Samtpfötchen
von Bimo
Ruhig. Gleichmäßig. Ganz natürlich. Je selbstsicherer ihre Bewegungen, je souveräner, desto geringer die Gefahr, dass sie unnötige Aufmerksamkeit auf sich zog. Einer der wichtigsten Grundsätze bei Wolfram&Hart: Tu was du tun musst. Hintergehe und stehle wo du nur kannst, aber lass dich nicht dabei erwischen. Niemals und unter keinen Umständen, sonst ergeht es dir wie Hedra Gregory aus der Abteilung für Auslandsrecht. Oder, schlimmer noch, Lee Mercer.
Lilah hatte keine Absicht, sich als leblose, zerbrochene Hülle in der örtlichen Tierkörperverwertungsanstalt vorzufinden, im Hinterkopf eine Schusswunde. Der Tod, der ihr vorschwebte, war das friedliche Einschlafen einer alten Dame in einer vornehmen Bostoner Stadtvilla. Achtzig oder neunzig Jahre alt, im Lehnsessel, vor knisterndem Kamin. Auf dem Schoß ein molliges, rotgetigertes Kätzchen mit bernsteinfarbenen Augen. Draußen vor dem Fenster tanzten die Schneeflocken. Was wohl ein besseres Datum wäre, Weihnachten oder Neujahr?
Bis dahin würde sie all ihre Kraft, all ihren Verstand auf das nackte Überleben in der Tretmühle verwenden. Wolfram&Harts Personalpolitik baute auf Darwinismus in Reinstform. Täglicher Kampf ums Dasein, knallharte Selektion. Wer die Erwartungen der Firma enttäuschte, oder nicht mit den anderen mithalten konnte, hatte für immer verspielt. Eine zweite Chance? Ausgeschlossen, die gab es für niemanden. Es sei denn, man verfügte über die Dreistigkeit eines Lindsey McDonald.
In nostalgischen Momenten dachte Lilah an die Zeit vor einem Jahr zurück, als der Firmen-Alltag zwar nicht weniger gnadenlos, dafür aber noch wesentlich unkomplizierter gewesen war. Sie selbst, Lee und Lindsey gleichrangige Kollegen. Ihre Büros nur wenige Türen voneinander entfernt. Gelegentliche Spionage? Eine harmlose Fingerübung. Einfach einen günstigen Moment abpassen und hineinschlüpfen. Keine mit beinahe militärischer Präzision ausgetüftelten, nervenzerrenden Aktionen wie diese hier.
Als Samuel Merriwether ihr auf dem Flur entgegen schoss, schwenkte Lilah die Aktenmappe, die sie zum Vorwand unter dem Arm trug. Sie fletsche ihr bestes Zahnpasta-Lächeln, strahlend und makellos. Stählern. Immer die Ruhe bewahren. Nur keine Angriffsfläche bieten.
"Hallo, Sam."
"Oh hi, Lilah. Was machen die Goodwyn -Verträge?"
"Der neue Termin ist am Dienstag"
"Autsch, das riecht nach Überstunden. Du Ärmste. Muss hart sein, zusätzlich zur eigenen Arbeit nun auch noch McDonalds unerledigten Papierkram am Hals zu haben."
"Halb so wild. Man tut, was man kann." erwiderte sie mit gelassener Stimme.
Honigtriefende Nettigkeit unter Kollegen, die im Bedarfsfall keine Sekunde zögern würden, einander Strychnin in den Kaffe zu mischen.
"Schon irgendwelche Neuigkeiten, ab wann unser verstümmelter Goldjunge wieder voll einsatzfähig ist?"
Lilah zuckte nur mit den Achseln und drängte sich an Merriwether vorbei in den Türbogen des Kopierraums. "Du entschuldigst Sam, ich will hiervon unbedingt noch Abzüge machen." Wäre es nach ihr gegangen, Lindsey McDonald hätte am Verlust seiner Hand krepieren können. Bei seinem Hang zu Pathos ein durchaus passendes Ende.
Endlich wandte Merriwether sich von ihr ab. Sie trat auf das vorderste Kopiergerät zu, hob den Deckel und legte ein weißes Blatt ein. Zur Vervollständigung des Bildes drückte sie mehrmals auf den Auslöseknopf, mit den Augen immer wieder in Richtung Gang spähend.
