MOHN UND GEDÄCHTNIS

von Little Tiger und XTrek

DISCLAIMER IM ERSTEN TEIL

 

 

     

KAPITEL 9

 

"Sind Sie Professor O'Reilly?"

Scully war sich ihres eisigen Tones durchaus bewußt, aber sie wollte dem alten Mann, der ihr von der Veranda herunter freundlich zulächelte, reinen Wein einschenken. O'Reilly war gerade damit beschäftigt, einen Hund zu dressieren; einen großen Mischling mit Augen, die vor Lebensfreude nur so sprühten. Wenn er auf Anweisung "sitz" machte, bekam er einen Hundekeks, tat er es nicht, erhielt er einen brutalen Schlag auf die Schnauze. Scully war wie hypnotisiert von der Szene.

"Ja, Miss..."

"Special Agent Dana Scully."

Das Lächeln auf seinem Gesicht verschwand.

"Oh, dann sind Sie wegen ihres Kollegen gekommen. Wir machen uns wirklich Sorgen um ihn. Sie auch, nicht wahr?"

Wieder dieses Lächeln.

"Ja. Wissen Sie zufällig, wo ich ihn finden kann?"

"Wollen Sie sich nicht einen Moment setzen?" Der alte Mann deutete auf einen Korbsessel neben sich, aber Scully machte keine Anstalten näherzukommen. Sie hatte den Eindruck, daß ihr Besuch für ihn überraschend gekommen war, und sie hatte nicht die Absicht, diesen momentanen Vorteil ungenutzt zu lassen. Und vor allem würde sie nicht zulassen, daß er sich auf bekanntes Terrain zurückzog, um zum Gegenangriff überzugehen. Die Anstrengung, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten, war so groß, daß ihr Hals schmerzte. "Nein, danke. Hätten Sie jetzt bitte die Güte, meine Frage zu beantworten?"

Der Professor schwankte kaum merklich, so als habe er eine Ohrfeige erhalten, und in seinen Augen blitzte für eine Sekunde ein Funken unverhohlener Wut auf; offensichtlich war er es nicht gewohnt, daß jemand seinen diskreten, freundlichen Manipulationen widerstand. Scully wäre beinahe ein Grinsen herausgerutscht. Nicht jetzt, laß dich nicht ablenken.

"Es tut mir wirklich leid, Miss Scully, aber ich kann Ihnen wirklich nicht helfen."

"Agent Scully, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?"

"Heute Morgen, ziemlich früh. Er ist fortgegangen, ohne irgend jemandem zu sagen wohin, er wollte nicht einmal mit uns frühstücken. Meine Frau hat versucht, ihn zum Bleiben zu überreden, sie mag ihn wirklich sehr und..."

"Haben Sie keine Idee, wo er hingegangen sein könnte?" unterbrach ihn Scully.

"Nein." Das Lächeln auf den Lippen des Mannes wurde strahlender, sein Blick durchdringender. "Sie wissen wahrscheinlich besser als ich, daß ihr Freund kein Mann großer Worte ist. Und zu erraten, was er denkt, ist so, als versuche man, in der New Yorker Rush-hour zu atmen."

"Interessanter Vergleich, Mr. Di Giacomo."

Der Kopf des Mannes fuhr hoch wie von unsichtbaren Fäden gezogen. Die Reaktion war unbewußt, und er versuchte sofort, sie zu kaschieren, aber diese wenigen Augenblicke, während der seine eiserne Selbstkontrolle gefallen gewesen und sein wahres Ich zum Vorschein gekommen war hatten ausgereicht, um seine Bewegung zu einer schlechten Parodie eines Scheibenwischers zu machen. Bingo.

"Wir können genauso gut aufhören, uns gegenseitig etwas vorzumachen, Professor. Schließlich wäre mit der Farce weiterzumachen eine Beleidigung für mich und für ihre unleugbare Intelligenz." sagte Scully ruhig und hob eine Augenbraue als einziges Zugeständnis an das Triumphgefühl, das in ihr zu wachsen begann. "Ich weiß, wer Sie sind. Ich kenne Ihre Vergangenheit und Ihre Gegenwart. Ich weiß, daß Mulders Zustand kein Zufall ist. Und Sie wissen, daß ich keine Beweise habe, um Sie hinter Gitter zu bringen, denn andernfalls stünden wir nicht hier."

