A Night In Toronto
von Bimo

 

Leise und auf`s äußerste darauf bedacht so wenig Geräusche wie möglich zu machen, schlich Dana Scully zur Kaffeemaschine.Nur wenige Meter neben ihr lag ihr Partner und schlief.
Sein Oberkörper war nach vorne über die Schreibtischplatte gebeugt, der rechte Arm hing baumelnd herab. Mit den Fingerspitzen berührte er fast den Fußboden.
Fox Mulders grenzenloser Arbeitseifer war eine Charakter- eigenschaft, welche Scully zugleich als bewundernswert und auch beunruhigend empfand. Mittlerweile hatte sie sich an diese Macke gewöhnt. Daß Mulder aber bis zur völligen Erschöpfung über einem Problem brütete und nicht mal mehr den Weg nach Hause in`s eigene Bett fand, war selbst für ihn ungewöhnlich.
Während sie darauf wartete daß sich die Kaffekanne allmählich mit dampfend-heißer, schwarzer Flüssigkeit füllte, setzte sie sich auf die Tischkante und beobachtete ihn eine Weile.
Der Schlaf verlieh Mulders jungenhaften Gesichtszügen eine friedliche Ausstrahlung, etwas kindliches, und nur ungern entriß sie ihn diesem Zustand.
Die Maschine war durchgelaufen.Vorsichtig stupste sie Mulder an.
Ein wenig erschrocken fuhr er hoch."Meine Güte, Scully. Ich bin doch nicht etwa..?"
"Doch sind Sie, Mulder. Guten Morgen."
Sie schenkte eine Tasse Kaffee ein und hielt sie ihm unter die Nase.
"Darf ich fragen, was es so außergewöhnliches gibt, daß Sie die ganze Nacht durcharbeiten?" Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Mulder stöhnte als er sich aufrichtete und auf den Dia-Projector zuging. Seine Bewegungen erinnerten Dana an alte Zombie- Filme.
"Das", setzte er mit leicht belegter Stimme an, "ist ein Foto von Lucy Winthorp, 42 Jahre alt und ermordet am dritten Juli 1953 in Chicago. Man hat sie dort auf dem Universitätsgelände gefunden. Verblutet. Beachten Sie den Hals der Frau."
Er schaltete auf das nächste Dia. "Sehen Sie die einstichartigen Bißwunden?"
Sie ahnte, worauf er hinauswollte.
"Mulder, Sie schauen eindeutig zu viele Filme mit Christopher Lee. Das ist doch abartig!Diese Wunden könnten genausogut von irgend etwas anderem verursacht worden sein, irgendeinem medizinischen Gerät zum Beispiel, irgendeinem spitzen Gegenstand. Der Schluß auf eine Bißverletzug wäre nur durch eine gründliche Autopsie gerechtfertigt."
"Nicht so voreilig, Scully. Warten Sie's ab. Das Beste kommt noch." Mit einem Mal schien alle Müdigkeit von ihm gewichen zu sein. "Die hatten zu dieser Zeit einen Gastdozenten an der Uni, Nicholas Girard hieß der Knabe. Ein Jahr später ist er in ziemliche Schwierigkeiten mit der McCarthy-Komission geraten. Das Übliche. Mitglied bei den Kommunisten, Aufhetzung der Studenten, und so weiter."
"Und wo bitte ist die Verbindung?"
"Lesen sie`s selbst. Hier das Protokoll des Untersuchungs-Ausschusses." Hastig überflog Dana jene Stellen der Aktenkopie, welche ihr Partner mit rotem Filzstift markiert hatte.
"So, zwar keine Leiche im Kühlschrank, dafür aber Blut. Wie unappetitlich." Sie verzog ihren Mund zu einer Grimasse."
Leider verstehe ich immer noch nicht ganz. Ich meine, sicherlich ist der Kerl vielleicht ein wenig seltsam, aber allein aus dem Inhalt eines Kühlschrankes läßt sich doch noch nicht folgern, daß Girard ein Mörder ist. Das Blut kann er für Gott weiß was gebraucht haben. Für irgendwelche exotischen Kochexperimente zum Beispiel. Vielleicht wollte er einfach nur das Rezept seiner Großmutter für selbstgemachte Blutwurst ausprobieren. Das allein ist doch noch lange nicht strafbar."
"Zu dem Schluß sind die Kommunistenjäger auch gekommen. Man hat im Rahmen der Untersuchungen zwar versucht ihm den Mord an Lucy Winthorp anzuhängen, aber er hatte zur ungefähren Todeszeit ein hieb- und stichfestes Alibi. Er hat eine Vorlesung gehalten. Um neun Uhr abends. Wie Sie dem Protokoll entnehmen können, hat Girard alle seine Vorlesungen in Archäologie abends gehalten. Angeblich litt er unter einer starken Sonnenallergie." Mulder begann in dem üblichen Chaos auf seinem Schreibtisch zu kramen. "Irgendwo muß ich es doch hingelegt haben. Ah ja, da ist es." Er drückte Scully ein Photo von Girard in die Hand.
"Und was soll das ganze?" Ihre Stimme klang verärgert. "Mulder, nun mal langsam. Könnte ich bitte erfahren, was in Gottesnamen so wichtig ist, daß Sie einen über vierzig Jahre alten Mordfall wieder aufrollen und sich damit die ganze Nacht um die Ohren schlagen?"
"Das hier." Er schob ein Band in den Videorecorder und schaltete den Fernseher ein.
"Eine Folge Cop Watch?" Entsetzt stöhnte Scully auf. Dieser Mann war einfach unmöglich.
"Ich war das Wochenende am Lake Ontario, einen alten Freund besuchen. Zufällig lief die Sendung gerade im Fernsehen, als Wiederholung. Achten Sie auf den jüngeren Detective. Sein Name ist Knight, Nicholas Knight. Die Ähnlichkeit ist doch verblüffend, nicht?"
Sie nickte, während sie die alte Photographie mit dem Mann auf dem Bildschirm verglich. Abgesehen von dem großen zeitlichen Abstand, der zwischen beiden Aufnahmen lag, konnte man wirklich beinahe schwören, daß es sich um ein und die selbe Person handeln mußte.
"Zugegeben, die äußere Erscheinung der beiden Männer ist fast identisch, aber so etwas kann vorkommen. Vielleicht sind die zwei miteinander verwandt?"
"Unwahrscheinlich. Nach der Geschichte mit dem Untersuchungsausschuß ist Girard spurlos verschwunden. Er hatte keine Familie."
Nachdem Dana Scully sich das Band zuende angesehen hatte, begann sie zu begreifen, was Mulder so faszinierte.
