung aus Rhovanion.
Dort versteckte sich einer, dessen Name nur geflüstert wurde – Sauron, der Dunkle Herrscher, noch immer geschwächt von seiner Niederlage vor über tausend Jahren. Unerkannt hauste er in Dol Guldur, einer Festung, die von den Elben den Namen „Hügel der Magie“ erhalten hatte, da sie auf einem Berg ruhte.
Der Schattenwald schützte ihn vor ungebetenen Gästen und er widmete sich den Schwarzen Künsten, die auf der Welt gefürchtet wurden.
Aber auch im Norden Mittelerdes war vor Zeiten, an die sich die Sterblichen nur in ihren Liedern erinnerten, ein Schatten aufgetaucht, der Angst und Verderben über die Menschen von Eriador brachte. Dort war das Hexenreich Angmar entstanden. Sein Herrscher trachtete danach, die zerstrittenen Königreiche von Arnor zu unterwerfen und die Dúnedain, die Nachfahren der ihm verhassten Númenórer, zu vernichten und ein Schreckensreich aufzubauen.
Arandûr nannte er sich, das heißt: Dunkler König in der Sprache der Elben.
In seiner Festung hatte er über finsteren Plänen gebrütet, Intrigen geschmiedet und sich Verbündete unter den Menschen in Rhudaur und den Orks des Nebelgebirges gesucht. Oftmals hatte er die drei Königreiche mit Krieg überzogen und die Menschen geschwächt, ebenso oft jedoch hatten sie ihm getrotzt, die unbeugsamen Dúnedain, durch deren Adern noch das alte Blut floss.
Aber jetzt endlich war es soweit den letzten Schlag gegen Arnor zu führen!
Er konnte seine großen Heerscharen in den Kampf schicken.

Die Wachen auf den Zinnen der Festung von Carn Dûm rafften die Felle um ihre Schultern enger zusammen und widerstanden zitternd der Kälte, klamme Finger um lange Speere und auf kalte Schwertknäufe gelegt. Manch einer von ihnen schaute besorgt zum Himmel, dessen bleiernes Grau seit Wochen die Sonne verbarg und selbst das tapferste Herz verzagen ließ.
Ein Winter kündigte sich an, wie ihn Mittelerde seit den Dunklen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Tod und Verderben würde er bringen, das war gewiss.

Die Dämmerung brach schnell herein und mit dem verblassenden Licht kamen die Kreaturen, die der Dunkelheit angehörten.
Auf dem höchsten Turm der Festung regte sich etwas.
Die schwere, mit Eisen beschlagene Tür, die auf eine breite, den ganzen Turm umspannende Terrasse hinausführte, öffnete sich lautlos. Sie zitterte im Wind, der noch stärker geworden war.
Wenige Augenblicke lang schien ein gelbes Licht aus dem fensterlosen Turm und eine große Gestalt in langen, dunklen Gewändern trat durch die Tür auf die Terrasse. Krachend fiel die Eichentür ins Schloss zurück und der Turm lag wieder im Dämmerlicht.
Die Gestalt trat an die hohe Brüstung und blieb reglos stehen und siehe, der Wind wagte nicht, sie zu berühren!
Arandûr, der Herr über Angmar war es, der dort stand und seinen Blick über die weiten Ebenen seines Landes gleiten ließ.
Er sah mehr, als alle Sterblichen in der Festung.
Sein Blick schweifte über die Nördliche Öde, in Gebiete, die selbst ihm unbekannt waren und über Arnor, zu seinen Feinden, den Dúnedain. Ihre Königreiche lagen im Streit miteinander seit vielen Jahrhunderten und schwächten sich gegenseitig – sehr zu seinem Vergnügen, denn so hatte er ein leichteres Spiel.
Schließlich regte sich Arandûr und nahm die Kapuze ab, die sein Haupt bedeckte. Er wollte die Kälte spüren, die über das Land kroch und es langsam zu Eis erstarren ließ.
Hager war Arandûr und ausgezehrt. Bleiche Haut spannte sich über Fleisch und Knochen, so als sei sein Körper aus einem Grabe gekommen. Schwarze Gewänder umflossen ihn wie Nebelschwaden und an seiner Seite war ein Langschwert gegürtet, aus Mithril, geschmiedet von seiner eigenen Hand vor langer Zeit.
Durchscheinend war er, wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Und tatsächlich war Arandûr im Schwinden begriffen, denn er gehörte nicht mehr zu den Sterblichen, sondern zu den Schatten unter dem Einen Schatten. Irgendwann würde er die Welt der Sterblichen verlassen, für ihre Augen unsichtbar umhergehen und Schrecken über seine Feinde bringen.
Aber noch war es nicht soweit, denn er war stark. Er widerstand dem Ring an seiner Hand, war nicht bereit, sich gänzlich zu unterwerfen solange noch ein Funken eigener Wille in ihm glimmte.
Noch besaß er einen Körper und noch konnte jeder in sein Antlitz sehen.
Die wenigsten taten es, denn Arandûr war von der blendenden Schönheit seiner Vorfahren, die sich mit einer unerträglichen Schönheit seines Seins als Nazgûl verbunden hatte.
Hexenkönig nannten ihn seine Diener und seine Feinde und sie zitterten vor ihm. Noch mehr aber hätten sie Furcht empfunden, wenn sie gewusst hätten, wer ihr Herr wirklich war. Doch er verbarg sein wahres Selbst und hielt seine Verbindung zum Herrscher von Mordor geheim.
Lange silberne Haare, von einem Mithril-Diadem gehalten, umspielten Arandûrs Gesicht. Ein roter Schein irrlichterte in seinen grausamen, gnadenlosen Augen und auf seinen schmalen Lippen lag ein Lächeln, das verächtlich und zugleich zufrieden war.
Arandûr, númenórischer Abstammung, so wie die, die er glühend hasste, Ringträger und als König von Angmar bekannt, sah sein Ziel vor Augen: die Herrschaft über den Norden Mittelerdes!
Seine Heere standen bereit. Tausende von Orks aus Gundabad, der gewaltigen Stadt nicht weit südöstlich von Carn Dûm, verwegene Menschen aus den wilden und unerforschten Tälern und Höhen des Nebelgebirges, Werwölfe, Trolle und anderes finsteres Gesindel, von allen befanden sich Abordnungen unter seinen Streitern. Aber auch Menschen aus Rhudaur, einem der drei Königreiche Arnors. Nur wenige Dúnedain lebten dort und es war dem Herrn von Angmar ein Leichtes gewesen, die Fürsten des Landes zu verführen, ihnen Macht und Schätze zu versprechen, sich bei ihnen einzuschmeicheln und sie schließlich zu Sklaven seines Willens zu machen. Sie alle waren bereit zur Eroberung und versessen auf Blut. Sie sollten ihre Gelüste befriedigen.

Arandûr streckte die Arme aus und plötzlich wurde die Dunkelheit noch dunkler und der Wind noch wilder. Mit einer gebieterischen Geste schickte der König von Angmar den Wind nach Arnor. Dort sollte er Eis, Schnee und Kälte bringen und der Bote sein, der eine Warnung in das Land trug.
Als Arandûr die Arme sinken ließ, jagten Wolken über den Himmel, Donner grollte und erschütterte die Festung und ein mächtiger Blitz schoss über den Turm und machte die Nacht zum Tag und brachte Furcht in die Herzen der Bewohner der Festung von Carn Dûm.
Arandûr erwiderte den Gruß der Gewalten, die er entfesselt hatte, mit einem schrillen Schrei, welcher über die Burg getragen wurde und im heulenden Wind verklang. Er war so mächtig, wie noch nie in seinem Leben und er war frei, das zu tun, was ihm beliebte!
Sein Gebieter war schwach und weit fort und ihm fehlte die Macht des Einen. So konnten die Neun sich frei bewegen, bis Sauron wieder erstarkte und sie zurück unter seine Herrschaft zwang.
Bis dies soweit war, gedachte Arandûr seine Freiheit zu genießen. Er hasste den Dunklen Herrscher, unter dessen Bann er stand; schon so lange Zeit, dass es schier unerträglich geworden war.
Wenn Sauron seine Kräfte wieder gewonnen hatte, dann würden die Neun abermals willenlose Schatten in seiner Gewalt sein - seine Augen, seine Ohren, seine Hände und Vollstrecker seines bösen Willens.
Aber noch war Sauron schwach, zu schwach, um die Neun beherrschen zu können.
Diese Ungebundenheit war wie eine winzige Flamme in der Finsternis, denn Arandûrs Seele war frei von der erdrückenden Schwärze, die der Geist seines Herrn verströmte.
Einstmals war dieser Geist freundlich erschienen, und die Hülle, die ihn beherbergte, vertrauenserweckend. Viele Schätze hatte Sauron gegeben, um die Sterblichen zu bezaubern. Schmeichelnd und demütig war seine Rede gewesen und ohne Arg sein Blick, so dass die Verführten ahnunglos in ihr Verderben gegangen waren und auf ewig gefangen.
Ein wenig beneidenswertes Schicksal war es, und auch die große Macht, die den Neun innewohnte, machte es nicht weniger grausam, denn alle, die unter der Herrschaft des Einen standen, waren zwar ohne eigenen Willen, aber sie wussten um ihr Los und verzweifelten.
Arandûr betrachtete den goldenen Ring an seinem Finger. Der Reif war matt geworden und der rote Edelstein in seiner fein ziselierten Fassung glühte nicht mehr. Die Kräfte des Rings waren schwindend gering, aber sie reichten immer noch aus, um Mächten zu gebieten, die kein Sterblicher zu beherrschen vermochte.
Der König ging zurück in seinen Turm.
Wenige Wochen noch und er würde seine Heere nach Arnor führen und die Dúnedain ins Verderben stürzen ...