"Also, was haben Sie vor?" Seine Stimme war nicht mehr die eines gebrechlichen alten Mannes. Sie hatte an Stärke gewonnen, war überheblicher, arroganter und einen Hauch vorsichtiger. Die Farce war tatsächlich vorbei.

"Ich werde Mulder finden und ihn wegbringen von hier. Von Ihnen. Es ist noch nicht zu spät für ihn. Sie werden es nicht schaffen Ihn zu zerstören. Ihn nicht."

"Vielleicht, weil er zu stark ist?" Di Giacomo lachte, "Ich hatte nicht den Eindruck. Es war kinderleicht, ihn so weit zu kriegen, es hat nicht einmal besonderen Spaß gemacht. Ein Wort da, eine Geste dort, und natürlich das Zauberwort. Samantha. Auch ein Anfänger hätte das geschafft. Es tut mir wirklich leid, Miss Scully", fuhr er in einer Parodie seiner selbst fort, "aber es ist zu spät."

Scully spürte, wie ihre Eingeweide sich zu einem schmerzhaften Knoten zusammenzogen und schloß die Augen. Dieser Hurensohn spielte mit ihr. Das durfte sie nicht zulassen, sie durfte ihm nicht erlauben, ihren Willen auszuschalten, indem er ihren Haß ihm gegenüber benutzte. Und dann, plötzlich, fiel ihr Bawinsky ein. Jetzt erkannte sie Di Giacomos Fehler. Er hatte sich vom seinem Haß und von seinem Bedürfnis nach Rache leiten lassen. Sie mußte durchhalte, mußte ihm zeigen, daß sie ihm standhalten konnte; sie mußte ihm beweisen, daß sie erst nach ihm aufgegeben würde, einen Schritt, einen Zentimeter, wenn auch nur einen einzigen Millimeter nach ihm. "Ihr Spiel entgleitet Ihnen, Mr. Di Giacomo." Ihre Stimme war ein samtenes Flüstern. "Zuerst Bawinsky, dann Mulder. Eine Dummheit nach der anderen. Ihre Freunde müssen nicht sehr zufrieden mit Ihnen sein." Sie schüttelte langsam den Kopf und wandte sich um, um zum Auto zurückzugehen.

"Miss Scully!" Auf der Veranda stand ein Mann, der eine Schlacht verloren hatte. Aber nicht den Krieg. Noch nicht. "Mulder kann sich glücklich schätzen, eine Freundin wie Sie zu haben. Jemanden, der so stark ist, so entschlossen. Jemanden, der so an ihm hängt."

**********

Das, was sich als, heiterer, sonniger Tag angekündigt hatte und sich dann, mit der Ankunft dieser kleinen Hure aus Washington in ein Desaster verwandelt hatte, dieser Tag neigte sich seinem Ende zu. Es wurde langsam dunkel; das bedeutete, daß ihm nicht viel Zeit blieb, um seine Fehler zu korrigieren. Die Agentin hatte recht gehabt, sie waren alles andere als zufrieden gewesen mit seiner Arbeit. Zwei von ihren Leuten waren in der Stadt; ihre bloße Präsenz sprach deutlicher zu ihm als alles andere. Und dann war da immer noch sein Ego.

Er bog in den unasphaltierten Seitenweg und schaltete das Aufblendlicht an. So würde er ihn sofort sehen. Er suchte aufmerksam die Umgebung ab, aber es war noch zu früh. Er war noch nicht angekommen. Früher war er sein eigener Herr gewesen. Niemand hatte es gewagt, ihm Anweisungen zu geben oder ihm gar zu sagen, wie er seine Arbeit zu tun hatte. Er erinnerte sich noch gut an die Bewunderung seiner Kollegen und seiner Klienten, die Schlange gestanden hatten, um in sein Programm aufgenommen zu werden. Natürlich hatte es nie eine offizielle Anerkennung für ihn gegeben, das nicht, aber das war nicht wichtig. Und dann, plötzlich, war alles anders geworden. Sie hatten behauptet, die Art, wie er an ein Problem heranging, sei falsch. Verdammt, er hatte jahrelang für die Agency gearbeitet, und nie hatte jemand etwas an seinen Methoden auszusetzen gehabt; es hatte genügt, wenn sie Resultate brachten. Und was für Resultate! Einmal entwickelt hatte sein Programm nicht ein einziges Mal versagt, egal, wie die gestellte Aufgabe gelautet hatte. Manchmal hatte es etwas länger gedauert, aber er hatte nie versagt. Nie.