"Ziemlich schräger Vogel, nicht?"
"Die Wohnung war ziemlich abgefahren, schade, daß sie nur so kurz im Bild war. Und auch das, was dieser Schanke so alles über seinen Partner erzählte, hatte es in sich. Ich muß zugeben, daß da ein paar Parallelen zuviel zwischen Girard und Knight existieren, um tatsächlich noch einen bloßen Zufall rechtfertigen zu können. Bei der Sache gibt es nur ein winzig kleines Problem, Mulder.Zu ihrer Information, Toronto liegt in Kanada. Außerhalb unseres gesetzlich erlaubten Aktionsbereiches." Sie nahm einen tiefen Atemzug. "Pech für Sie. Was wollen Sie machen?"
"Das, womit Sie mir dauernd in den Ohren liegen. Urlaub, Scully."
"Sie können doch nicht... ."
Mitten im Satz brach Dana ab, die völlige Sinnlosigkeit all ihrer Argumente einsehend. Mulder hatte inzwischen seine Jacke übergestreift und war auf dem Wege zur Tür.
"Wenn Sie mich entschuldigen, ich muß noch packen. Mein Flieger geht heute Mittag."
Die sprachlose Scully ließ er allein im Büro zurück.

****

"Entschuldigen Sie, ist dieser Platz noch frei?" Erschrocken blickte Mulder von seinem Abendessen im Restaurant des Hotels, indem er sich eingemietet hatte, hoch und sah in das besorgte Gesicht jener kleinen rothaarigen Frau, mit der er nun seit einiger Zeit zusammenarbeitete.
"Scully," er prustete, "wie zur Hölle haben Sie mich hier gefunden?"
"Berufsgeheimnis. Sie denken doch nicht etwa, ich lasse Sie alleine den ganzen Spaß haben, bleibe friedlich zu Hause sitzen und kümmere mich um den ganzen Papierkram." Ihre bewußt aufmunternd-fröhliche Stimme konnte nur spärlich darüber hinwegtäuschen, daß der einzige Grund, warum sie ihm nachgereist war, darin bestand, zu verhindern, daß er sich zu tief in irgendwelche Schwierigkeiten verstrickte. Als der Kellner kam, bestellte Scully sich einen Salat, in dem sie schweigend herumstocherte, während sie den Ausführungen ihres Kollegen lauschte.
"Die Polizeiakte unseres Freundes ist die eines außergewöhnlich fähigen, mustergültigen Beamten. Abgesehen davon natürlich, daß er, genau wie unser Freund Girard nur Nachts arbeitet. Dreimal dürfen Sie raten warum. Sonnenallergie. Bei auffallend vielen seiner Fälle sind die Täter übrigens nie verurteilt worden sind. Meist kamen sie vorher im Rahmen der Ermittlungen irgendwie ums Leben. "
"Wenn es sich dabei um Notwehr gehandelt hat, ist daran doch nichts außergewöhnliches."
"Scully, hören Sie. Knights ganze Personalakte ist außer- gewöhnlich. Das Ding ist ein einziger Schwindel."
Mulders Worte waren kaum noch lauter als ein Flüstern. Beim Sprechen schien er fast durch Dana hindurchzusehen.
"Das, was ich jetzt sage, mag vielleicht ein wenig seltsam klingen. Es gibt überhaupt keinen Nicholas Knight, geboren am ersten Januar 1958 in Chicago.
Sämtliche persönlichen Daten über ihn sind nachträglich in die betreffenden Computersysteme eingegeben worden, und zwar so geschickt, daß sogar die kanadische Polizei nichts gemerkt hat."
"Wie haben Sie all das herausgefunden?"
Er lachte. "Wissen Sie Scully, ich kenne da einen Hacker in Vancouver, der mir noch einen Gefallen schuldig war."
"O.K. Angenommen, Knight ist tatsächlich das, was Sie glauben,.."
"Trauen Sie sich, das Wort auszusprechen." Mulder erhob sich, ging auf Scully zu und beugte sich zu ihr hinunter.
"Vampir, Scully. Vampir." Er ließ sich jede Silbe einzeln auf der Zunge zergehen.
"Trotzdem, da ist immer noch das Alibi. Er kann Lucy Winthorp nicht getötet haben."
"Nein, er nicht, darüber bin ich mir auch im Klaren. Aber denken Sie nicht, daß wo einer ist, vielleicht auch andere...?
Begreifen Sie, es geht doch gar nicht um den Mord an dieser Bibliotheksangestellten. Auf die gleiche Art und Weise wie sie sind in den letzten fünfzig Jahren noch über ein Dutzend anderer Leute gestorben. Steht alles in den X-Akten. Diese Frau ist nur der einzige Fall, bei dem es eine konkrete Spur gibt, Knight. Das ist unsere Chance!"
"Chance worauf? Darauf, mit einem paar Einstichlöchern im Hals blutleer im Straßengraben zu enden, oder in der örtlichen Irrenanstalt?" Fassungslos blickte sie ihm ins Gesicht.
Der ruhige, warme Glanz in Mulders oft ernsten Augen hatte einem erwartungsfrohem Flackern platz gemacht, ähnlich dem eines kleinen Jungen am Weihnachtsmorgen, nur einen Sekundenbruchteil bevor er die elterliche Erlaubnis dazu bekam, sich mit Freudengeheul auf seine Geschenke zu stürzen.
"Sie wollen der Menschheit also tatsächlich beweisen, daß diese Wesen existieren. Sie sind wahnsinnig. Völlig irre."
"Auf diesen Kommentar habe ich schon gewartet, danke."
Er klang ein wenig verletzt, obgleich er wissen mußte, wie Scully ihre Worte gemeint hatte. Unbeabsichtigt hatte sie einen äußerst wunden Punkt berührt, auch wenn er anderen gegenüber stets leugnete, wie schwer er in Wirklichkeit daran trug, von den meisten Menschen sofort als durchgedrehter Spinner abgestempelt zu werden.
"Was wollen tun, Scully? Wieder nach Washington fliegen?"
"Und Sie hier alleine auf Vampir-Jagd gehen lassen, Van Helsing? Nie im Leben. Haben Sie sich eigentlich schon überlegt, wie Sie vorgehen wollen? Schließlich sind wir hier nur als ganz normale Touristen. Ich halte es für ausgeschlossen, daß das FBI oder die kanadischen Behörden uns in irgendeiner Art bei unseren Ermittlungen unterstützen werden. Nicht mit dieser Geschichte."
"Tja, das ist eben unser Schicksal. Fertig mit essen?"
Dana nickte. "Gut, dann kommen Sie mit!"