König Varahir von Cardolan lauschte besorgt den Berichten der Boten, die von den Ostgrenzen seines Reiches gekommen waren, so schnell ihre Pferde sie tragen konnten.
Von Unruhen war die Rede, von Orks, die sich zusammenrotteten und in Scharen an den Grenzen auftauchten, um Angst und Schrecken unter die Menschen zu bringen.
Auch von anderen Übeln wurde berichtet, die noch mehr gefürchtet wurden, als die hässlichen Orks, denn diese waren wenigstens zu bekämpfen. Aber die Schatten in der Nacht, die in die Häuser eindrangen und mordeten, die konnte keiner vernichten.
Und um es noch schlimmer zu machen, war der frühe Winter mit einer solchen Wucht über Arnor hereingebrochen, das viele Lebewesen starben, weil sie erfroren oder verhungerten und von den wilden Wölfen verschlungen wurden, die hungrig aus dem Nebelgebirge kamen.
Manch einer äußerte den Verdacht, dass Angmar daran Schuld war, denn von dort kam nie etwas Gutes. Varahir war mehr als geneigt, diesen Äußerungen zu glauben. Der Herr von Angmar war unberechenbar.
Er hatte den Hexenkönig gesehen, in seine Augen geblickt und seitdem die Furcht vor diesem Wesen nicht mehr verloren. Es war schon lange her, denn Varahir war alt, selbst nach den Maßstäben der Dúnedain, die länger lebten, als die gewöhnlichen Menschen.
Aus Angmar kam nichts Gutes, das stimmte, aber fast sechzig Jahre war aus Angmar auch kein Lebenszeichen mehr gekommen. Immer wieder hatte das Schreckensreich im Norden Krieg in die Länder der Dúnedain gebracht. Aber immer wieder hatten sie gegen den Ansturm bestehen können, weil sie gewandte Krieger waren und weil die Elben ihnen Hilfe leisteten.
Vor gut einem Menschenalter hatten die Angriffe aus Angmar aufgehört.
Viele hofften damals und auch jetzt noch, der Fürst des Landes sei in die Schatten zurückgekehrt, aus denen er gekommen war.
Auch König Varahir hoffte aus tiefstem Herzen, dass die Unruhen an seinen Grenzen keinen anderen Grund hatten, als den schlimmen Winter, der die Orks und die anderen Bewohner des Nebelgebirges aus ihren Verstecken hervortrieb ...

Bardour, einer der geschicktesten und tapfersten Fährtensucher und Anführer der Boten aus dem Grenzgebiet, hatte dem König Bericht erstattet und stand nun vor Varahir in der düsteren Halle, die als Versammlungsort und Thronsaal diente.
Felle und gewebte Tücher bedeckten den steinernen Boden. Sie waren nicht nur Zierde, sondern hielten die Kälte, die aus dem Boden kroch ein wenig ab. Die Wände der Halle waren mit wunderschönen Ornamenten und Bildern bemalt, die Szenen aus der Vergangenheit der Dúnedain zeigten. Oftmals regten die Bilder die Sangesfreudigen unter den Dúnedain von Cardolan an, ein Lied über Elendils Taten und die seiner Söhne anzustimmen; die Schöpfer von Arnor und Gondor.
Aber die Gäste, die sonst bei König Varahir weilten, waren seit Wochen ausgeblieben. Schuld war der bittere Winter, der Schneemassen und Frost aus der nordöstlichen Ebene herantrug und die Menschen zwang in ihren Häusern zu bleiben und sich zu verkriechen wie die wilden Tiere.
Kaum einer wagte sich hinaus, wenn er nicht musste und diejenigen, die für den Winter gut vorgesorgt hatten, waren nur zu beneiden. Viele jedoch hatten sich nicht vorbereiten können.
Unter ihnen waren die zahlreichen Krieger, die nicht die Zeit und das Wissen eines Bauern oder Jägers besaßen. Sie lebten von den Erträgen der Ackerbaukundigen und Waidmänner, für deren Schutz sie sorgten, indem sie über Cardolan wachten.
Jahraus und jahrein war diese Gemeinschaft keinen Herausforderungen unterworfen worden. Manch einer meinte, es würde ewig so weiter gehen.
Aber dann kam der Winter, viel zu früh und viel zu heftig in diesem Jahr und mit ihm kamen die Probleme.
Die Nahrung wurde allmählich knapp. Das allein hätten die riesigen Kornkammern des Königs auffangen können, aber viele Menschen waren gar nicht in der Lage, aus den entlegenen Gebieten in die Hauptstadt zu kommen, um sich Nahrung zu holen. Die Straßen waren unpassierbar für Gespanne, und auch Pferde und Ochsen kamen nur mit sehr großer Mühe voran. Einzig den wandererfahrenen Kriegern der Dúnedain setzte der Schnee nicht so zu.
Mit dem Schnee kamen die Orks und Wölfe und der Schrecken über die Menschen in den Grenzgebieten.

König Varahir zog das dicke Wolfsfell eng um seine knochigen Schultern. Man mochte Dutzende Feuer in seiner Thronhalle entzünden - sie kamen gegen die eisige Kälte nicht an, die überall hinkroch. Kein noch so dicker Pelz war auf Dauer ausreichend.
Varahir sah seinen Boten nachdenklich an. Der Schnee auf Baradours Gewändern schmolz nur langsam und der Mann verströmte einen eisigen Hauch, den sogar Varahir auf seinem Thron spürte.
Baradour war groß und kräftig, ein vergnügter Mann, dessen Mund immer zu einem Lächeln bereit war. Jetzt erschien seine Miene düster und Varahir glaubte, Resignation auf seinen Zügen zu erkennen.
Vielen Dúnedain aus Cardolan ging es nicht anders. Der Winter war etwas, dass sie nicht zu bekämpfen vermochten! In jede Schlacht hätten sie sich mit Begeisterung geworfen, denn dort war der Feind greifbar und mit dem Schwert und dem Bogen zu vernichten. Aber Schnee und Eis konnte kein Sterblicher aufhalten.
Dennoch gab es eine Aufgabe für die Dúnedain ...
“Baradour, ich danke Euch für den Bericht“, sagte König Varahir nach einer Weile. „Ich möchte, dass Ihr Euch ausruht, denn ich fürchte, dass jetzt jeder Kämpfer aus Cardolan gebraucht wird.“
“Mein König!“ Baradour verneigte sich ehrerbietig vor seinem Herrn. Er verbarg seine Sorgen um den gebrechlichen Fürsten von Cardolan.
Varahir war alt und ausgezehrt.
Sein einstmals stattlicher Körper war nun gebeugt von der Last der Jahre und seine langen, schwarzen Haare grau geworden. Nur in seinen funkelnden, dunklen Augen sah man den Schein des Feuers, das ihn in seiner Jugend erfüllt hatte.
Aufregungen waren jetzt nichts mehr für ihn. Da er ein guter König war, liebten ihn seine Untertanen. Sie wollten ihn noch lange auf dem Thron von Cardolan wissen, denn er war besonnen und klug. Und er hatte keine Söhne. Wenn der Thron Cardolans verwaiste, bevor sich ein würdiger Nachfolger gefunden hatte, dann war es für Arthedain ein Leichtes die Oberhand zu gewinnen. Vielen Dúnedain Cardolans widerstrebte dieser Gedanke, denn sie waren der Ansicht, dass Arthedain keinen größeren Anspruch auf Arnor hatte, als Cardolan.
Aber wer konnte ahnen, was die Zukunft brachte? Sie bewegte sich unentwegt und kein Sterblicher vermochte sie vorherzusagen.
Als Baradour wie geheißen den Saal verlassen hatte, befahl Varahir seinen Herold zu sich, um einen Rat einberufen zu lassen.

Varahir erhob sich langsam und schwerfällig von seinem Thron. Er schaute die Männer an, die sich in der großen Halle versammelt hatten, auf seinen Ruf hin. Viele vertraute Gesichter sah er und sein Herz wurde etwas leichter, denn er wusste, dass die Dúnedain zwar nur wenige waren, aber dass das Blut ihrer ruhmreichen Vorfahren noch immer ungetrübt ihn ihren Adern floss.
Die Feuer, die der Halle wenigstens etwas Wärme spenden sollten, warfen Schatten auf die Gestalten in ihren groben Gewändern, so dass es schien, als seien sie Gefährten aus längst vergessenen Zeiten, so wie sie in den Liedern besungen wurden, die die Dúnedain an ruhigen Tagen in ihren Hallen vortrugen.
Alle Männer wussten um die schwierige Situation und alle erwarteten eine Entscheidung von ihrem König.
“Mein Fürst“, begann Cevaron, ein großer Kämpfer unter Varahirs Getreuen, „wir müssen etwas gegen die Unruhestifter an unseren Grenzen unternehmen. Es geht nicht an, dass Eure Untertanen dort in Schrecken leben sollen. Stellt eine Streitmacht auf und schickt sie aus, die Orks zu vernichten.“
Beifälliges Gemurmel erhob sich unter den Männern. Sie alle waren bereit, sich für den Frieden an der Grenze und die Menschen dort einzusetzen, die hauptsächlich Bauern und Handwerker waren und nur wenig oder keine Erfahrung in kriegerischen Auseinandersetzungen hatten.
“Eure Bereitschaft in den Kampf zu ziehen ehrt Euch, meine Getreuen“, erwiderte Varahir. „Auch ich sorge mich um die Bewohner der Grenzlande, aber eine innere Stimme warnt mich davor, überstürzt zu handeln. Der Winter und die Unruhen scheinen mir nicht die einzigen Bedrohungen zu bleiben. Etwas anderes, schlimmeres ist im Entstehen. Ich kann es nur nicht benennen. Zudem Sorgen mich die Nachrichten aus Rhudaur. Vielleicht sind die Berichte wahr, die davon künden, dass die Fürsten des Landes vor Jahren vom Dunklen aus Angmar verführt wurden ...“
König Varahir seufzte. Sah er vielleicht drohende Schatten, wo keine waren?
Aber es galt Vieles zu bedenken in unsicheren Zeiten.
Die Männer nahmen seine Wort nachdenklich auf. Auch mancher unter ihnen glaubte, in Schnee und Eis nur Vorboten eines größeren Übels zu erkennen.
Oronir, Varahirs Heermeister, wiegte den Kopf, dann sagte er: „Ihr habt recht, mein König. Düstere Zeiten ziehen für uns auf! Sie beginnen schon jetzt - an unseren Grenzen, dessen bin ich überzeugt. Sollten wir der Bedrohung nicht schon dann gegenübertreten, wenn sie erst am Horizont sichtbar ist? ...
Lasst einen Teil Krieger aus Cardolan zusammenziehen und in die Grenzgebiete schicken, damit sie die Ordnung wieder herzustellen versuchen.“

Bis spät in die Nacht redeten die Männer in Varahirs Halle. Schließlich befanden sie Oronirs Vorschlag für gut. Cevaron wurde ausgewählt, die Krieger aus Cardolan zu führen. Am frühen Morgen machten sich Boten auf den Weg, um die Dúnedain-Krieger, die sich nicht an Varahirs Hof aufhielten, in die Hauptstadt zu holen. Binnen einer Woche waren die Krieger ausgesucht, die in den Osten gehen sollten und der Kriegstrupp stand zum Abmarsch bereit.

König Varahir betrachtete den Auszug seiner Männer mit Sorge. Nur ungern hatte er ihrem Drängen nachgegeben, sie in den Osten gehen zu lassen. Ihr Schicksal war ungewiss, denn das Wetter war noch schlechter geworden und die Grenzen immer unsicherer. Zu allem Überfluss war er dadurch vieler seiner Krieger beraubt! Seine Heere waren zerrissen. Von düsteren Vorahnungen heimgesucht sah König Varahir in die Zukunft.