O'Reilly drosselte die Geschwindigkeit. Er war fast da.

Mit Mulder zu arbeiten war nicht unbedingt leicht gewesen, egal, was er der Frau und seinen selbsternannten Freunden erzählt hatte. Er hatte mit Bedacht den richtigen Moment wählen müssen, seine Worte sorgsam aussuchen. Er hatte Mulder Frieden kosten lassen und ihm dann die Hölle geliefert.

Er erinnerte sich nicht mehr genau daran, wann sie beschlossen hatten, daß er für sie nicht mehr ausreichte. Es gab zu viel zu tun, hatten sie gesagt, er mußte sein Wissen mit anderen teilen, zulassen, daß Fremde sein Programm verbesserten. Als ob man die Perfektion verbessern könnte! Und dann hatten sie gemerkt, daß seine Erfolge nicht reproduzierbar waren. Diese Trottel. Statt das als einen weiteren Beweis für sein Genie zu sehen, hatten sie es als Nachteil abgestempelt.

Die Lichtung lag nun vor ihm, hell erleuchtet von seinen Scheinwerfern. Mulder mußte ihn inzwischen kommen gehört haben, ihn erkannt haben. Er wußte es nicht, aber er hatte O'Reilly erwartet, wie es ihm vor ein paar Tagen aufgetragen worden war. Mulder war ein cleverer Bursche.

Trottel, alle zusammen, ganz egal, wie viele akademische Titel sie auch vor ihren Namen schreiben durften, sie blieben doch Trottel. keiner von ihnen verstand wirklich, wie das menschliche Hirn funktionierte, wo man ansetzen mußte, um ein Individuum in eine gewünschte Richtung zu manövrieren, wie man langsam die Kontrolle über den Willen einer Person erlangen konnte, um ihn schließlich zu vernichten.

Im Gegensatz zu seinen Forschungen war die Folter für ihn kaum mehr gewesen als ein amüsanter Zeitvertreib. Denen von der Agency hatten seine Spielchen gefallen, sie hatten sich damit vergnügt wie Kinder mit einem neuen technischen Spielzeug. Aber er hatte bei derartigen Experimenten nie wirkliche Befriedigung empfunden. Manchmal, das mußte er zugeben, war es interessant gewesen, die Reaktionen einzelner Individuen auf verschiedene Foltermethoden zu studieren... er zog den Terminus "Limit -Verifizierung " allerdings vor; und das Studium solcher psychologischer Limits war von besonderem Interesse für seine Forschung gewesen. Natürlich hatte es dabei auch Verluste gegeben, aber sie waren in Anbetracht des Ergebnisses völlig unrelevant gewesen - in Anbetracht eines Ergebnisses, daß alle anderen in Staunen versetzt hatte. Alle anderen außer ihn; er war es gewohnt, alles, aber auch wirklich alles von einem Menschen zu bekommen.

Sie hatten ihm sogar das vorgeworfen. Merkwürdige Leute, anfangs hatte sie ein Toter hie und da nicht besonders gestört; wenn sie erst einmal erreicht hatten, was sie wollten, brachten sie die Objekte sowieso um. Aber als sie dann festgestellt hatten, daß sein Programm nicht so ohne weiteres von anderen anwendbar war, hatten sie begonnen, sich auch darüber zu beklagen - sie hatten behauptet, die Objekte brauchten zuviel Zeit zum Sterben und wären in der Zwischenzeit ein logistisches Problem.

Er hatte es nicht verdient, zum Alteisen geworfen zu werden.

Di Giacomo schaltete den Motor aus und drückte auf die Hupe; der scharfe Ton schnitt durch die nächtliche Stille, und der Schatten eines kleinen Tieres entfernte sich in Panik zwischen den Bäumen.

Er mußte nicht lange warten. Das Geräusch langsamer, unrhythmischer Schritte kam näher, und die Silhouette am Flußufer nahm langsam Mulders Gestalt an. Er blieb am Rand der Lichtung stehen, eine Hand erhoben, um sich vor dem grellen Licht der Scheinwerfer zu schützen. Dann kam er zögernd näher, um dann wieder einen Schritt zurückzuweichen wie ein halbgezähmtes Tier.