Er marschierte zum Ausgang.
Die Sonne war mittlerweile nur noch ein kleiner, blaß-.rosa Ball am Horizont. Dennoch verspürte Mulder einen leichten Anflug von Dankbarkeit für ihre Strahlen, während er den Leihwagen in Richtung von Knights Apartment steuerte. Obwohl er die Strecke durch das alte Gewerbegebiet bereits am hellen Nachmittag schon einmal abgefahren war, hatte er immer noch Schwierigkeiten damit, zwischen den vielen Hallen und Fabrikschloten die Orientierung nicht zu verlieren.
"Ziemlich eigentümliche Gegend für eine Wohnung, finden Sie nicht, Scully? Sehr einsam, aber trotzdem nicht ohne gewissen Reiz. Garantiert kein Ärger mit zu neugierigen Nachbarn.
Ah, da ist es." Er bog in eine Seitenstraße ein und parkte im letzten Licht des Tages.
"Wunderbar, alles dicht, keine Möglichkeit von außen in die Wohnung einzusehen. Die reinste Festung."
"Macht nichts, unser Freund wird sicher bald ausfliegen. Schließlich ist die Sonne ja jetzt weg."
Scully war gerade damit beschäftigt, eine Schachtel Kekse aufzureißen, als sich das schwere eiserne Metalltor von Knights Garage öffnete. Ein hellblauer Cadillac kam zum Vorschein. "Welch architektonische Meisterleistung. Wohnung und Garage in einem. So etwas habe ich mir als kleiner Junge immer gewünscht." Die Ironie in Mulders Stimme war unverkennbar. Für einen kurzen Augenblick hatte das offene Garagentor den beiden FBI-Agenten einen Blick in das Innere eines weitläufigen Raumes gewährt, der offensichtlich auch als Abstellkammer fungierte. Unglücklicherweise war es nur zu dunkel gewesen, um mehr zu erkennen, als die Schatten einiger mit Tücher verhüllter Möbelstücke.
"Beeilen Sie sich Mulder, er fährt los."
Dem hellen 62er Caddie zu folgen erwies sich trotz der großen Auffälligkeit dieses Wagens als eine heikle Angelegenheit, denn Mulder hielt einen ungewöhnlich großen Abstand.
"Sie haben wohl Angst, er könnte bemerken, daß wir uns an seine Fersen geheftet haben?"
Anstelle einer Antwort bekam Scully nur ein unverständliches Brummeln. Sie beschloß, sich wieder den Keksen zuzuwenden. "Igitt, die krümeln ja!"
"Und? Ist trotzdem meine Lieblingssorte."
Er verzog die Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen.
"Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, irgendwas mit Knoblauchgeschmack wäre eventuell angebrachter gewesen. Kartoffelchips vielleicht."
"Sie glauben den ganzen Kram doch nicht etwa?"
"Sicher."
Sie stöhnte. Die bloße Vorstellung, Mulder könnte mit seiner Theorie über Nicholas Knight im Recht liegen, ließ sie frösteln. Allmählich fühlte sie sich wie die Protagonistin eines zweitklassigen Horrorfilms mit unsicherem Ausgang .
"Mulder, zugegeben, die Geschichte ist faszinierend. Aber haben Sie sich je überlegt, daß es auf dieser Welt gewisse Dinge gibt, die zwar ein wenig eigenartig erscheinen, sich aber völlig rational erklären lassen?"
"Sie glauben mir nicht, hab ich recht? Scully, Sie haben in den letzten Monaten so viele übernatürliche Phänome erlebt, wie andere Menschen in ihrem ganzen Leben nicht. Was ist los mit ihnen, daß sie sich so sehr gegen das Offensichtliche sperren?"
Der Tonfall, in dem er sprach, klang ruhig, fast ein wenig resigniert. Scully war überzeugt davon, daß wenn er nur ein klein wenig mehr Druck gemacht hätte, sie wahrscheinlich dazu bereit gewesen wäre, ihm den Grund für ihr Verhalten preiszugeben. Doch anstelle ihm und auch sich selbst gegenüber ein paar Eingeständnisse zu machen, zog sie es vor, ihren Kollegen den Rest der Fahrt über mit leicht beleidigter Miene anzuschweigen. Genau in dem Moment, als die Stimmung zwischen den beiden sich dem absoluten Tiefpunkt näherte, wurde Scully durch ein abruptes Bremsen aus ihren Gedanken gerissen.
"Heh!"
Der Eingang zur Straße in die Knight zuletzt abgebogen war, wurde durch eine Barriere aus gelbem Flatterband versperrt. An der einzig noch möglichen Durchfahrt stand ein uniformierter Polizeibeamte, der sich mit einer Leuchtkelle bewaffnet den beiden Agenten in den Weg stellte.
"Tut mir leid, Mister, Sie können da nicht durch. Hat hier `ne ziemliche Schießerei gegeben. Kein schöner Anblick, vor allem nicht für die Lady."
Nur mit knapper Not konnte Scully sich ein kurzes Auflachen verkneifen. Der Junge der sich hier Sorgen um ihr seelisches Wohlbefinden machte kam mit allergrößter Wahrscheinlichkeit gerade frisch von der Akademie.
Ohne zu murren, setzte Mulder den Wagen zurück und wendete bei der nächstmöglichen Gelegenheit.
"Sie überraschen mich. Erst verfolgen Sie den Kerl durch halb Toronto, und kapitulieren dann sofort beim leisesten Hauch einer Schwierigkeit. So kenne ich Sie ja gar nicht. "
"Ich wollte nur sichergehen, daß Knight auch tatsächlich für die nächsten Stunden beschäftigt ist. Es könnte ziemlich unangenehm für uns werden, wenn er uns dabei ertappt, wie wir uns über seinen Kühlschrank hermachen."
"Mulder, das ist illegal! Außerdem, wie wollen Sie überhaupt in die Wohnung kommen?"
"Ganz einfach, mit dem richtigen Code für die Eingangstüre. Ich war Nachmittags schon einmal dort und konnte zufällig durch`s Fernglas beobachten, wie eine ungefähr dreißig Jahre alte Frau zu Knight in die Wohnung ging. Offensichtlich eine gute Bekannte, denn sie brauchte nicht zu klingeln, weil sie die Kombination für das Türschloß hatte. Ich konnte sehen, welche Tasten sie drückte."
"Mulder, wenn Sie jemand dabei erwischen sollte.... ,"
Scully wagte nicht die Konsequenzen offen auszusprechen.