Die Luft in seinem Inneren des kleinen, fensterlosen Kämmerchens war trotz laufender Klima-Anlage stickig und roch nach Ozon, doch als taktischer Zwischenstopp blieb der Raum unbezahlbar. Nur hier konnte Lilah in Ruhe abwarten, bis der Flur freie Bahn bot.
Nun komm schon..., bieg um die verflixte Ecke. Ah ja, so ist es brav...
Ein letzter, vergewissernder Blick zur anderen Seite, ähnlich dem beim Überqueren einer stark befahrenen Landstraße, und sie huschte aus ihrem Versteck. Mit eiligen Schritten hielt sie auf Lindseys Bürotür zu. Delikat vor allem der Moment, in dem sie die nachgefertigte Codekarte aus ihrer Rocktasche zog und in den Eingabespalt des elektronischen Schlosses steckte.
Gottseidank war Lindsey kein Paranoiker. Niemand der seine Räumlichkeiten in eine Festung höchster Sicherheitsstufe verwandelte, sobald er sich nur kurz am Automaten einen Sandwich holen ging. Ganz im Gegenteil. Was das betraf, legte er irritierenden Fatalismus an den Tag. Que sera, sera, Lilah. What ever will be, will be , hatte er ihr in besser gelaunten Zeiten einmal entgegen geworfen, die Zeilen des Doris-Day-Liedes unterlegt mit einen überraschend melodischen Summton. Weshalb sollte ich meine Zeit mit albernen Spielchen verschwenden? Wer immer hier einbrechen will, wird es. So oder so.
Geschafft. Das grüne Kontrolllämpchen blinkte. Sie drückte die Klinke und trat ein. Schummriges Zwielicht, herunter gelassene Blenden. Weniger Arbeitsplatz denn Rückzugsort. Sein neuestes Hobby. Anstatt sich dem Erfordernissen der realen Welt auszuliefern, ihrem fein mahlenden Zahnradwerk, vergrub er sich in seinem Refugium und brütete. Es lag etwas seltsam Angeschlagenes darin. Beinahe Obsessives. Verzweiflung, oder bloße Show? Bei Lindseys Temperament schwer abwägbar. Die Risse in der Fassade des strahlenden, machthungrigen Tom-Cruise-Sunnyboys gingen tief. Lilah könnte sich dafür ohrfeigen, das viel zu spät erkannt zu haben.
Durch das Halbdunkel bewegte sie sich in Richtung Schreibtisch, erstaunt über ihre eigene Lautlosigkeit, der Teppichboden schluckte all ihre Geräusche. Sie knipste die Lampe an und durchblätterte seinen Terminkalender mit spitzen Fingern. Überflog mit hochgezogenen Brauen das bis aufs blanke Eckgerüst reduzierte Arbeitspensum eines Mannes, der langsam wieder in eine tägliche Routine zurückfand. Wie es wohl sein musste, das plötzliche Leben mit einer Behinderung?
Addierte Lilah seine einzelnen Arbeitsstunden zusammen, kam sie auf fünf, höchstens sechs pro Tag. Lästiger Kleinkram, sich endlos hinziehende Business-Lunches? Gestrichen. Ersetzt durch Arzttermine und Besuche beim Physiotherapeuten. Viel Freiraum, nur wenige ausgewählte Projekte. Die McMullen-Verteidigung. Darla.
Holland Manners hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, seinem besonderen Schützling den Rücken freizuhalten, während er Lilah kalt lächelnd das Dreifache auf die Schultern bürdete. Zorn stieg in ihr auf und ließ das Weiße in ihren Knöcheln hervor treten. Sie musste aufpassen, dass sie das dünne Kalenderpapier nicht aus Versehen durch zu hektisches Blättern beschädigte.
Manners und Lindsey. Mentor und Schüler. Die graue Eminenz im Hintergrund und der auserkorene Kronprinz. Verstrickt in einen Tanz, in dem sie, Lilah Morgan, sich glücklich schätzen konnte, überhaupt einen kleinen Nebenpart zu erfüllen. Manners sie für ausreichend nützlich und effizient genug befand. Dabei war es ein offenes Geheimnis. Sie schuftete härter, ausdauernder und zuverlässiger als jeder andere. Immer zum Nutzen der Kanzlei, nie zu ihrem eigenen. Lilah hatte nicht das geringste Verlangen nach dem jähen, blutigen Ende eines Lee Mercer. Wirklich nicht.