 

Úzbrúk fluchte und kreischte, um seine Männer anzutreiben, die einen schweren Proviantkarren über einen Hügel schaffen mussten. Die Orks zeterten und murrten, als sie den Wagen ziehend und schiebend auf die kleine Anhöhe brachten. Normalerweise wäre ein solcher Wagen für weniger als die Hälfte Orks keine Mühe gewesen, aber jetzt lag der Schnee fast hüfthoch, mit einer Oberfläche hart und verkrustet. Sehr zum Leidwesen aller aber nicht hart genug, um einen Ork, geschweige denn einen schweren Wagen zu tragen.
So mussten sie sich durch den Schnee kämpfen, dessen gebrochene Kruste ihnen in die Beine und Füße biss.
Der Ork-Häuptling hatte seine Leute von der Waldstraße weg ins Gelände geführt, um einen Lagerplatz aufzusuchen. Seine Späher hatten ihm von einer Senke im Wald berichtet, die geeignet war.
Úzbrúk wollte längere Zeit in diesem Gebiet bleiben, es war zwar unwegsam, aber es lebten viele Menschen in kleinen Dörfern im Wald verteilt - auf Lichtungen, die sie selbst gerodet und der Natur abgetrotzt hatten. Der Ork plante, von ihrem zukünftigen Lager aus die hilflosen Menschen zu überfallen. Dabei erfüllten er und seine Männer nicht nur ihren Auftrag, sondern konnten sich an den Gütern der Überfallenen schadlos halten.
Zuvor jedoch musste das Lager erst einmal aufgeschlagen sein.
Úzbrúk ließ nicht locker. Als Schreien und Schimpfen nichts mehr nützte, zog er eine Peitsche aus seinem Gürtel und trieb die ächzenden Orks damit an.
In diesem Moment hasste der Ork-Häuptling alles!
Den Schnee, das Eis, seine murrenden Untergebenen, seinen Dienst für Angmar ... seinen Herrn.
In Eis und Schnee schickte er sie los, um Dörfer zu überfallen und Unruhe zu verbreiten. Und damit nicht genug: Werwölfe begleiteten die Orkhorde. Wer unachtsam war, fand sich eines Nachts im Rachen eines solchen Ungetüms wieder!
Der große Ork schnaubte empört. Sollte sein Herr doch die Menschen aus dem Nebelgebirge schicken, um ihresgleichen zu quälen!
Úzbrúk schaute sich verstohlen um. Er konnte nicht einmal sicher sein, dass er hier, zwischen der Grenze Cardolans und Rhudaurs - über einhundertfünfzig Meilen von Angmar entfernt - frei denken durfte.
Sein Herr kannte jeden Gedanken seiner Untertanen!
Úzbrúk erschauerte, wenn er sich das Bild der hochgewachsenen Gestalt ins Gedächtnis rief, auf die er dann und wann einen Blick erhascht hatte. Sein Gebieter war kalt wie der wandelnde Tod und seine roten Augen ließen diejenigen, die er ansah in namenlosem Grauen erstarren.
Verflucht sollten sie alle sein, die Menschen und Elben, die nichts anderes zu tun hatten, als Krieg gegeneinander zu führen! Und wer musste es letztlich ausbaden?
Úzbrúk haderte noch eine Weile mit seinem Schicksal, aber dann nahm ihn das Aufschlagen des Lagers in Anspruch, denn endlich ging es wieder bergab, in eine versteckte Senke hinein, die für ein Quartier bestens geeignet war.
Úzbrúk sah sich zufrieden um. Die Senke war perfekt. Sie maß ungefähr zweihundert Fuß im Durchmesser, war fast kreisrund und an den Hängen mit Kiefern bestanden. Einige sehr große Bäume befanden sich in der Mitte der Senke. Sie besaßen ausladende Kronen und schützten vor Schnee; sie ermöglichten den Orks gleichzeitig, Feuer zu entzünden, da sie den Rauch auffingen und so vor möglichen Entdeckungen Abhilfe schafften.
Der Ork-Häuptling brüllte Befehle und trieb hier und da einen säumigen Krieger an. Nach zwei Stunden war das Lager bereitet. Die Orks verteilten sich an kleine Lagerfeuer, über denen sie Fleisch brieten; vieles aus den Häusern unglücklicher Menschen geraubt, die es nie mehr brauchen würden.
Ruhe kehrte ein.
Úzbrúk schickte einige Wachen an die Ränder der Senke.
Er ermahnte sie nicht sonderlich zur Vorsicht, denn in der Nähe waren keine menschlichen Siedlungen und der Schnee hielt etwaige Wanderer sicher davon ab, sich von den Wegen zu entfernen, die schwer genug zu passieren waren.
Zudem hatte der ununterbrochene Schneefall die Spuren verwischt, die zur Senke führten. Die Orks konnten sich sicher fühlen.
Was die Wölfe anging, stand auf einem anderen Blatt. Aber in ihrem Fall machte Úzbrúk sich ohnehin keine Gedanken. Orkwächter schreckten sie nicht ab; einzig die Lagerfeuer mieden sie. Sollte doch jeder Ork auf sich selbst aufpassen!
Als die Dunkelheit hereinbrach, begann sich Stille über dem Lager auszubreiten. Selbst Orks merkte man irgendwann die Erschöpfung an, und diese Gruppe hatte sich ganz besonders schwer durch die verschneite Landschaft gequält. Den Schlaf hießen sie alle willkommen.
Das Verschwinden der Orkwächter bemerkte deshalb keiner.

Cevaron spürte Zorn in sich. Schon seit Tagen wühlte er in seiner Brust und erzeugte eine Spannung, die sich früher oder später entladen musste. Hier nun war die Gelegenheit. Auch wenn es ihm keine Freude mehr bereitete, Orkblut an seinem Schwert zu sehen ... Die Wut in ihm würde wenigstens kurzzeitig abflauen.
Der Anführer der Dúnedain gab ein Handzeichen und einige Krieger machten sich auf, um die Orkwachen an den Hängen der Senke zu beseitigen.
Cevarons Späher waren vor einigen Stunden auf die Orks aufmerksam geworden. Die Dúnedain hatten sich auf die Spur eines Dutzends großer Wölfe gesetzt und versucht, die Tiere zu erlegen, die unzweifelhaft zu den mordenden Horden gehörten, die das Waldgebiet unsicher machten. Dabei waren sie auf den Tross Orks gestoßen, der in der Senke sein Lager aufschlug.
Cevaron hatte sich mit seinen Männern ein Stück weit zurückgezogen. Er nahm an, dass die Orks sich ihrer näheren Umgebung nicht widmen würden - andernfalls wären sie auf die Spuren der Dúnedain gestoßen.
Der Krieger hatte recht behalten und sie waren unbemerkt geblieben.
Nun, im Schutze der Nacht und des stetig fallenden Schnees, war die Gelegenheit, eine weitere Horde Plagegeister unschädlich zu machen.
Ein Käuzchenruf signalisierte den Kriegern, dass die Wachen nicht mehr auf ihren Posten standen.
Cevaron gab den leisen Befehl zum Vormarsch. Die Dúnedain bewegten sich sehr vorsichtig über den Schnee. Die Geräusche, die sie verursachten, konnte nur ein geübtes oder wachsames Ohr vernehmen. Es dauerte lange, bis die Krieger die Senke erreichten.
Das Lager bot einen friedlichen Anblick - wenn ein Orklager das überhaupt tun konnte.
Zufrieden sahen die Dúnedain, dass sie leichtes Spiel haben würden. Die Orks hielten sich an den Feuern auf, die dicht beieinander unter den gewaltigen Kiefern aufgeschichtet waren. Einige trugen ihre Waffen bei sich; die meisten jedoch waren unbewaffnet.
Cevaron wartete, bis sich seine Männer in Position befanden, dann gab er das Signal zum Angriff.

Úzbrúk schreckte aus dem Schlaf auf, der ihn eingelullt hatte. Von Plünderungen und Morden hatte er geträumt und fetter Beute. Seltsamerweise schien das Kriegsgeschrei aus seinen Träumen seine Ohren auch beim Erwachen zu erfreuen.
Es dauerte einige Augeblicke, bis der Ork bemerkte, was um ihn herum vorging. Er sah das Lager in einem heillosen Durcheinander versinken.
Der gelb-rote Schein der Feuer, erhellte die Senke nur unzureichend und zunächst glaubte Úzbrúk an einen Angriff der Wölfe. Aber als er die großen Schatten zwischen den kleineren Gestalten der Orks umherhuschen sah, lange Schwerter schwingend, wusste er, dass die Dúnedain sie gefunden hatten.
Der Ork-Häuptling versuchte erst gar nicht, Befehle zu geben; seine Leute würden ihn nicht hören. Statt dessen griff er nach seinem Schwert und machte sich verteidigungsbereit.
Wenige Augenblicke später sah er sich zwei Menschen gegenüber. Er konnte ihre Gesichter nicht erkennen, denn sie waren gegen die bittere Kälte mit Schals vermummt und die kräftigen Körper steckten in Fellen, so dass die Männer fast unförmig wirkten.
Aber all das hinderte sie nicht am Kämpfen.
Úzbrúk fiel unter einem geschickt geführten Schwertstreich. Er starb so schnell, dass er keine Schmerzen verspüren konnte, denn die Dúnedain waren gnädig mit ihren Feinden; auch wenn die Orks es nicht waren.

Cevaron säuberte sein Schwert. Er wurde es allmählich Leid, durch die verschneiten Grenzgebiete zu streifen und Orkbanden aufzubringen. Seine Männer wurden müde und eine stille Verzweiflung machte sich unter ihnen bemerkbar. Die Vernichtung einer Orkhorde schien zwei weitere hervorzubringen. Es war ein fast aussichtsloses Unterfangen der Orkplage Herr zu werden.
Schweren Herzens hatten die Dúnedain sich für das Letztere entschieden.
Sie hatten so viele zerstörte Dörfer gesehen, dass sie jedes unberührte am liebsten mit einer Kriegertruppe geschützt hätten. Aber sie waren einfach zu wenige. Und je weiter sie sich auseinander zogen, desto eher kamen auch sie in Gefahr, denn die kleinen Dörfer waren zahlreich und weit verstreut.
Deshalb machten sie jetzt seit Wochen in größeren Gruppen Jagd auf die Orks und die Wölfe, die sich überall herumtrieben - und es schien nie ein Ende zu nehmen.
Cevaron rief seine Männer zusammen. Erfreut stellte er fest, dass sie weitgehend unverletzt geblieben waren. Die Orks waren einfach zu überrascht gewesen, um sich wirkungsvoll zu wehren.
Cevaron befahl, das Lager zu durchsuchen. Wenn sie Glück hatten, dann fanden sich brauchbare Waffen und Proviant, mit dem sich einige Tage auskommen ließ.
Die Dúnedain hofften inständig, dass sie bald wieder an den Hof des Königs zurückkehren konnten.
Irgendwann musste der Strom Orks aus dem Nebelgebirge doch enden! Oder das Wetter wurde besser und die Orks kehrten zurück in ihre Unterschlüpfe im Nebelgebirge ...