Di Giacomo öffnete die Beifahrertür und lächelte. Mulder kam taumelnd näher, vorsichtig; dann erkannte er Di Giacomo und etwas, das fast ein Lächeln war, erschien auf seinem müden Gesicht. Braver Junge.

"Wir haben uns Sorgen um dich gemacht.", sagte Di Giacomo, mit einem Mal wieder Professor O'Reilly, "Sarah war beunruhigt. Wir haben dich überall gesucht."

Di Giacomo betrachtete befriedigt sein Werk. Mulder war erschöpft. Er hatte wieder im Freien übernachtet, in seinem kurzen, zerzausten Haar hatten sich ein paar Grashalme verfangen, die Hosen waren schmutzig, das Hemd zerrissen und zerknittert. Er hatte dunkle Ringe um die Augen, aber das beeindruckendste Detail - und jenes, das am offensichtlichsten von einem weiteren Sieg Di Giacomos zeugte - war sein absolut leerer Blick. Wer auch immer in die dunklen Pfützen, die Mulders Augen waren, geschaut hätte, hätte in ihnen vergeblich nach etwas Menschlichem gesucht. Es gab darin nichts außer den vor Panik geweiteten Pupillen, die unfähig waren, das zu fokussieren, das sie anschauten. Der Mann, der Mulder einst gewesen war, existierte nicht mehr; und O'Reilly wußte, daß es an der Zeit war sicherzustellen, daß er nie wieder zurückkam.

"Ich... ich weiß nicht, warum... ich hierhergekommen bin.", sagte eine weit entfernte Stimme.

"Das braucht dich nicht zu kümmern. Es ist nicht wichtig. Und jetzt laß uns gehen."

"Gehen?"

"Ja, wir müssen gehen, alle warten auf uns."

"Alle?"

"Ja, Fox. Sie wartet auf dich. Sie wartet schon sehr, sehr lange auf dich."

"Wo ist sie?!?" Mulders Körper versteifte sich.

*Leb wohl, Fox Mulder* "Dort!" Di Giacomo zeigte mit dem Finger in die Nacht, und Mulder sah.

Di Giacomo hielt für einen Moment den Atem an und teilte einen Augenblick lang die unerträgliche Spannung seines Opfers. Einen Moment lang sah er ihn, wie er in den Abgrund stürzte, dem er nie wieder entrinnen würde; und vielleicht verstand auch Mulder das für einen Moment lang und suchte nach Halt, um nicht abzustürzen. Aber es war zu spät.

Di Giacomo beobachtete, wie Mulder sich verzweifelt in die Nacht stürzte, er sah ihn fallen und sich wieder aufrappeln, er hörte das Geräusch der Zweige, die seinen Körper peitschten. Er lief Hals über Kopf in die Nacht und den Wahnsinn, und Di Giacomo hörte zu, bis da nur noch das sanfte Rauschen des Flusses war.

Ausgezeichnete Arbeit, Professor.

**********

"Miss... äh... Miss Scully?"

Scully ließ den Kofferraumdeckel ihres Wagens zufallen und drehte sich um, um zu sehen, wen das lokale Abschiedskomitee geschickt hatte, um sie aus Godeyes hinauszukomplimentieren. Dann seufzte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. Offensichtlich gehörte "No Comment" nicht zum Wortschatz der örtlichen Journalisten. "Miss Scully?"

"Das haben Sie schon einmal gesagt, Mr Debris, und schon beim ersten Mal war's falsch. Ich bin Agent Scully."

"Sicher, Agent Scully... äh... haben Sie ihren Kollegen gefunden?"

"Wenn ich ihn wirklich suchen würde, würde es ausreichen, seine Telefonnummer zu wählen, meinen Sie nicht?"

"Sicher, sicher, nur... äh... ich dachte..."

"Sie dachten? Nein, ich glaube nicht, daß so etwas möglich ist."

"Verlassen Sie uns schon, Mi... Agent Scully?"

"Ihnen entgeht aber auch gar nichts, Mr Debris."

"Es geht das Gerücht um, daß..."

Scully stieg ins Auto, machte den Motor an und stieg aufs Gas.

**********

O'Reilly - er hatte sich inzwischen so an diesen Namen gewöhnt, daß er sich sogar selber manchmal so nannte - war glücklich. Er hatte mehr Zeit für Mulder gebraucht als vorausgesehen, aber schließlich wurde er nicht jünger. Und Herausforderungen hatten ihn schon immer gereizt. Jetzt war er ihn aber endgültig los, zusammen mit seiner kleinen Freundin. Wenn er jünger gewesen wäre, hätte er es genossen, sich auch ihr zu widmen; sie war gefährlich, aber ansonsten recht appetitlich.