Eine Villa in Boston.
Ein rotgetigertes Kätzchen.
Schneeflocken.
Und Wolfram&Hart speiste sie mit Brotkrumen ab, während Lindsey McDonald die Cremeschnittchen auf einem Silbertablett erhielt. Befördert, dafür dass er die Firma bestohlen und mit dem Erzfeind kooperiert hatte. Ha!
Sie verspürte keinen Funken Mitleid, als sie durch Lindseys Sachen strich, nur den voyeuristischen Thrill des Hinabtauchens in eine fremde Privatsphäre. In der obersten Schreibtischschublade ein angebrochenes Röhrchen Schmerztabletten. Der Reklameprospekt einer Austellungs-Galerie. Nett, aber im Grunde nicht sein Stil. Er mochte schwere, ausdruckskräftige Dinge. Farben, die einen durch ihre bloße physische Präsenz fast erschlugen, wenn man sie nur zu lange anstarrte.
Wirklich Interessantes fand Lilah erst nach mehreren Minuten, unten auf dem Boden des Abfallkorbs, begraben unter einem guten Dutzend zerknüllter Papierfetzen, auf denen Lindsey sich bemüht hatte, mit der linken Hand eine halbwegs akzeptable Version seiner Unterschrift zustande zu bringen.
Stockenden Atems fischte sie das Bündel lose gehefteter Seiten hinaus, glättete es ein wenig und begann in dem Dossier zu lesen. Nur Gott und die Senior-Partner mochten wissen, wie ihm gelungen war, Textauszüge originaler Council of Watchers- Akten in seinen Besitz zu bringen. Glaubte man den allgemeinen Gerüchten wurde das Archiv des britischen Exzentriker-Clubs besser behütet als die Juwelen der Königin im Tower.
"Tzzzt....Tzzt...Tzzzt....Aber Miss Morgan! Doch nicht auf dem Teppich!"
Überflüssig, dass sie den Kopf in Richtung Türe wandte. Sie erkannte ihn bereits am Klang seiner Stimme. An der Art, auf die er das Blut in ihren Adern gefrieren ließ. Sie allein durch das bloße Aussprechen ihres Namens emotional in die hagere Fünfzehnjährige zurück verwandelte, die von ihrem Vater beim ersten heimlichen Kuß auf der Wohnzimmercouch ertappt wurde. Damals hatte es nur schallende Ohrfeigen gegeben. Und einen Monat Küchendienst. Was Holland Manners nun mit ihr anstellen würde, wollte sie sich lieber gar nicht erst ausmalen.
Laß dich niemals erwischen, sonst ergeht es dir wie Hedra Gregory.
Ihre Finger immer noch um das Dossier geklammert, richtete sie sich langsam auf, strich Rock und Jacke glatt. An Manners vorbei starrte sie auf den Fußboden.
"Wie lange sind Sie schon hier, Sir?"
"Lange genug, um das zu sehen, was ich sehen wollte."
Sein Tonfall war weich, beinahe mitfühlend.
"Sie ..., Sie sind mir nicht böse?"
"Warum sollte ich, Lilah? Warum eine gute und zuverlässige Angestellte dafür bestrafen, wenn sie die Chancen ausnutzt, die sich ihr bieten?"
"Und Lindsey...?"
"Keine Sorge. Gegenseitige Konkurrenz ist eines unserer höchsten Prinzipien, denn sie schärft Wachsamkeit und Kreativität. Habe ich Ihnen je gesagt, was für einen außergewöhnlich hübschen Namen sie tragen?"
Sie nickte. Das Werk einer Mutter, die zu viele Bibelgeschichten und Legenden las und ihrem Kind immer etwas besseres gewünscht hatte als die eigene bescheidene Hausfrauenexistenz, begleitete sie schon ihr ganzes Leben.
Lilah.
Morgan.
"Nehmen Sie ihn ernst und machen Sie etwas daraus."
Er wandte sich von ihr ab, lächelnd.
"Ach, und löschen Sie das Licht, wenn Sie fertig sind."
Aufatmen. Ein weiterer überstandener Tag in der Tretmühle.