Der König von Angmar stand wieder auf der Terrasse seines Turmes. Und wiederum hielt er Ausschau. Seine Augen richteten sich auf die zwei verbliebenen Königreiche Arnors. Späher hatten Arandûr berichtet, wie es um die Fürstentümer bestellt war, die unter dem Winter litten, der viel zu früh über sie gekommen war und die den Horden der Orks und Werwölfe ausgesetzt waren.
Alles entwickelte sich so, wie Arandûr es geplant hatte.

Nun war es Zeit, dem Winter Einhalt zu gebieten und das Heer in Marsch zu setzen. Dann konnte er fast mühelos über die geschwächten Königreiche herfallen und ihnen ein Ende bereiten ...

Als urplötzlich Tauwetter einsetzte, war die Erleichterung groß. Die Hungernden konnten wieder auf die Jagd gehen und auch die Kornkammern wurden zu rettenden Orten. Die Menschen in Arnor schöpften neue Hoffnung. Man scherzte und lachte über den Winter, der wenige Tage zuvor noch mit eisigen Klauen den Tod über viele gebracht hatte.
Die Uralten erinnerten sich, von ihren Großvätern Geschichten über vergangene Winter gehört zu haben, die schlimmer gewesen waren, als das Wetter, das jetzt über die Menschen hereingebrochen war. Nun sei Ruhe, das hoffte jeder und beteuerte es lautstark.
Insgeheim jedoch war die Furcht noch lebendig.
Es gab kaum eine Familie, die nicht einen Toten zu beklagen hatte. Das Vieh war in ganzen Herden dem Wetter und den wilden Tieren zum Opfer gefallen. Die Wintersaaten hatten Schaden genommen und manch einer war ohne Behausung.
Aber das Leben ging weiter. Das Schicksal konnte manchmal grausam sein, aber oft war es auch gütig. Und dieses gütige Geschick flehten viele an.

Die Dúnedain an der Ostgrenze waren nicht minder erleichtert, als der Winter sich zurückzuziehen begann. Es wurde merklich wärmer und die Zahl der Orkhorden mit jedem Tag geringer.
Schließlich fanden die Krieger keine Feinde mehr, die zu bekämpfen waren.
Sie blieben noch eine Weile und hielten Ausschau, aber als kein Ork, kein Wolf und auch kein anderes feindliches Wesen ihren Weg kreuzte, beschloss Cevaron, die Krieger zu sammeln und an den Hof König Varahirs zurückzukehren.
Es dauerte seine Zeit, bis die Dúnedain sich an den verabredeten Treffpunkten einfanden, denn die Gruppen waren weit verstreut gewesen.
Die Krieger hatten ettliche Verluste zu beklagen, aber das ließ sich nun einmal nicht ändern. Jeden Kämpfer konnte solch ein Schicksal ereilen und jeder Krieger wusste und akzeptierte es.
Cevaron führte seine verbliebenen Männer am Fluss Mitheitel entlang, um die Brücke der Großen Oststraße zu erreichen. Sie kamen nur langsam voran, denn viele Pferde hatten die Strapazen der vergangenen Wochen nicht überstanden.

Zögernd betrat Grotraug, oberster Heermeister des Königs von Angmar, die Halle, die seinem Gebieter als Thronsaal diente.
Grotraug war ein stämmiger Mensch aus dem Nebelgebirge. Die Bewohner dieser unwirtlichen Höhen und Täler waren zäh, genügsam und kampferprobt und ausdauernde Krieger. Sie standen freiwillig in den Diensten des Hexenkönigs, denn sie hassten die Dúnedain, die sie von oben herab behandelten und so den Stolz der Wilden Menschen, als die sie allerorts bekannt waren, verletzten.
Grotraug trug grobe Kleidung in Grau und Braun, die mit Pelzfutter verstärkt war und so genügend Wärme spendete. Er war mit einem Ger und einem langen Schwert bewaffnet - beide Waffen konnte er vorzüglich handhaben.
Er ging weiter in die nur durch wenige Fackeln beleuchtete Halle, die kalt und düster war. Kein Schmuck verzierte sie, keine Wandteppiche, keine Felle; nur nackter, schwarzer Stein war zu erblicken.
Mächtige Säulen stützten eine hochgewölbte Decke, die mit Querbalken aus dunklem Holz verstärkt wurde.
Am Ende der Halle befand sich ein erhöhtes Podest, auf dem ein großer, steinerner Thron stand. Geschmückt war er mit allerlei Geschmeide und Gemmen, die das Licht der Fackeln einfingen und in ein düsteres Funkeln verwandelten. Aber sie verblassten gegen das rote Glühen, das von den Augen des Hexenkönigs von Angmar ausging.
Arandûr saß auf seinem Thron und erwartete den Bericht seines Heermeisters.
Grotraug warf sich vor seinem Herrn zu Boden. Er konnte den Blick aus den dämonischen Augen nicht ertragen - selbst jetzt, als er nicht mehr in sie schauen musste, fühlte er sich von Kälte durchbohrt.
“Mein Fürst! Das Heer ist bereit“, brachte er hervor.
Arandûr lächelte.
Auf diesen Moment hatte er lange gewartet. Endlich konnte er seine Macht entfesseln und Schrecken über Arnor bringen!

Der König von Angmar ritt an der Spitze seines Heeres fort von Carn Dûm, auf die weite Ebene hinaus, die sich bis an die nordöstliche Grenze Cardolans und darüber hinaus erstreckte.
Noch war der Schnee nicht gänzlich geschmolzen; einem Pferd bedeckte er die Fessel. Aber er taute immerzu.
Arandûr beachtete es nicht.
Ihm war gleichgültig, dass seine Krieger mit dem aufgeweichten Boden, dem rutschigen Schnee und dem Matsch ebenso zu kämpfen hatten, wie seine Feinde.
Das Heer kam so immer noch schneller voran, als im metertiefen Schnee der vergangenen Wochen.
Ein wenig Zeit würden die Plünderungen und Verwüstungen der Dörfer und Siedlungen auf ihrem Weg beanspruchen. Aber das nahm Arandûr in Kauf. Nichts sollte zurückbleiben von den Dúnedain und den Menschen ihrer Königreiche.
Und der Winter sollte ihr gemeinsames Grabtuch werden, denn der König von Angmar gedachte, ihn nach Arnor zurückzubringen.
Eine große Wolke folgte dem Heer auf dem Fuße. Sie war fast weiß und türmte sich in den Himmel. In Cardolan würden dichte Flocken auf die Erde zu fallen beginnen und das Land wiederum in einen eisigen Griff zwingen ...

Mit Entsetzen und stiller Verzweiflung erkannte Varahir, dass er die Unruhen an seinen Ostgrenzen richtig eingeschätzt hatte.
Nur der Ablenkung hatten sie gedient und dazu, seine Streitmacht zu schwächen. Viele gute Krieger waren von seiner Halle fort und in den Osten gegangen, um die Orks und anderen Geschöpfe zu jagen, die dort wüteten.
Und nun kam ein Heer von Nordosten, so groß wie es Arnor seit vielen Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte, und es kam aus Angmar. Sein Ziel war der Amon Sûl, so hatten aufgeregte Späher berichtet, und Varahir wusste genau, was den Herrn von Angmar bewog, sich dorthin zu wenden.
König Varahir zweifelte nicht daran, dass der Hexenkönig schon lange geplant hatte Arnor zu überrennen und die Dúnedain zu vernichten.
Langlebig war der Schatten aus Angmar und geduldig, hatte seine Feinde in Sicherheit gewiegt und zugeschlagen, als sich die Fürsten von Arnor nur noch um ihre eigenen Streitereien kümmerten. Rhudaur hatte er sich schon Untertan gemacht, indem er die Fürsten des Reiches auf seine Seite gezogen hatte. Der Lohn für ihre Hilfe war zweifelhaft, aber dessen waren sie sich nicht bewusst.
Und nun sollte Cardolan überrannt werden!

In seiner Not schickte Varahir Boten nach Fornost, die König Arveleg von Arthedain über das drohende Unheil informieren und seinem Rivalen um die Herrschaft über Arnor ein Bündnis vorschlagen sollten. Denn nur gemeinsam konnten Cardolan und Arthedain gegen die Horden aus Angmar bestehen, so viel war gewiss. Zudem war Varahirs Kampfkraft geschwächt, da viele fähige Krieger an den Ostgrenzen weilten.
Varahir fürchtete, dass sie dort in Kämpfe mit den Menschen aus Rhudaur verwickelt werden würden, denn es war sehr wahrscheinlich, dass diese zu der Streitmacht aus Angmar stoßen wollten. Auch war anzunehmen, dass seine Krieger nicht schnell genug zurückkehren konnten, und wenn doch, dann widerstrebte es Varahir, seine von den Scharmützeln erschöpften Krieger in einen weiteren Kampf zu schicken.
König Varahir hoffte inbrünstig, dass sich Arveleg zu einem Bündnis bereit erklären würde - und dass er rechtzeitig kam.

König Arveleg von Arthedain betrachtete den Turm auf dem Amon Sûl.
Ein Zeichen der Wachsamkeit und des Glanzes, den die Dúnedain einst nach Mittelerde gebracht hatten. Vieles von diesem Glanz war verblasst, denn die Erben der Númenórer aus Westernis wurden in Arnor weniger und kraftloser.
Die Dúnedain aus Gondor gar vermischten sich schon seit Jahrhunderten mit den gewöhnlichen Menschen. Das ließ sie überleben, aber machte die reine Linie zunichte.
Jedoch erschien es Arveleg manchmal mehr als wünschenswert, auch den Dúnedain Arnors neues Blut hinzuzufügen. Aber statt in die Zukunft zu sehen, bekämpften sie sich lieber und stritten um die Herrschaft über ein Land, das im Niedergang begriffen war.
Und sie kämpften um den Amon Sûl, um das, was der Turm auf dem Hügel seit Jahrhunderten in seinen starken Mauern barg.
Keines der drei Königreiche hatte bis jetzt die unumschränkte Herrschaft über die Wetterspitze errungen, obwohl das Gebiet zu Arthedain gehörte.
So wie es aussah, wurde ihnen jetzt eine Entscheidung von Außen aufgezwungen.