Aus Erfahrung wußte sie, daß es ein hoffnungsloses Unterfangen war, Mulder irgend etwas ausreden zu wollen, das er sich in den Kopf gesetzt hatte. Sie würde wohl nie verstehen können, was in solchen Situationen in ihm vorging. Wenigstens war sie nicht in der unangenehmen Lage ihre Vorgesetzten von seinen Aktivitäten unterrichten zu müssen.
Die regelmäßigen Tätigkeitsberichte, die zu schreiben man von ihr verlangte, stellten jedesmal auf`s neue einen schwierigen Balanceakt zwischen ihrem beruflichen Pflichtgefühl und dem dar, was sie für Fox Mulder empfand. Ihr lag viel daran, ihm soweit es ging nicht noch mehr Schwierigkeiten mit dem FBI zu bereiten, als er ohnehin schon durch seine eigenwilligen Ermittlungsmethoden hatte.
"Treten Sie ein, Scully, in die Gruft ohne Wiederkehr!"
Kaum hatten Mulders lange, schlanke Finger den Code in das elektronische Schloß eingegeben, setzte sich das schwere Eisentor, durch das Nicholas Knight sein Privatleben von der Außenwelt abzuschotten versuchte, in höchst geräuschvolle Bewegung.
"Sesam öffne Dich! Scheint, unser Freund hat trotz seines wahrscheinlich leicht vorangeschrittenen Alters ein großes Faible für HighTech-Spielereien."
Zu ihrer Überraschung befanden sie sich jetzt nicht etwa schon in Knight`s Wohnung, sondern in der Kabine eines ehemaligen Lastenaufzuges. Mulder preßte einen Druckknopf , der mit einem nach oben gerichteten Pfeil beschriftet war. Sogleich spürte er wie der Boden unter seinen Füßen zu vibrieren begann.
Oben angelangt schob er ein weiteres Schott beiseite um endlich in das Innere des Apartments vorzudringen.
"Das ist es also." Vor Staunen hielt er für einen Augenblick den Atem an, während er mit geöffnetem Mund in den Raum starrte.
"Großer Gott, Scully!" Seine Worte überschlugen sich fast, als er mit vorsichtigen Schritten eintrat. Scully folgte ihm, ein wenig zögerlich. Sie war befangen von der eigenartigen Stimmung, die dieser Ort auszustrahlen schien. Er hatte etwas von einem Refugium an sich, oder vielleicht auch einem Gefängnis. Auf dem TV-Schirm war dies gar nicht so richtig rübergekommen. Die Bilder an den Wänden, der Flügel in der Raumesmitte und auch der mit Sicherheit sehr wertvolle antike Teppich auf dem eine Couchgarnitur aus schwarzem Leder stand, konnten nicht über die Kälte des bloßen Betonbodens und der nackten Backsteinwände hinwegtäuschen. Zu ihrer rechten bemerkte sie einen Tisch mit Malutensilien und eine Staffelei mit einem noch unvollendeten Gemälde abstrakter Natur.
"Sehen Sie Mulder, er scheint fasziniert zu sein, von der Sonne."
Sie deutete erst auf einige der Bilder, dann auf ein Relief über einer unbenutzt wirkenden Küchenzeile. Es erinnerte sie an alte Darstellungen der Sonne aus dem siebzehnten Jahrhundert.
"Oder vom Tod, Scully, je nachdem aus welcher Perspektive man es betrachtet. Vielleicht ist sie die einzige Kraft auf dieser Welt, die ihm etwas anhaben kann."
Er war zum Kühlschrank hinüber gegangen .
"Was glauben sie, was das hier wohl ist?" Mit der rechten Hand streckte er Dana eine halbvolle Flasche aus grünem Glas entgegen.
"Rotwein?" Er hielt die Flasche gegen das Licht einer Lampe und ließ sie langsam kreisen.
"Bestimmt nicht. Zu dickflüssig. Außerdem bewahrt kein einigermaßen vernünftiger Mensch Rotwein im Kühlschrank auf. Wenn sie sich das Zeug einmal ansehen würden?"
Scully entfernte den Korken und schnupperte vorsichtig am Inhalt. "Tatsächlich, es ist Blut."
"Menschliches?"
"Kann ich so noch nicht sagen. Man müßte es im Labor analysieren lassen. Hoffen wir, er merkt nicht, wenn ich eine kleine Probe entnehme." Sie zog aus ihrem Mantel ein weißes Taschentuch hervor, welches sie mit ein paar Spritzern der roten Flüssigkeit tränkte. "Sonst noch irgendwas im Kühlschrank?"
Mulder schüttelte den Kopf. "Nein. Knight sollte wohl dringend mal einen Kursus bei einer Ernährungsberaterin belegen."
Nachdem Dana den Vorgang beendet hatte, positionierte Mulder die Flasche wieder in exakt der selben Lage, in der er sie vorgefunden hatte. Dann begann er, das Apartment genauer zu untersuchen. Die gesamte Einrichtung bildete eine skurrile Symbiose aus den Errungenschaften modernster Innenarchitektur und historischen Kunstgegenständen. Über zwei oder drei der Artefakte, die hier versammelt waren, glaubte er schon einmal in einem anthropologischen Magazin gelesen zu haben. Der betreffende Artikel hatte sich mit der globalen Verbreitung verschiedenster Vampirkulte beschäftigt.
"Eines muß man ihm lassen. So manches Museum wäre neidisch auf den Mann."
"Mulder, schauen Sie!"
In der hintersten Ecke eines Regales hatte Scully eine alte Schwarzweiß-Photographie entdeckt, welche Knight an der Seite einer eleganten Dame in schwarzem Samtkleid zeigte. Der Technik mit der das Bild aufgenommen war und der Kleidung die beiden trugen nach, mußte es noch aus der Zeit vor dem amerikanischen Bürgerkrieg stammen.
"Wenn dieses Photo echt ist, was denken sie, wie alt er wohl sein mag?"
"Ich weiß es nicht." Mulder zuckte mit den Achseln.
"Ist das auf dem Bild die Frau, die Sie heute Nachmittag beobachtet haben?"
"Nein, sie war ein wenig kräftiger gebaut, und ihr Gesicht war ganz anders." Mal sehen, ob`s oben genau so aussieht wie hier." Mulder setzte seinen Fuß auf die unterste Stufe einer Treppe und blickte am Geländer entlang hinauf.
"Sie sind wahnsinnig. Wir sollten hier verschwinden, solange wir noch können. Wenn er zurückkommt sind wir geliefert. Und wenn das FBI davon Wind bekommt, was wir hier treiben...,"
"Wollen Sie petzen?"
Die Einwände seiner Partnerin ignorierend verschwand er in einem der beiden Zimmer zu denen die Treppe führte.