Er verließ das Imbißrestaurant, zahlte den Tankwart und biß genüßlich in eine Tafel seiner Lieblingsschokolade. Die hatte er sich verdient, und auch seine Frau hatte sich das kleine Geschenk verdient, das er für sie besorgt hatte. Schließlich war sie es gewesen, die alle nötigen Informationen über Mulders Vergangenheit zusammengetragen hatte, und sie war es auch gewesen, die vorgeschlagen hatte, das durch den Zerfall seiner Familie entstandene Trauma zu nutzen.

Er wollte gerade den Zündschlüssel seines Off-Roaders herumdrehen, als die Tür zur Beifahrerseite und jene hinter ihm praktisch synchron geöffnet wurden, und zwei Männer sich mit einer Selbstverständlichkeit, als stiegen sie in ein Taxi, zu ihm ins Auto setzten.

"Guten Abend, Professor."

Der Mann neben ihm lächelte. Es waren zwei von ihren Leuten, jene, die ihn erst vor ein paar Tagen an ihre Abmachung erinnert hatten.

"Was wollt ihr noch? Die Sache mit Mulder ist erledigt, das war es doch, was ihr von mir wolltet?"

"Wir haben von einem Experten wie Ihnen bessere Arbeit erwartet."

"Bessere Arbeit? Was soll das heißen? Es ist vorbei, oder nicht?"

Er beobachtete den anderen, während er herauszufinden versuchte, was er vorhatte. Der beschleunigte Atem des Mannes hinter ihm war ein offensichtliches Zeichen für das Adrenalin, das durch seine Adern pumpte, aber der Mann neben ihm ließ sich nicht im geringsten anmerken, daß er Gefühle besaß, nicht einmal für jemanden, der es gewohnt war, auch die unscheinbarsten Signale zu deuten. Jede seiner Bewegungen war perfekt kontrolliert, nicht einmal seine Lidbewegungen schienen dem Zufall überlassen zu sein. Es wäre interessant gewesen, ihn ein paar seiner Tests zu unterziehen.

"Sie waren nicht vorsichtig genug." Der Mann lachte, sehr wohl um die Überlegungen wissend, deren Objekt er gerade gewesen war. "Diese Sache mit Bawinsky... " Er schüttelte langsam den Kopf, "Es ist bestimmt nicht ihr Verdienst, daß die Polizei ihnen bisher noch nichts nachweisen kann. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, Halmond wird es früher oder später schaffen. Die Frage ist nur: was werden Sie dann tun?"

"Habt ihr Angst, daß ich singe? Blödsinn. Ich bin hier der Experte in Sachen Verhör, wißt ihr noch?"

"Ich würde nie wagen, Ihnen so etwas zu unterstellen. Im Gegenteil, ich habe mich eingehend mit Ihrer Arbeit beschäftigt, ich hatte sogar das zweifelhafte Vergnügen, die Resultate live zu erleben. Und das ist auch der Grund dafür, daß ich zu bezweifeln wage, daß sie die Kraft hätten zu schweigen, wenn jemand wirklich entschlossen ist, diese Informationen zu kriegen."

Er schob eine Hand unter seine Lederjacke und zog eine Pistole heraus. Als er sie auf Di Giacomos Schläfe richtet, folgte dessen Blick langsam dem Lauf der Waffe bis zu seinen Augen. Die vom unruhigen Grau der See im Winter umgebenen Pupillen weiteten sich kaum merklich, und ein unbeteiligter Teil von Di Giacomos Gehirns fragte sich, was der Grund dafür sein mochte. Konzentration? Abscheu?

Erregung. Er war erregt von dem, was er gleich tun würde. Die Pistole zitterte nicht. *****

Jocelyn Burke hatte eine einzige Sorge in ihrem Leben: diesen Job zu behalten. Und bisher hatte das auch sehr gut geklappt. Die Zeiten, in denen sie mit Jimmy in diesem furchtbare Mauseloch gehaust war und ihn ertragen hatte müssen, wenn er jeden Abend voll Whiskey nach Hause kam, er und die Gang seiner sogenannten Freunde, die nichts anderes konnten als pokern... diese Zeiten waren lange vorbei. Damals hatte sie noch im Altersheim von Braxton Ärsche abgewischt und versucht, inmitten von arteriosklerotischen Alten, die den ganzen Tag nichts anderes taten, als sich vollzumachen oder ihr in den Ausschnitt zu grabschen, nicht verrückt zu werden.