Arveleg wandte sich an seinen Verwandten Varahir.
Lange Jahre waren sie Rivalen gewesen und nun brachte die Bedrohung aus Angmar sie zusammen und versöhnte sie. Arveleg war es zufrieden. Insgeheim hatte er sich über die Streitereien zwischen den drei Reichen gegrämt, aber sein Stolz hatte ihm ein Einlenken verboten. Er vermutete, dass es auch Varahir schwer gefallen war, zu streiten.
“Varahir, mein Verwandter und Freund“, sagte Arveleg. „Lange Zeit waren wir getrennt im Streit. Nun sind wir zusammen in der Not. Ich danke dem gütigen Schicksal dafür, aber ich verfluche das unbarmherzige Schicksal, dass uns keine besseren Zeiten für unsere Versöhnung zugebilligt hat.“
Varahir nickte stumm. Fest sah er dem Mann neben sich in die Augen.
Arveleg stand in der Blüte seiner Jahre. Er war hochgewachsen und kräftig. Sein schmales Gesicht wurde von dunklen Haaren eingerahmt. Er trug ein langes Kettenhemd und darüber einen schlichten Brustpanzer.
Vor wenigen Tagen war das Heer aus Arthedain eingetroffen, angeführt von König Arveleg, der den Ruf aus Cardolan erhört hatte. Varahir hatte ihn mit offenen Armen empfangen und willkommen geheißen. Die beiden Könige hatten ein ernstes und aufrichtiges Gespräch miteinander geführt und sich versöhnt.
Nun standen sie mit ihren vereinten Heeren an der Wetterspitze bereit, um sich der Bedrohung aus Angmar zu stellen.
Arveleg fuhr fort: „Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Du weißt, was den Bösen aus Angmar an den Amon Sûl verschlägt. Wir sollten das Kleinod in Sicherheit bringen, solange noch Zeit dafür ist. Ich bitte dich, mir zu erlauben es nach Fornost schaffen zu lassen. Dort ist es für’s erste vor den Klauen unseres Feindes geschützt.“
“Du sprichst recht, mein Verwandter!“ erwiderte König Varahir. „Deine Worte sind weise und sie finden meine Zustimmung. Vergessen sind die Streitereien um den kostbaren Besitz, den der Turm birgt. Lass den Schatz von einem geeigneten Boten in deine Hauptstadt schaffen!“
Arveleg rief einen Krieger heran.
“Hole Nardil, Schwertmann“, befahl er und als sein treuer Heermeister und langjähriger Freund vor ihm stand, umarmte er ihn.
“Nardil, ich habe eine Bitte an dich“, begann König Arveleg zögernd, denn er wusste wohl, dass er seinem Freund etwas abverlangte, dass dieser nur widerwillig zu tun bereit sein würde.
“Ich möchte, dass du dich nach Fornost zurückziehst ...“, begann er.
“Nein! Hör mich an, bevor du widersprichst“, sagte er schnell, als Nardil zu einer Erwiderung ansetzte. „Es ist eine sehr wichtige Aufgabe, die ich dir anvertrauen will. Ich weiß, dass du der richtige Mann bist, sie auszuführen. Nimm den Schatz aus dem Turm und bring ihn in Sicherheit. Reite nach Fornost, so schnell dein Pferd dich tragen kann. Nimm ein paar zuverlässige und noch nicht erschöpfte Krieger mit dir. Auch König Varahir wird dir Kämpfer an die Seite stellen. Sie alle sollen dich mit ihren Leben beschützen! Dies ist der Wille Varahirs und Arvelegs, die sich versöhnt haben - und ein Befehl!“
Und so geschah es.
Nardil, des Königs treuer Heermeister, fügte sich dem Befehl.
Er wäre lieber an der Seite seines Fürsten geblieben, um für ihn zu kämpfen und auch zu sterben, wenn es das Schicksal so bestimmte. Aber der Schatz des Amon Sûl war wichtiger als selbst das Leben eines Herrschers.

Weiß-graue Wolken zogen drohend hinter dem Heer aus Angmar auf.
König Varahir schien es, als habe selbst das Wetter sich gegen die Dúnedain verschworen. Unzweifelhaft brachten die Wolken Schnee mit sich, um die Menschen erneut leiden zu lassen.
Die vereinigten Heere der Dúnedain aus Cardolan und Arthedain standen bereit und harrten aus, um den Feind aus Angmar den ersten Schritt tun zu lassen.
Es war merkwürdig still unter den Kriegern. Einzig das vereinzelte Klirren von Waffen und ein stampfendes oder schnaubendes Pferd verursachten Geräusche. Es war, als warte ein Geisterheer auf einen letzten Kampf, um dann in die Verdammnis zu gehen.
Varahir fröstelte es und das lag nicht an der Kälte, die wieder schlimmer wurde. Er war viel zu alt für einen solchen Feldzug. Aber er wollte an der Spitze seiner Männer stehen und wenn es das Letzte war, was er tat, dann war es gut.
Er hatte viele Kämpfe bestanden; immer an vorderster Front und mit unerschütterlichem Mut. Doch jetzt war sein Kettenhemd schwer geworden und seine Hände zitterten. Nur kraftlos würde er sein Schwert führen können. Todesahnungen überkamen Varahir - dennoch war er ruhig und gelassen.

Arandûr beobachtete befriedigt, wie das feindliche Heer ausharrte. Die Fürsten der zwei Reiche hatten ihre Streitigkeiten also beigelegt. Er sah die Fahnen Cardolans und Arthedains vereint.
Insgeheim hatte er damit gerechnet. Aber das würde ihnen nichts mehr nützen. Sie kamen zusammen zu ihm und er konnte sie beide schlagen. Eine große Schlacht würde die Entscheidung bringen, schnell und unabwendbar.
Cardolan war schon jetzt ein gezeichnetes Land, nicht anders würde es Arthedain ergehen!

Sehnsüchtig erinnerte sich Arveleg in der kurzen Zeit, bevor die Schlacht begann, an das Reich, das Arnor in seinen Anfängen gewesen war, und von dem die Lieder der Menschen und Elben berichteten ...

Als Schiffbrüchiger war Elendil nach Mittelerde gekommen und als König eines gewaltigen Reiches durfte er zu seinen Ahnen eingehen. Prachtvoll und mächtig war Arnor zu Elendils Zeiten und auch lange Jahre danach.
Der erste König regierte es weise und mit starker Hand; seine Getreuen aus Númenor zur Seite. Auch das Oberhaupt über Gondor war er gewesen, welches seine Söhne Isildur und Anárion im Süden gegründet hatten. Elendil machte Annúminas zur Hauptstadt Arnors.
Legendär war seine Freundschaft zu Gil-Galad dem Fürsten der Noldor gewesen.
Aber bald schon hatte der Stern der Dúnedain zu sinken begonnen. Der Große Krieg gegen Sauron kostete nicht nur Elendil, Isildur und Anárion das Leben, sondern auch viele Dúnedain, so dass ihre Zahl in Arnor schwand. Annúminas verfiel und die nachfolgenden Könige wählten Fornost als ihren Sitz.
Vor nunmehr fünfhundert Jahren - nach dem Tode Earendurs, des zehnten Königs - kam unter dessen Söhnen ein Streit um die Thronfolge auf. Arnor zerfiel in die drei Reiche Arthedain, das für die reine Linie stand, Cardolan und Rhudaur ...

Sie alle begehrten seit Jahrhunderten die Herrschaft über den Amon Sûl, eines kostbaren Schatzes wegen, der im Turm auf der Wetterspitze verborgen war. Ein Palantír, einer jener schwarzen Steine unterschiedlicher Größe, die demjenigen, der hineinblickte, vieles offenbarten, was in fernen Landen geschah. Auch dienten sie der Kommunikation, wenn sie miteinander in Verbindung traten.
Sieben Palantíri gab es auf Mittelerde. Sie waren mit Elendil aus dem fernen Númenor gekommen, eine Erinnerung an die verlorene Heimat der Menschen aus dem Westen.
Sie waren begehrter als Gold, Geschmeide, ja selbst Mithril, denn sie waren wertvoller als so manches Königreich. Einen davon hatte Elendil auf den Turm des Amon Sûl bringen lassen, der eigens dafür errichtet worden war. Hoch gebaut war er, so dass jeder ihn sehen konnte, mochte er auch Meilen entfernt sein. Und prächtig - ein würdiges Äußeres für den Schatz, den er barg.
Quader aus hellem Stein, der nie verwitterte, bildeten sein Fundament. Neun Bögen, kunstvoll verziert, umgaben den Fuß des Turmes wie eine Krone. Unter dem größten, der nach Westen blickte, war die Tür.
Eine Krone, in Gold gelegt, beherrschte die große Tür, deren hellpoliertes Holz Licht zu reflektieren vermochte, so dass die Krone in einen überirdischen Schein getaucht war, wenn die Sonne auf sie fiel.

König Arveleg und König Varahir standen vor dieser Tür, hinter der sich nun kein Palantír mehr befand. Ein Handschlag und eine Umarmung besiegelten ihr Bündnis gegen den Schrecken aus Angmar und die Dúnedain brachen in Jubel aus, so dass ihre Stimmen über das zuvor so stille Heer getragen wurden.
Die Krieger aus Angmar erwiderten den Jubel mit wüstem Geschrei und Schmährufen.
Als der Lärm verklang standen sich beide Heere wieder schweigend gegenüber. Jeder schätzte Stärken und Schwächen des anderen ab.
Manch einem Dúnedain mochte das Herz verzagen, wenn er den Feind sah, der so zahlreich wie die Sterne am Himmel über Mittelerde zu sein schien und ebenso unbesiegbar.
Dumpfe Trommeln begannen plötzlich einen langsamen Rhythmus zu schlagen und auf einen stummen Befehl hin setzte sich das Heer aus Angmar in Bewegung.

Arveleg und Varahir schwangen sich auf ihre Streitrösser und gemeinsam ritten sie den Amon Sûl hinab und durch die Reihen ihrer ernsten Krieger, bis sie an der Spitze des Heeres standen.
“Nun ist das Ende nahe, denn die finsteren Scharen aus Angmar sind bereit“, sagte Varahir langsam und leise.
“Ich fürchte, du hast recht“, erwiderte Arveleg, während er seinen Blick zum Feind schweifen ließ, der nicht mehr weiter als eine Meile entfernt war.
“Eine solche Streitmacht hat uns noch niemals bedroht. Aber lass uns mutig in den Kampf ziehen und so viele Feinde mit ins Verderben nehmen, wie uns möglich ist.“
Mit diesen Worten zog Arveleg sein Schwert. Varahir tat es ihm gleich und zusammen stießen sie den Schlachtruf ihrer Ahnen aus und führten ihre Krieger in den Kampf.
Zuerst kamen die berittenen Bogenschützen, deren Pfeile viele Feinde erreichten, dann die Speerträger, ebenfalls zu Pferde, alle anderen Krieger mit Pferden folgten und zum Schluss kamen diejenigen, die ohne Pferd kämpften.
Die Heere prallten aufeinander und eine gewaltige Schlacht entbrannte.