Scully folgte ihm schweren Herzens. Ein äußerst ungutes Gefühl hatte von ihr Besitz ergriffen, das wesentlich stärker war als ihre Neugierde. Alles was sie wollte war, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Zur Hölle mit Fox Mulder. "Irgendetwas besonderes?"
"Ja. Särge scheinen in den letzten Jahren ein wenig aus der Mode gekommen sein."
Sie trat zu ihm. Offensichtlich befanden sie sich im Schlafzimmer. Anders als unten war hier auf den ersten Blick kaum etwas festzustellen, was man als außergewöhnlich hätte bezeichnen können. Ein Bett, an der Wand ein Spiegel, ein bißchen Krimskrams, ein Kleiderschrank. Mehr nicht.
"Kommen Sie! Ich denke wir haben genug gesehen." Für einen kurzen Augenblick war Scully versucht, Mulders Hand zu ergreifen, um ihn mit sanfter Gewalt aus dem Raum zu zerren. Er selbst schien nicht in der Lage, sich losreißen zu können.
"Wir sollten jetzt wirklich hier raus! Mulder!"
"Nur noch einen kurzen Augenblick. Bitte, Scully. Sieht eigentlich ganz.... "
Ein metallisches Quietschen und Donnern ließ ihn mitten im Satz abbrechen.
"Verdammt, die Tür!"
Mit reflexhaft schnellen Bewegungen gingen beide hinter dem Bett in Deckung.
"Nicholas, bist du da oben? Nicholas!" Die Stimme, die da rief, war zweifelsfrei weiblich. In der Art, wie sie den Namen ihres Freundes betonte, schwang ein seltsam europäisch anmutender Akzent.
Mit jeder Sekunde schien die Frau dem Versteck der beiden näherzukommen. Jetzt mußte sie die Treppe erreicht haben. Der Rhythmus ihrer Schritte hatte sich geändert und die einzelnen Tritte noch mehr an Lautstärke zugenommen. Scullys Atem stockte. Sie spürte das heftige Pulsieren des Blutes in ihren Adern in einer Unerträglichkeit die beinahe an Schmerz grenzte. Was in Mulder vorging, konnte sie nur ahnen. Die Tür zum Schlafzimmer wurde aufgestoßen.
"Sie können ruhig rauskommen, Ich weiß, daß sie da drin sind."
Wie unter Hypnose erhob Scully sich mit langsamen Bewegungen, obwohl ihr Instinkt ihr riet, weiter ruhig auf dem Boden zu verharren .Als sie trat hinter dem Bett hervor trat, konnte sie beinahe spüren, wie die Blicke ihres Gegenübers an ihr entlangwanderten .
Die Frau auf dem Photo, schoß es ihr durch den Kopf, auch wenn ihr Verstand auf`s heftigste gegen diese Annahme protestierte. Keine Falte, kein einzelnes Zeichen allmählichen Alterns enstellte ihr ebenmäßiges, von langem schwarzen Haar umrahmtes Puppengesicht. Zwischen dem Tag an dem das Bild aufgenommen worden war, und jetzt, schien kein einziger Monat vergangen zu sein.
Falls das Photo echt war, und es wirkte einfach zu echt um eine dieser Nachahmungen zu sein, wie man sie manchmal auf Jahrmärkten bekam... .
"Los, laufen Sie!"
Verzweifelt hatte Mulder Scully am Oberarm gepackt und mit sich nach vorne gerissen. Die Wucht seiner plötzlichen Bewegung kam unerwartet genug um ihre Entdeckerin kurzfristig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie hasteten die Treppe hinunter, doch umsonst. Sie saßen in der Falle.
Der Weg zum Ausgang war versperrt.
Die Frau. Hatte Mulder sie nicht vor Sekunden aus dem Weg geschubst und zu Boden geworfen? Kein Mensch konnte doch... Anderenfalls, diese Kreatur, welche ihnen den einzig möglichen Fluchtweg abschnitt, hatte im Gegensatz zu vorhin nichts menschliches mehr an sich. In ihren Augen loderte ein grünes zorniges Feuer und zwischen ihren Lippen ragte ein paar spitzer Reißzähne empor, wie scharfe weiße Dolche, ähnlich denen von Raubkatzen.
Aus ihrer Kehle drang ein eigentümlich hungriges Knurren und Scully machte sich bereits darauf gefaßt, nun innerhalb der nächsten Sekundenbruchteile abgeschlachtet zu werden, aber zu ihrer großen Verwunderung gewann das Antlitz der Frau nun wieder ein wenig menschlichere Züge.
"Tut das nie wieder! Eure Neugierde hätte tödlich für euch sein können. Wißt ihr das?"
"Was...; was haben Sie mit uns vor?"
Man konnte Mulder nur bewundern, daß er in einem solchen Augenblick überhaupt noch dazu in der Lage war, eine klar formulierte Frage zu stellen, wenn auch mit schlotternden Knien.
"Ich?" Ihr schrilles Lachen triefte vor Hohn. "Nun, wenn es mein Haus gewesen wäre, in das ihr eingedrungen seid, ich hätte nicht lange gefackelt, darauf kannst du Gift nehmen Schätzchen. Ihr wißt nicht wieviel Glück ihr habt. Mein Freund Nicholas ist zu meinem Leidwesen sanfterer Natur.
Es ist seine Wohnung. Soll er doch entscheiden, was mit euch geschieht. Auch wenn`s eigentlich schade drum ist."
Sie warf einen intensiven Blick auf Mulder`s Hals und seufzte.Dann ging sie ein paar Schritte rückwärts und griff nach einem Handy.

****

"Das sind also die zwei."
Nick warf einen flüchtigen Blick auf den Mann und die Frau, die Janette bis zu seinem Eintreffen in der Wohnung festgehalten hatte. Beiden standen noch spürbar unter Schock.
"Was zur Hölle hast Du mit ihnen angestellt?"
"Gar nichts, Nicholas. Ihnen nur einen kleinen Schrecken eingejagt, sonst nichts. Wirklich nicht. Schließlich weiß ich, wie empfindlich Du darauf reagieren würdest, wenn ich in deiner Wohnung das täte, wozu wir nun mal bestimmt sind, mein Freund. Unseren Durst zu stillen."
"Danke, daß Du dich gerade noch beherrschen konntest. Ich bin dir was schuldig."
"Komisch, daran hatte ich überhaupt noch nicht gedacht.""Sei ehrlich, Janette." Er packte sie sanft an den Armen."Wann hast Du jemals irgend etwas umsonst getan?"