Der Feind hatte seine Reihen nicht geordnet. Ihm standen so viele Hände mit Waffen zur Verfügung, dass es nicht nötig war.
Gar grässlich waren sie anzusehen, die großen Orks in ihren Kettenhemden und mit Keulen und Schwertern in den Klauen, die Zähne zu einem hässlichen Grinsen gebleckt und auf das Blut der Dúnedain aus.
Neben ihnen schritten die gedrungenen Wilden Menschen aus dem Nebelgebirge, die in grobe Felle gekleidet waren und dem Winter trotzten. Sie hatten ,Schwerter, Speere und Bögen, mit denen sie lange, schwarze und vergiftete Pfeile abschossen, die den Getroffenen einen qualvollen Tod bescherten.
Aber die größte Furcht kam in die Herzen der Menschen, wenn sie den Hexenkönig von Angmar auf seinem Streitross erblickten.
In eine schwarze Rüstung war er gekleidet, die verziert war mit Runen einer längst vergessenen Schrift. Sein Gesicht war verborgen hinter einer schwarzen Maske, die eine Fratze von abscheulicher Hässlichkeit darstellte. Es schien, als brenne ein schwarzes Feuer um ihn herum, sein Ross schnaubte Flammen und hatte rote Augen und Nüstern, wie ein Pferd aus einem vergessenen Zeitalter.
Niemand bestand gegen den grausamen Fürsten, der nicht nur mit dem Schwert in der Hand kämpfte und einer starken Lanze, sondern auch mit dunklen Künsten, die die Krieger der Dúnedain fällten wie ein Axthieb einen morschen Baum. Aber todesmutig stellten die Männer von Cardolan und Arthedain sich diesem Feind entgegen ... jedoch vermochte niemand ihn zu bezwingen.

Der Himmel über den Kämpfenden verdunkelte sich, obwohl es erst früher Nachmittag war, und Schnee begann zu fallen, so dicht, dass er das Sehen erschwerte.
Das Schlachtfeld war erfüllt von Geschrei, wiehernden Pferden und dem Klirren der Waffen. Bald mischte sich das Klagen der Verwundeten und Sterbenden darunter und der Schnee färbte sich rot vom Blut der Menschen und schwarz von dem der Orks
. Tapfer waren die Dúnedain und tapfer waren ihre Könige.
Doch Tapferkeit und Mut allein retteten König Varahir nicht vor den Waffen seiner Widersacher.
Der alte König wurde schnell müde, und auch wenn seine Getreuen - allen voran Oronir, sein Heermeister - alles daran setzten, ihren Fürsten zu schützen, so vermochten sie alle nichts gegen den gut gezielten Ger eines Wilden Menschen auszurichten, der den König mit Wucht in die Brust traf.
Er durchschlug die Panzerung Varahirs und verwundete den König schwer.
Er sank in Oronirs Arme.
Die Dúnedain aus Cardolan klagten um ihren Fürsten.
König Arveleg wurde es gewahr.
Er sammelte einige seiner Männer und kämpfte sich zu Varahir vor. Einen letzten Gefallen wollte er dem alten Fürsten erweisen, der tapfer und freundlich gewesen war und den er lieb gewonnen hatte. Deshalb befahl er den Kriegern, die ihn begleitet hatten, Varahir vom Schlachtfeld zu tragen und in Sicherheit zu bringen. Vielleicht gelang es, den schwer Verwundeten nach Fornost zu schaffen.
So verließen die Dúnedain aus Arthedain mit Varahir die Stätte des Todes - sie waren einige der wenigen Glücklichen.

Viele Stunden währte der Kampf nun schon und ein Ende war nicht abzusehen.
Die Dúnedain stritten tapfer, töteten zahlreiche Feinde und hielten den Amon Sûl frei von den Scharen aus Angmar.
Es schien, als sei die Menge der Feinde zu wenig, um die Dúnedain zu überrennen.
Jedoch, nur ein Aufschub war ihnen vergönnt, denn am späten Nachmittag zeigte sich die Übermacht des Feindes in ihrer ganzen Stärke.

Arandûr stieß einen schrillen Schrei aus und der letzte Ansturm auf den Amon Sûl begann.
Von Raserei getrieben und der Furcht vor der Macht ihres Gebieters, stürzten sich die Orks und die wilden Krieger der Menschen mit noch mehr Wut auf das dezimierte Häufchen Dúnedain, das den Turm auf der Wetterspitze zu verteidigen suchte.
Aber Wehe den Getreuen, die noch zu kämpfen vermochten!
Die Übermacht war zu gewaltig und sie wurden hinweggefegt wie Blätter in einem Herbststurm.
Schließlich standen nur noch wenige vor der Tür des Turmes und an den Hängen des Hügels und der Fürst von Arthedain saß auf seinem weißen Ross am Fuße des Amon Sûl.
Um seinetwillen stritten die letzten Männer von Cardolan und Arthedain, denn sie fürchteten, auch ihn verwundet zu sehen, wie König Varahir, der schwer verletzt vom Schlachtfeld getragen worden war. Niemand vermochte zu sagen, ob er den Tag überlebte.
König Arveleg sah die Getreuen fallen und es wurde ihm schwer ums Herz, denn das Volk der Dúnedain war nie zahlreich gewesen in Arnor.
Erbittert wehrte er die Orks ab, die an ihm vorbei und auf den Hügel wollten. Und sie alle fielen unter seinen Streichen.
Aber plötzlich sah sich Arveleg einem Gegner gegenüber, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Ein schwarzes Streitross, gewaltiger als alle Pferde, die Arveleg jemals in seinem Leben erblickt hatte, trug einen hochgewachsenen Reiter, der ein blitzendes Mithril-Schwert in der Hand hielt.
Der Hexenkönig von Angmar!
Durch die Augenschlitze seiner schwarzen Maske glühte ein roter Schimmer.
König Arveleg hatte die unheimliche Gewissheit, dass es die Augen des Fürsten von Angmar waren, die ihn anfunkelten, seine Seele durchdrangen und sein Herz mit Furcht füllten. Aber Arveleg war ein Dúnedain und Kampfeswut überkam ihn und der Mut seiner Vorfahren.
Beherzt gab er seinem Pferd die Sporen und stürzte sich mit erhobenem Schwert auf die Schreckensgestalt vor ihm.
Einen Schlachtruf stieß der König von Arthedain aus, in der Alten Sprache, und dann schrie er „Elendil!“ und traf auf seinen Gegner.
Hart prallten die Pferde aneinander und Arvelegs treues Ross wieherte vor Schmerzen, aber es blieb auf seinen Hufen.
Das schwarze Pferd des Herrn von Angmar trat und biss, von einem bösartigen Geist erfüllt und nicht minder gefährlich als sein Reiter.
Arveleg packte sein Schwert mit beiden Händen und hieb auf seinen Gegner ein, so fest er es vermochte.
Fast spielerisch wehrte Arandûr die Hiebe ab und wenn ihn einer traf, dann achtete er nicht weiter darauf, denn keine gewöhnliche Waffe durchdrang seine Rüstung. Er ließ König Arveleg angreifen und verfolgte mit Befriedigung, wie sein Gegner schwächer wurde.
Als Arveleg unachtsam seine Deckung fallen ließ, schwang Arandûr sein Schwert.
Der Dúnedain konnte sich nur noch durch einen beherzten Sprung vom Pferd vor dem tödlichen Hieb retten.
Er kam hart auf dem Boden auf, aber der Schnee dämpfte seinen Fall. Schwerfällig erhob Arveleg sich und dann tat er etwas, was er in einer Schlacht noch nie getan hatte - er zog sich vor einem Gegner zurück.
So schnell es ihm möglich war, erklomm er die Wetterspitze. Dort lagen alle Dúnedain erschlagen, aber auch unzählige Orks und Trolle hatten ihr Leben gelassen. Nur wenige von ihnen waren noch auf dem Amon Sûl. Sie wichen vor König Arveleg zurück.
Der König war erstaunt darüber, aber als er hinter sich das Schnauben eines Pferdes vernahm, wusste er, dass seine Feinde nicht seinetwegen unschlüssig waren. Sie warteten darauf, was ihr Herr tun würde, der jetzt vor Arveleg sein Pferd zügelte und geschmeidig hinunterglitt.
Arveleg nahm sein Schwert fest in beide Hände und erwartete seinen Gegner, der größer und stärker war und dem man keine Schwäche ansehen konnte.
Bald war die Wetterspitze erfüllt von Kampfgeräuschen - und bald war das Schicksal König Arvelegs besiegelt.
Ein mächtiger Schwertstreich traf den Dúnedain in die Seite und er brach in die Knie. Heißer Schmerz durchzuckte seinen geschundenen Körper und vernebelte seinen Blick. Jeden Moment musste er den Todesstoß erhalten und wappnete sich.
Aber kein kalter Stahl durchstieß seinen Körper, um seiner Existenz ein Ende zu bereiten. Verwirrt blinzelte Arveleg, richtete sich mit Hilfe seines Schwertes auf und hob den Blick.
Er sah in rote Augen und ein Antlitz, das sowohl von unbegreiflicher Schönheit, als auch von unfassbarer Grausamkeit war. König Arveleg fühlte sich erinnert an uralte Gemälde, wie sie im Palast von Fornost noch dann und wann in dunklen Gängen zu finden waren. Sie zeigten die Númenórer, die Stammväter der Dúnedain und Vertriebene aus Akallabêth, der verlorenen Heimat des Westens.
Arveleg erkannte mit Grauen, dass er gegen einen Schatten aus der Vergangenheit kämpfte, der lebendig geworden war, oder niemals gestorben. Wer bist du? wollte er fragen, aber er schwieg, weil sein Feind auf ihn zutrat - und er fürchtete die Antwort.
“Cardolan ist besiegt, Rhudaur untersteht meiner Herrschaft und Arthedain wird folgen, Armseliger!“
Der Herr von Angmar lachte böse.
“Aber zuvor werde ich mir das Kleinod nehmen, um das ihr narrenhaften Fürsten so viele vergeudete Jahre gestritten habt! Ihr hättet den Palantír lieber dazu benutzen sollen, auf eure Feinde zu achten“, sprach Arandûr verächtlich zu dem besiegten König von Arthedain.
“Holt ihn Euch, wenn Ihr es vermögt“, keuchte Arveleg mit brechender Stimme. Seine Kräfte verließen ihn jetzt völlig, so als habe der Blick in die Augen des Königs von Angmar alle Lebensenergie, die ihm noch verblieben war, aus ihm herausgesogen, und erschöpft stützte er sich auf sein schartiges Schwert. Sein Kettenpanzer war von lähmender Schwere und verbeult und geborstenes Metall drang in sein Fleisch, dort wo die Waffe seines Feindes den Schutz durchstoßen hatte.
Viele Wunden hatte Arveleg, aus denen sein Blut auf den zertrampelten Boden floss und sich mit dem seiner getreuen Mitstreiter aus Cardolan und Arthedain vermischte, die alle gefallen waren.
König Arveleg überkam eine sonderbare Ruhe.
Alle Furcht fiel von ihm ab, während er auf sein Schwert gestützt wartete, was geschehen würde.
Er dachte an seinen Sohn und Trauer schlich sich in sein Herz. Araphor war noch ein Knabe und der letzte direkte Erbe Elendils durch die Linie der Könige. Arveleg flehte stumm das Schicksal an, dass es seinen Sohn auf bessere Pfade führen würde und dass ihm vergönnt war, über Arthedain zu herrschen.