"Wenn Du jetzt anfängst unsere Beziehung zu analysieren, anstatt Dich um Deine Einbrecher zu kümmern, verschwinde ich besser. Au revoir, cheri." Sie riß sich los und ging zum Ausgang.
Um einen ersten, oberflächlichen Eindruck zu gewinnen, musterte Nick die zwei Gestalten eindringlich. Beunruhigt mußte er sich eingestehen, daß er nicht die leiseste Ahnung hatte, wer die beiden wohl sein mochten, und, noch schlimmer, je länger sein Blick auf ihren verängstigten Gesichtern ruhte, desto stärker überkam ihn das Gefühl, daß eigentlich er derjenige war, der hier gemustert wurde. Jede einzelne seiner Bewegungen schien von den zweien aufmerksam registriert zu werden.
Beide waren noch relativ jung, ungefähr Anfang dreißig. Der Mann hatte etwas jungenhaftes an sich, ein Eindruck, der wohl am ehesten durch seine Augen erweckt wurde. Im gedämpften Licht seiner Wohnung war es schwierig, ihre genaue Farbe zu bestimmen. Nick tippte auf ein ungewöhnlich warmes, dunkles grau, hart an der Grenze zu braun. Groß und fragend starrten sie ihn an, ihn, den Vampir. Der Mann schien geradezu von ihm fasziniert zu sein.
Zu seiner Begleiterin bildete der Fremde rein äußerlich einen auffälligen Gegensatz. Nicht nur, daß sie von ihm an Größe um mindestens einen Kopf überragt wurde, auch hatte die Begegnung mit Janette sie anscheinend wesentlich stärker mitgenommen. Sie bebte am ganzen Körper und Nick konnte förmlich spüren mit welcher wahnwitzigen Geschwindigkeit das Blut in ihren Adern pulsierte.
Wer waren diese zwei?
Nick war sich sicher, den beiden noch niemals zuvor begegnet zu sein, hatte kaum einen Anhaltspunkt, an dem er sich orientieren konnte. Es brachte nichts, sie zu hypnotisieren, bevor er nicht wußte, wo genau er ansetzen mußte, um die Wahrheit aus den beiden Fremden herauszubekommen. Schließlich reagierten Menschen, welche er hypnotisierte, ausschließlich auf gezielte Fragen oder Befehle.
"Wieso sind Sie hier?" Als er auf sie zuging, wichen beide mit vorsichtigen Bewegungen langsam vor ihm zurück.
"Sie...,Sie... sind genau, wie diese Furie, nicht? Das Zeug in ihrem Kühlschrank...?"
Die Stimme der Frau klang zögernd und verunsichert.
"Rinderblut."
Ihre Frage nach dem Inhalt seines Kühlschranks deutete an, daß die Situation in welcher er sich befand, ernster sein mußte als er zunächst gehofft hatte. Niemand, der in Nicholas Knight nichts als nur einen gewöhnlichen Polizisten vermutete, wäre je auf die Idee gekommen, den Flaschen irgendeine besondere Beachtung zu schenken. Wenn diese beiden mehr in der Hand hatten, als nur einen bloßen Verdacht..., wenn noch andere Menschen von diesen Dingen wußten... .
Er mußte vorsichtig sein. Sehr, sehr vorsichtig. Der Gedanke daran, daß falls er in den nächsten Minuten auch nur eine einzige Kleinigkeit übersehen sollte, seine ganze Existenz auf dem Spiel stand, löste einen Anflug nur schwer kontrollierbarer, irrationaler Panik in ihm aus.
Natürlich, er konnte seine Identität als Nicholas Knight nicht für ewig beibehalten, ohne eines Tages das Mißtrauen seiner Mitmenschen auf sich zu ziehen. Allerhöchstens noch für wenige Jahre. Obgleich er anfangs noch versucht hatte, dagegen anzukämpfen, hatte er es schließlich doch zugelassen, daß verschiedene Sterbliche in sein Leben traten, ihm nahe kamen. Ihre Präsenz linderte seine Einsamkeit, machte sein Leben ein wenig erträglicher, und gleichzeitig verkomplizierte sie die Dinge so ungemein. Jedes Mal aufs neue verdrängte er die Angst davor, diese Menschen eines Tages verlieren zu müssen, wenn es ihm nicht bald gelingen würde, den Fluch zu lösen, der seit über achthundert Jahren auf ihm lastete. Er war einfach noch nicht bereit, Toronto zu verlassen. Nein, jetzt noch nicht.
Deshalb mußte er herausfinden, wer diese zwei Fremden waren, was sie wußten. Um jeden Preis.
Für Janette war alles immer so unglaublich einfach.

Entweder Du tötest sie, wenn sie wissen wer Du bist, oder Du machst sie zu unseresgleichen. Die einzig wirklichen Alternativen, mein Freund.

Wollte, oder konnte sie nicht begreifen, wieso er keines von beidem tun konnte?
"Verdammt noch mal, was wollen Sie hier? Zwingen Sie mich nicht... . "
Er war aufgewühlt und sein Tonfall war schärfer und bedrohlicher, als eigentlich beabsichtigt. Abgesehen von ihrer Anwesenheit in seiner Wohnung und dem Fluchtversuch, von dem Janette ihm am Telefon berichtet hatte, verhielten sich die zwei eher passiv. Es schien keine direkte physische Bedrohung von ihnen auszugehen.
"Also, ...wer sind Sie, Miß?"
"Scully. Dana Scully"
Knapper hätte die Antwort kaum ausfallen können, doch auf ihre eigene Weise verriet sie Nick, daß es da noch wesentlich mehr geben mußte. Etwas was die Fremde lieber für sich behielt. Aber was? Er wandte sich an den Mann.
"Und Sie?"
Doch dieser zog es vor, sich in demonstratives Schweigen zu hüllen.
"Verdammt, wußten Sie überhaupt, worauf Sie sich eingelassen haben, als sie beschlossen hier einzubrechen?"
Ein wenig betreten sah der Fremde zu Boden.
"Sagen wir, ich hatte so eine Ahnung."
Wenigstens war er ehrlich genug, nicht den Ahnungslosen zu spielen.
"Ach, tatsächlich? Was wollen Sie? Sie sind doch nicht etwa von der Presse? Auf der Suche nach der Story Ihres Lebens?"
Ein völliger Schuß ins Blaue. Die zwei erweckten einfach einen zu intellektuellen, nüchternen Eindruck, um irgendwelche fanatischen Spinner oder professionelle Vampirjäger zu sein. Ein kurzes Auflachen des Mannes. Der leichte Beigeschmack von Hysterie in seiner Stimme war unverkennbar.
Glauben Sie mir, alles was ich wollte, war die Wahrheit über Sie herauszufinden. Einen Beweis dafür, daß..."
"So, die Wahrheit also. Wie haben Sie herausgefunden, was ich bin?"
Die entscheidende Frage. Egal wer der Fremde überhaupt war, wie auch immer seine Motive sein mochten, letztendlich würde sich alles darauf konzentrieren, ob er und seine Freundin handfeste Beweise gegen ihn besaßen.
Falls sie über irgend etwas greifbares wie Photos, Videobänder oder sonstige Dokumente verfügten, konnte die Angelegenheit zu einem ziemlichen Drahtseilakt ausarten. Schließlich war unmöglich jemandem die Erinnerung, an das was er gesehen hatte zu nehmen, wenn sich sein Geist an diesen Dingen festklammern konnte, wie an einen Rettungsanker gegen das Vergessen.
Der Mann nahm einen tiefen Atemzug und seufzte.
"Wie ich Sie gefunden habe, ist eine ziemlich lange Geschichte. Ich denke sie reicht zurück bis ins Jahr 1953, Chicago. Der Mord an der Uni damals, diese Frau, deren Leiche man beinahe völlig blutleer auf dem Campus gefunden hat. So, als ob man ihren Körper ausgesaugt hätte. Die Löcher in ihrem Hals..."
Wie zur Hölle konnte er von Chicago wissen ?
Praktisch alles war möglich. Vielleicht hatte er Zugang zu irgendwelchen alten Papieren, eventuell zu den Protokollen dieses verdammten Untersuchungsausschusses.In diesen Dokumenten zumindest waren mehr als genug Hinweise enthalten. Hinweise, deutlich genug, um einen Menschen der die Existenz von Vampiren nicht von vornherein als abergläubischen Humbug ablehnte, hellhörig werden zu lassen. Im Geiste verfluchte Nick die schier unglaubliche Dokumentationswut, welcher die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts geradezu leidenschaftlich hingaben. Zuerst nur Berge von Papier, die friedlich in irgendeinem Archiv vor sich hin staubten. Dann Tonbänder, Fernsehen, Mikrofilm, ganz zu schweigen von Computerdateien. Schnell, zuverlässig und für jeden, der sich halbwegs mit sowas auskannte, innerhalb von Minuten zugänglich .Über was konnte der Kerl bloß gestolpert sein, das aufschlußreich genug war um ihn auf seine Spur zu bringen? Was wußte er?
"Lassen Sie mich raten. Die alten Akten von der McCarthy Komission?"
Offenbar hatte Nicholas richtig getippt, denn der Mann deutete ein zögerndes Nicken an.
"Aber das war vor vierzig Jahren. Wie sind Sie dazu , mich hier in Toronto zu finden?"
"Zufall. Sie und ihr Partner waren doch in dieser Fernsehserie, Cop Watch." Ein wenig verblüfft warf Nick dem Fremden einen fragenden Blick zu. Er hatte bei dieser Geschichte zwar niemals ein gutes Gefühl gehabt, aber daß jemand tatsächlich in der Lage gewesen sein sollte... .
Verrückt.Wenn der Mann ihm die Wahrheit sagte, wußte er zwar jetzt, wie man ihn gefunden hatte, doch das alles klang einfach noch ein kleines bißchen zu vage um die volle Wahrheit zu sein. Wie kam jemand dazu eine, und noch dazu die richtige, Verbindung zwischen einem Vorfall aus den 50ern und dieser verdammten Cop Watch-Folge herzustellen? Da mußte noch wesentlich mehr dahinterstecken. Was wußte der Kerl? Welches Motiv war bloß stark genug, ihn dazu zu treiben, sich und die Frau einer so großen potentiellen Gefahr auszusetzen?
Noch einmal musterte Nick das Gesicht seines Gegenübers lange und intensiv, so als ob dieses ihm die Antworten auf seine Fragen verraten könnte. Unter anderen Umständen würde er es vielleicht als freundlich oder irgendwie vertrauenerweckend beschreiben. Es hatte einfach etwas an sich, das Nick entfernt an die offene und vorurteilsfreie Art von Kindern erinnerte, und je länger er es betrachtete, desto stärker schien dieser Mann sich zusammen nehmen zu müssen um nicht vor lauter Fragen überzusprudeln. Eigentlich wirkte er ja gar nicht so unsympathisch.
Falls alles stimmte, was er Nick erzählte hatte, mußte er ziemlich clever sein. Gefährlich clever. Und Klugheit gepaart mit der nötigen Portion Neugier, dem Drang, den Dingen auf den Grund zu gehen bildeten meistens eine äußerst brisante Kombination.Er durfte sich nicht vom eher harmlosen Äußeren des Mannes täuschen lassen. Nur zu deutlich war zu merken, daß er eine Information zurückhielt, die vielleicht von Bedeutung sein konnte. Aber wenigstens hatten ihm seine Antworten ein paar ungefähre Anhaltspunkte gegeben, die wohl fürs erste genügen mußten. Wenn er ihn jetzt hypnotisierte, hatte er zumindest eine ungefähre Ahnung in welche Richtung er mit seinen Fragen zielen mußte.
Mit einem leisen Hauch von Verblüffung registrierte Nick nun die relative Leichtigkeit mit der dieser Mensch in Trance hinüberglitt.Irgendwie hätte er eher das Gegenteil erwartet, eine gewisse Resistenz. Als Nicholas begann, ihm die erste Frage zu stellen, spürte er kein Anzeichen von Widerstand.
"Wie ist ihr Name?"
"Mulder...."
Ein kurzes Stocken.
"Fox ...Mulder."
Die Stimme des Mannes war leise und ein wenig schläfrig. Auf seinem Gesicht zeichnete sich jener leere und emotionslose Ausdruck ab, der typisch war für Menschen, die unter Hypnose standen. "Für wen arbeiten Sie?"
"Federal Bureau of Investigations"
Das letzte Wort wurde überlagert von der Stimme der kleinen rothaarigen Frau. Sie mußte irgendwie gemerkt haben, was Nick versuchte. Zwei oder dreimal rief sie Mulders Namen. Als er keine Reaktion zeigte, griff sie ihn an der Schulter und begann ihn zu schütteln.
Nick hätte sich dafür ohrfeigen können, daß er sie so unterschätzt und sich fast sich fast auschließlich auf den Mann konzentriert hatte. Es erwies es sich als ein recht hartes Stück Arbeit, sie wenigstens für so lange ruhig zu stellen, wie er sich mit ihrem Begleiter befasste. Selten hatte er jemanden erlebt, dessen Verstand sich so hartnäckig zu sträuben schien. Immer gab es für ein derartiges Phänomen irgendeinen tief im Bewußtsein der betreffenden Person verankerten Grund. Welcher mochte es wohl bei ihr sein?