Der König von Angmar rief einen großen, grob gekleideten und zerzausten Menschen zu sich und sprach zu dem zitternden und demütig zu Boden blickenden Mann in einer Sprache, die Arveleg nicht verstand und auch nicht verstehen wollte, denn sie tat seinen Ohren weh. Der Wilde nickte, nahm sich ein paar Orks und brach die Tür des Wachturmes auf. Dann verschwanden die Krieger in den Tiefen des runden Bauwerkes.
Man hörte Rumoren, so als werde alles, was sich in dem Turm befand, durcheinandergeworfen und zerstört und nach einiger Zeit kamen die Orks und der Mensch zurück.

„Mein Fürst!“
Grotraug, der Führer der Wilden Menschen aus dem Nebelgebirge warf sich vor Arandûr zu Boden in einer demütigen Geste. Bebend hielt er den Kopf gesenkt, um seinen Herrn nicht ansehen zu müssen, der reglos hoch aufgerichtet vor dem erschöpften König von Arthedain stand.
“Mein Fürst, der Turm ist leer“, stammelte Grotraug mit kaum vernehmbarer Stimme. „Wir haben überall nach dem gesucht, was Ihr begehrt, Herr.“
Arandûr blieb zunächst stumm und unbewegt. Dann stieß er einen Fluch aus in der Schwarzen Sprache von Mordor und alle, die ihn hörten, erzitterten und warfen sich zu Boden.
Alle, bis auf einen.
König Arveleg lachte leise. Mochte ihm auch der Tod bevorstehen ... er starb mit dem Wissen, dem Herrn von Angmar wenigsten eine winzige Niederlage zugefügt zu haben.
Unwirsch wandte sich Arandûr zu dem Fürsten von Arthedain. Das Lachen hatte ihn über alle Maßen erzürnt.
“Lache nur, aber du lachst vergebens, Sterblicher!“ zischte er den König an, während er einen gezackten Dolch aus seinem Gürtel zog.
König Arveleg war zu schwach, um dem Dolchstoß auszuweichen, der auf sein Herz gezielt war, und auch wenn er noch vermocht hätte, sich zu wehren, hätte er es nicht getan. Sein Werk auf Mittelerde war erfüllt und er hatte sich mit seinem Verwandten aus Cardolan ausgesöhnt. Ergeben nahm er den Tod hin.
Aber wehe, der Tod war nicht sein Schicksal, denn die Klinge, die ihn traf, war verzaubert und vergiftete sein Herz, auf dass er ewig den Schatten verfiel.
Arandûr wandte sich von seinem gefallenen Feind ab.
Er hatte das Interesse an dem toten Köper verloren, dessen Seele dem Lidlosen Auge gehörte und zu ewiger Pein verdammt war.
Der König von Angmar blickte vom Amon Sûl aus über das Schlachtfeld.
Die einstmals weiße und reine, feine Schneedecke war aufgewühlt von abertausend Füßen und Hufen und überall lagen die Erschlagenen. Das große Heer aus Angmar war klein geworden, denn die Dúnedain waren ruhmreiche Kämpfer und schonten ihre Feinde nicht und der Kampfesmut war über sie gekommen, so dass Orks, Wilde Menschen, Wölfe und Trolle mit ihrem Blut den Schnee tränkten.
Aber auch viele Dúnedain hatten ihr Leben gelassen.
Einzig die Krieger aus Arthedain, die von ihrem Herrn fortgeschickt worden waren, um König Varahir von Cardolan zu schützen und der Trupp, der Fürst Nardil mit dem Palantír nach Fornost begleitet hatte, waren dem Gemetzel entkommen. Mehr als tausend Mann mochten die Dúnedain Arnors nicht mehr zählen.

Arandûr war zufrieden.
Auch wenn seine Reihen sich gelichtet hatten und er den Palantír nicht in den Händen hielt, so hatte er sein Ziel fast erreicht, denn Rhudaur und Cardolan standen nun unter seiner Herrschaft. Es blieb nur Arthedain.
“Grotraug!“ herrschte der König von Angmar seinen obersten Heermeister an. „Lass die Krieger sammeln. Wir brechen auf, sobald die Dunkelheit hereinbricht.“
Grotraug verharrte ehrerbietig in seiner kauernden Stellung und als sein Herr an ihm vorbeischritt, überkam ihn eine Kälte, die nichts mit dem Frost und dem Schnee zu tun hatte, die wieder an Stärke gewannen.
Erst als Arandûr ihm den Rücken zuwandte, erhob sich der wilde Mensch aus dem Nebelgebirge und antwortete: „Ja, mein Gebieter.“
Dann verließ Grotraug eilig die Wetterspitze, um die Häuptlinge der Orks und die Führer der anderen Streiter zusammenzurufen. Die Orks huschten hinter ihm her, ebenso froh, aus der Reichweite ihres entsetzlichen Herrn zu kommen.
Ein unheilvolles Lächeln umspielte Arandûrs Lippen, als er den Turm betrachtete, der hell wie der Schnee und unberührt vor ihm aufragte.
Elendil hatte ihn erbauen lassen, als Wachturm und als Zeichen seiner Macht über Arnor.
Nun wurde die Macht der Dúnedain über den Norden Mittelerdes gebrochen und alle Zeichen ihres Daseins sollten ausgelöscht werden.
Arandûr ergriff sein Schwert mit beiden Händen, erhob es hoch über seinen Kopf und rief Worte der Macht. Ein blauer Blitz schoss vom grau-weißen Himmel in die Schwertspitze hinein und Arandûr stieß seine Waffe in den Boden.
Die Erde bebte und von dem Schwert ging ein blaues Feuer aus, das überirdisch war und zerstörerisch.
Es jagte auf den Turm zu und traf ihn mit der Wucht eines ganzen Heeres. Schnell hüllte das Feuer den Turm ein und unsichtbare Kräfte zerrten an den Mauern wie Riesen. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen stürzte der Turm auf dem Amon Sûl ein.
Nur ein doppelt mannshoher Kreis blieb übrig, der die Pracht des Turmes wenigsten erahnen ließ - die Bögen hatten der zerstörerischen Kraft fast unbeschadet widerstanden. Sie waren stumme Zeugen der Schlacht zwischen den Dúnedain von Arnor und dem Hexenkönig von Angmar und sie sollten auch dann noch stehen, als der letzte Kampf gegen das Dunkel in Mittelerde seinen Anfang nahm ...

Bis das Heer aus Angmar zum Aufbruch bereit war, verging nur wenig Zeit, denn die Krieger beeilten sich, der Anweisung ihres Gebieters Folge zu leisten und zum Anbruch der Nacht marschfertig zu sein.
Grotraug machte seinem Herrn Meldung.
Arandûr hatte sich auf dem Amon Sûl aufgehalten. Nun nickte er, schwang sich auf sein Pferd und setzte sich an die Spitze des Heerzuges.
Nördlich lag ein Moorgebiet, das unpassierbar war, deshalb wandte er sich nach Westen. Die Große Oststraße, die an der Wetterspitze vorbeiführte, war gut ausgebaut und auch bei schlechtem Wetter der beste Weg. Ungefähr fünfzig Meilen weiter westlich kreuzte die Südstraße die Strecke. Dort wollte Arandûr sich nach Norden wenden und auf die Hauptstadt Arthedains - Fornost - zumarschieren. Binnen zweier Tage stünde sein Heer vor den Toren der verhassten Stadt!
Die Dunkelheit hielt die Schar nicht vom Vorankommen ab.
Orks, Wölfe und Trolle sahen in der Nacht nicht weniger gut, als im hellen Tageslicht - vielleicht sogar etwas besser. Den Menschen aus dem Nebelgebirge und Rhudaur kam der Schnee zu Hilfe, der die Dunkelheit weniger tief machte; der bleiche Schein wies ihnen den Weg.
Der König von Angmar gab ein zügiges Tempo vor. Er kannte das Gebiet um die Große Oststraße und fand den Weg mühelos.

Fornost war zum Greifen nah. Nur noch wenige Meilen trennten Arandûr von seinem endgültigen Triumph über die Dúnedain des Nordens.
Lange hatte es gedauert und viele Kräfte erfordert.
Doch Beharrlichkeit zahlte sich irgendwann aus, und der König von Angmar konnte Ewigkeiten warten, wenn es sein musste.
Es war kurz nach Mitternacht, als am Ende des Zuges Unruhe aufkam. Die feinen Ohren der Wölfe vernahmen Geräusche, die aus dem kalten Nebel drangen, der das Heer seit einigen Stunden einhüllte. Auch die Orks begannen zu lauschen.
Knarrte da nicht Sattelzeug? Klirrte nicht ein Schwert?
Aber so angestrengt sie auch in den Nebel starrten, ihre Augen sahen nichts.
Arandûr spürte die aufkommende Unruhe. Wachsam sah er sich um. Aber der Nebel behinderte auch seine Sicht. Der Hexenkönig verfluchte den grau-weißen Schleier, jedoch nützte es ihm nichts.
Er war nicht der einzige in Arnor, der den Naturgewalten gebieten konnte. Der Nebel war geboren aus Zauberei!
Elbischer Zauberei!
Noch bevor Arandûr seinen Truppenführern eine Warnung zukommen lassen konnte, brach das Unglück über das Heer aus Angmar herein.

Voller Hass, aber auch Faszination sah Arandûr die Elben kommen.
Auf schlanken und geschmeidigen Pferden jagten sie aus dem Nebel heran, Glöckchen schrillten an den Zaumzeugen. Die Elben trugen Langbogen, mit denen sie jedes Ziel trafen und schwangen Schwerter aus Mithril, die durch Elbenzauber gestärkt in den Händen ihrer Besitzer in einem goldenen Licht leuchteten.
Arandûr kannte diese Waffen nur zu gut, und erschauerte.
Sie konnten ihm schmerzhafte Wunden schlagen und ihn schwächen. Noch unerträglicher aber war für ihn ihr Ruf.
“Gil-Galad!“ schrieen sie, als sie durch die Reihen der Orks und Wilden Menschen jagten wie ein Sturmwind. Geisterhaftes Licht begleitete sie und schien milde über den Kämpfenden.
Mit ihnen ritten Dúnedain.
Cevaron und seine Männer ...