Endlich. Ihre grauen Augen starrten jetzt leer und ausdruckslos durch ihn hindurch. Der Widerstand war gebrochen.Er konnte sich nun in Ruhe dem Mann zuwenden.Was Nick jetzt innerhalb der nächsten paar Minuten zu hören bekam, wies darauf hin, daß er hier mit einem ziemlich ernstzunehmenden Problem konfrontiert wurde. Zwar wußte er, daß das FBI immer schon ein ziemlich unangenehmer Verein gewesen war, welchem man besser aus dem Weg ging....., aber so eine Art Sondermülldeponie für nie aufgeklärte Fälle, mit rein wissenschaftlichen Methoden unlösbare Rätsel...?
Ihm schauderte bei dem Gedanken daran, wieviele Hinweise auf die reale Existenz seiner Art noch in diesen mysteriösen X-Akten verborgen sein mochten. Die Sache konnte gefährlich werden, nicht nur für ihn selbst, sondern für seine ganze Art . Sie war wie eine heimtückische Bombe welche jahrelang und auf unbegrenzte Zeit vor sich hingetickt hatte, nur darauf wartend, daß irgend jemand kam, der in der Lage war, den Auslösemechanismus zu bedienen.
Und dieser jemand stand nun vor ihm, in seinem Wohnzimmer. Und zu allem Überfluß hatte er auch noch eine Begegnung mit Janette gehabt, welche ausreichen würde, um selbst den allerhartnäckigsten Skeptiker zu überzeugen.Fabelhaft.
Es ging einfach nicht, den beiden nur ihre Erinnerungen zu nehmen, und sie dann ziehen zu lassen. Schon allein deshalb nicht, weil sie über genügend Beweismaterial verfügten. Außerdem, wer garantierte, daß sie nicht in Ausübung ihrer Tätigkeit zufällig wieder auf die Spur irgendeines anderen Vampirs stießen? Was dann mit ihnen geschehen würde, wollte er sich lieber nicht vorstellen. Das Risiko war einfach zu hoch, als daß er es je mit seinem Gewissen hätte vereinbaren können.Er seufzte.Vielleicht bestand der einzige Ausweg aus der ganzen Situation in einer Flucht nach vorne? Wenn die zwei sein Geheimnis für sich behalten konnten...?
Falls der Mann, wie Nick mittlerweile beinahe glaubte wirklich nur aus reiner Wißbegier heraus gehandelt hatte,und aus keinem anderen Grund, war es jedenfalls einen Versuch wert. Er trat noch einen Schritt näher an seinen unerwünschten Besucher heran, so daß nur noch wenige Zentimeter ihn von ihm trennten. Nick konnte jetzt deutlich seinen warmen Atem spüren und das regelmäßige, ruhige Pochen seines Herzens.
"Hören Sie mir gut zu. Sie werden zu niemanden darüber sprechen, was Sie hier erlebt haben. Verstanden?"
An der Reaktion des Mannes konnte Nick ablesen, daß er hierbei keine größeren Schwierigkeiten zu erwarten hatte. Wahrscheinlich hätte es auch gereicht, den Mann einfach nur darum zu bitten, aber sicher war sicher.
"Kein Sterbenswörtchen. Zu niemandem.Und niemals, niemals werden Sie wieder auf die Idee kommen, einem Vampir nachzujagen.... Es ist es nicht wert.... Es ist zu gefährlich."
Ein langsames, sehr zögerliches Nicken. Nicholas war nicht völlig überzeugt, ob es ihm gelungen war, diese Warnung tief genug im Unterbewußtsein des Mannes zu verankern, hoffte es aber.
"Gut."
Er ließ von dem Mann ab, um sich nun dessen Begleiterin zu widmen. Als er schließlich ihn und die Frau aus ihrer Trance befreite, schüttelte dieser irritiert den Kopf, so als ob er versuchte, wieder einigermaßen klar zu werden.
"Knight, was machen Sie hier eigentlich mit uns?.... Hypnose?"
" Ja, ungefähr sowas in der Art. Keine Angst."
Er machte eine beschwichtigende Geste. "Ich wollte einfach nur bei ein paar Dingen auf Nummer Sicher gehen, O.K.?"
"Sicher mit was?"
"Vertrauen Sie mir, es ist nur zu Ihrem Besten."

****

Die Atmosphäre im Raven war spürbar aufgeheizt am nächsten Abend. Seit Janette den Nachtclub hatte renovieren lassen, lief er sogar noch besser als zuvor. Für ein paar Minuten betrachtete Nick das wilde Treiben auf der Tanzfläche. "Als ob Vater Zeit auf ihre Füße schießt."
Diese Worte hatte sie einmal benutzt, und sie klangen immer noch in seinen Ohren. Er wandte sich ab und machte sich auf die Suche nach Janette. Sie stand mit dem Rücken an eine Säule gelehnt, in ihrer Hand ein halbvolles Glas, dessen Inhalt die meisten menschlichen Besucher wohl für Rotwein hielten.
Nicholas trat an sie heran und gab ihr einen flüchtigen Kuß auf die Wange.
"Na mein Liebling, hast Du dein Problem mit den Einbrechern gelöst?"
Er lächelte. "Wir sollten in Zukunft ein wenig vorsichtiger sein. Die zwei waren vom FBI."
"Wie bitte?"
Ihm war es tatsächlich gelungen, sie zu verblüffen.
"Erinnerst Du dich noch an die Frau, die Lacroix Dreiundfünfzig in Chicago umgebracht und dann einfach auf dem Campus liegen gelassen hat?"
"Sollte ich das etwa?"
"Ist auch nicht so wichtig, Janette."
"Also, was hast Du mit den beiden getan? Sie einfach nur zu hypnotisieren um sie dann laufenzulassen sähe Dir ziemlich ähnlich. Welche Verschwendung! Die Frau war mir ja egal, aber der Kleine! Irgendwie niedlich. Er hatte dieses gewisse je ne sais quois. Schon allein die Tatsache, daß er es geschafft hat, mich für einen kurzen Augenblick zu überraschen. Wenn wir nicht in diesem scheußlich komplizierten zwanzigsten Jahrhundert leben würden, ich denke, ich hätte ihn rübergeholt. Auch wenn ich nicht gerade der mütterliche Typ bin, Du weißt ja."
"Schon gut, Janette." Er kannte die Platte.Nick klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter und verabschiedete sich. Es war besser, sie in ihrem Glauben zu lassen.

ENDE