Es war den Elben von Bruchtal nicht lange verborgen geblieben, dass sich der Schatten von Angmar wieder regte. Sie hatten immer einen wachsamen Blick auf die verrufene Gegend im Norden gehabt, denn sie trauten dem Frieden nicht, der Jahrzehnte lang geherrscht hatte. Für sie - die Unsterblichen - war es ein winziger Augenblick, aber für die Menschen eine kostbare Zeitspanne.
Als plötzlich der Winter über Arnor hereinbrach, waren die Elben gewarnt.
Aufmerksam beobachteten sie und gewahrten besorgt, dass die Dúnedain Cardolans an die Grenze zogen.
Die feurigeren unter den Erstgeborenen drängten darauf, den Dúnedain Hilfe zu leisten, andere wiederum mahnten zur Besonnenheit; sie kümmerte das Schicksal der Sterblichen wenig, und sie waren müde geworden.
Als Späher jedoch berichteten, dass ein gewaltiges Heer aus Angmar nach Cardolan marschiere, ließen sich auch die Säumigen bewegen, und eine Elbenstreitmacht zog wenige Tage später aus Bruchtal hinaus, dem Feind hinterher, denn Elrond erinnerte sich an das Letzte Bündnis und an Elendil, dessen Erben schon zu lange in Bedrängnis waren.
Auf ihrem Wege trafen die Elben Cevaron mit seinen Getreuen und nahmen die erschöpften Dúnedain freundlich in ihre Mitte ...

Auch von Vorne war plötzlich Geschrei zu vernehmen und aus dem Nebel tauchten Gestalten auf.
Die Dúnedain von Arthedain waren zurückgekehrt, um weiter zu kämpfen. Sie wurden gleichfalls von Elben begleitet.
Círdan, einstmals Gefährte und Freund Gil-Galads und seit dessen Dahinscheiden Herr über das Reich Lindon, hatte eine Botschaft aus Bruchtal erhalten und war mit seinen Kriegern nach Fornost geeilt. Dort hatte er den todwunden Varahir gefunden und von den Dúnedain erfahren, dass es schlecht um sie stehe und dass Cardolan nicht mehr zu halten sei.
Círdan half den Bewohnern Fornosts, die Stadt für eine Belagerung bereit zu machen.
Als er jedoch die Kunde erhielt, dass das Heer aus Angmar klein geworden sei, sammelte er seine Krieger und die Dúnedain von Arthedain, die bereitwillig und mit neuem Mut in einen zweiten Kampf ziehen wollten, denn die Elben an ihrer Seite gaben ihnen Kraft.
So kam es denn, dass Círdan mit Araphor, dem halbwüchsigen Thronfolger, der es sich nicht nehmen lassen wollte, an der Spitze seiner Männer zu stehen, gegen den Feind vor den Toren der Stadt zog.

Unruhe überkam den Herrn von Angmar, als er sah, wie sein Heer in Auflösung begriffen war.
Die Elben begannen ihn zu bedrängen und er hatte Mühe, sich gegen ihre Angriffe zu verteidigen. Wütend verschaffte Arandûr sich mit seinem Schwert immer wieder freie Bahn.
Die wohlklingenden Stimmen der Elben waren Gift für seine Ohren, er ertrug es kaum, wenn sie sich etwas zuriefen. Aber als sie einen Gesang anstimmten, der an die ruhmreichen Taten verehrter, alter Fürsten erinnern sollte, glaubte Arandûr den Verstand zu verlieren.
Er stieß einen gepeinigten Schrei aus und entfesselte seine Kräfte.
Die Elben wurden von ihren Pferden geworfen. Sie nahmen keinen Schaden, aber sie waren für einige Augenblicke verblüfft, denn Arandûrs Zauber war weniger auf Zerstörung ausgerichtet, denn auf Verwirrung.
Der Herr von Angmar entzog sich weiteren Angriffen, indem er seinem Pferd die Sporen gab und die Flucht ergriff.

Grotraug fand sich mit einem Mal inmitten eines Knäuels Orks wieder, die wild umherrannten und den Waffen der Elben auszuweichen versuchten. Pfeile regneten auf die verängstigten Orks herab und dann Schwerter, denn die Elben verlegten sich auf einen Nahkampf vom Pferde aus, als das Getümmel dichter wurde.
Grotraug drängte sich an den Rand der Horde; blieb er zwischen ihnen, fand er unweigerlich den Tod. Wenn er jedoch etwas mehr Spielraum hatte, dann könnte er sich vielleicht retten.
Ihm war klar, dass er gegen die Elben keine Chance hatte, aber er wollte auch gar nicht kämpfen, er wollte einfach davonrennen.
Grotraug hielt nichts von der versponnenen Meinung, dass ein Krieger auf dem Schlachtfeld zu sterben habe und dem Feind niemals der Rücken zukehre, weil das unehrenhaft war. Wenn man zwischen Ehre und Leben wählen konnte, dann entschied sich nur ein Dummkopf für die Ehre!
Der Mensch aus dem Nebelgebirge war kein Dummkopf und auch nicht feige. Niemand konnte ihm verübeln, dass er einen aussichtslosen Kampf erst gar nicht zu gewinnen versuchte.
Grotraug verschaffte sich mit seinen Langschwert freie Bahn und entkam dem Gewirr aus aufgeschreckten Orks, die zu Dutzenden unter den Streichen der Elben fielen. Die Elben gaben sich nicht sonderlich Mühe mit der Erledigung ihrer Feinde, da sie wussten, dass früher oder später jeder, der sich nicht in Sicherheit bringen konnte, ihr Opfer wurde.
Dieser Ungezwungenheit verdankte Grotraug, dass er sich zwischen den wiehernden und stampfenden Pferden hindurchdrängen und das Weite suchen konnte.
Erleichterung erfüllte sein Herz, als er die Elben hinter sich zurückließ. So schnell er vermochte, hastete er durch den zerwühlten und geröteten Schnee. Er stolperte über Orks, Menschen und Werwölfe, rutschte in Matsch und Blut aus und kam außer Atem.
Nur noch ein kleines Stück und er war weit genug entfernt von den Scharmützeln, die hier und da noch im Gange waren. Die Dämmerung würde ihn verbergen, wenn er sich einfach zwischen die Erschlagenen auf den Boden warf und wartete.
Eine wohlklingende Stimme hinter ihm, ließ Grotraug zusammenfahren.
“Ai! Rófiriel!“ rief sie, und obwohl Grotraug der elbischen Sprache nicht mächtig war, ahnte er, was der Ruf bedeutete. Der Wilde Mensch stolperte weiter. Fast unwillkürlich warf er einen Blick über die Schulter.
Hinter ihm kam ein Elb auf einem Schimmel heran. Das Pferd setzte mühelos über die Gefallenen hinweg und strauchelte nicht ein einziges Mal. Viele kleine Glöckchen bimmelten wild am ledernen Zaumzeug.
Der Elb war schlank und groß, aber von sehr kräftiger Gestalt. Langes blondes Haar umspielte sein feines Gesicht und seine grünen Augen blitzten entschlossen.
Grotraug sah mit Entsetzen, dass der Elb einen Langbogen von der Schulter nahm und einen Pfeil aus dem Köcher, der am Sattelzeug baumelte. Er spannte den Bogen mühelos und während das Pferd über das Schlachtfeld fegte, ließ er den Pfeil von der Sehne fliegen.
Der Mensch aus dem Nebelgebirge war unfähig, sich zu bewegen. Er konnte dem Pfeil mit den Augen nicht mehr folgen.
Wo ist das verdammte Ding? fragte er sich mit wachsendem Grauen.
Der Pfeil traf Grotraug mit ungeheurer Wucht in der Brust und warf ihn nach hinten. Während Grotraug noch fiel, erstarben seine Augen. Blicklos starrte er in den Himmel. Niemals mehr würde er die verblassenden Sterne sehen können, die jetzt durch die aufbrechende Wolkendecke hervorkamen und die von den Elben freudig begrüßt wurden.
Ein klarer Morgen brach heran, der die Schneewolken aus dem Osten vor sich herjagte und vertrieb.
Der Elb gönnte dem gefallenen Feind keinen weiteren Blick, sondern ließ seine scharfen Augen über das allmählich heller werdende Schlachtfeld gleiten, um nach anderen Flüchtigen Ausschau zu halten. Da er niemanden mehr entdeckte, den er mit seinen Pfeilen hätte erreichen können, zog er sein Pferd auf der Hinterhand herum und kehrte in gestrecktem Galopp zu seinen Gefährten zurück.

Der König von Angmar war gezwungen, sich zurückzuziehen. Sein Heer war nur noch ein heillos durcheinandergeratener Haufen, der nicht mehr zu kontrollieren war. Die Elben und die Dúnedain von Arthedain rieben die Krieger auf, und sie schonten niemanden. Das Blatt hatte sich gewendet.
Arandûr gab einen scharfen Befehl und schrille Hörner riefen zum Rückzug.
Viele Krieger aus Angmar blieben erschlagen zurück.
Arandûr riss sein Pferd herum. Brennender Hass tobte in seinem Herzen.
Wieder einmal waren es die Elben, die seinen Eroberungszug gestoppt hatten. Aus dem Reiche Lindon waren sie gekommen, das einst von Gil-Galad gegründet worden war. Und aus Imladris, der Heimstatt Elronds. Wie er sie verabscheute!

Aber trotz allem konnte der Herr von Angmar zufrieden sein. Rhudaur stand unter seiner Herrschaft und Cardolan war ein zerstörtes Land. König Arveleg von Arthedain war unter seiner Hand gefallen und dem Schatten unterworfen worden. Der Turm auf dem Amon Sûl war geschleift. Eine große Schlacht hatte er gewonnen. Und viel Zeit, auch den Krieg endlich zu gewinnen und Arnor zu vernichten, denn die Menschen waren dezimiert und geschwächt worden.
Mochten Elben und Dúnedain auch zusammenstehen ...
Das Schicksal der Menschen des Nordens war besiegelt.
Elendils Erben würden vom Angesicht der Welt gefegt werden und so für die Schmach büßen, die ihr Stammvater dem Dunklen Herrscher und seinen Getreuen zugefügt hatte - und wenn es viele Menschenalter dauern sollte ...

© Heru n’ nertë 12/2001, 01/2002