Dann hatte sie auf dieses Inserat in der Zeitung geantwortet und Jimmy zum Teufel gejagt. Jetzt hatte sie ein schönes Häuschen im Grünen, ein eigenes Auto in der Garage und einen Hund, und alle nannten sie Schwester Burke. Alles, was sie hatte tun müssen, war zu versprechen, daß sie den Mund halten und keine Fragen stellen würde. Und das war gar nichts im Vergleich dazu, was man ihr dafür gegeben hatte. Ein richtiges Leben. Und die Arbeit war nicht einmal schlecht, schließlich handelte es sich im Grund ja darum, dem Nächsten zu helfen, es war sozusagen ein gutes Werk. Natürlich brauchte man einen starken Magen dafür, und manchmal war es alles andere als leicht; bei denen, die dort hingebracht wurden, durfte man sich keine Zerstreuung leisten - aber wozu gab es schließlich Beruhigungsmittel?

In dieser Nacht, während Jocelyns Schicht, war ein Neuer gekommen. Eine Überführung aus einem Provinzkrankenhaus, wie so viele andere auch. Jocelyn wußte inzwischen, wie das ablief. Mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit hatte man ihn auf einer Straße herumlaufend aufgegriffen, oder beim Versuch, von einem Brückengeländer abzuheben; man hatte ihn in die Notaufnahme des nächsten Krankenhauses gebracht, wo gerade ein Pädiater oder Dermatologe Dienst hatte, der sehr beschäftigt damit war, das Basketballspiel im Fernsehen zu verfolgen oder auf einer Liege zu schlafen. Der Pädiater oder Dermatologe oder wer-auch-immer im weißen Kittel hatte ihn mit diversen Medikamenten vollgepumpt, hatte ein Telefonat geführt, ihn nett verpackt und mit einem Beipackzettelchen, schön kurz und allgemein gehalten, in die H&B-Klinik geschickt. Theoretisch war die H&B-Klinik ein Fachkrankenhaus, in der Praxis aber kaum mehr als eine Dauerparkzone. Man lud sie dort ab und vergaß sie. Deswegen hatte sich auch niemand besondere Mühe gegeben, die Identität des Patienten in Erfahrung zu bringen. Er war unter dem üblichen "John Doe" in die Kartei eingegangen, und in die Rubrik "Diagnose" hatte jemand ein lapidares "akute Psychose" gekritzelt. Sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihm die Kleider auszuziehen. Für Jocelyn sah er aus wie ein Anwalt aus New York , der sich in einen Querfeldeinlauf verirrt hat: sein maßgeschneidertes Hemd und die teuren Leinenhosen waren schmutzverkrustet, sein Haar hatte ein ähnliches Schicksal ereilt, Schuhe und Socken waren wer-weiß-wo gelandet.

Im übrigen sah er aus wie alle anderen; man hatte ihn ans Bett gebunden, weil er panische Angst vor irgend etwas hatte und es in geschlossenen Räumen nicht aushielt. Von Zeit zu Zeit stöhnte er leise oder flüsterte etwas Unverständliches. Und seine Augen... Jocelyn vermied es grundsätzlich, in die Augen jener zu sehen, die dort landeten, denn sie waren in einem gewissen Sinn nicht mehr menschlich; sie glichen eher jenen von Pferden, groß und glänzend und dunkel und ohne Ausdruck, man konnte nie sagen, was der Typ, dem sie gehörten, gerade dachte. Und das kam vielleicht nicht von ungefähr, denn ganz bestimmt dachten die nicht mehr viel.

Dieses Mal aber schaffte es Jocelyn allerdings nicht, die Augen zu meiden, und was sie sah, berührte sie tief, auch wenn sie nicht hätte sagen können, was es gewesen war. Ganz bestimmt war er noch nicht lange krank, Jocelyn kannte die Zeichen: keine zerstochenen Arme, keine Abschürfungen an den Handgelenken, die darauf hindeuteten, daß er schon länger immobilisiert gewesen war. Und, vor allem, er war noch dumm genug, sich zu wehren, gegen sie und gegen die Wirkung der Medikamente.

Jocelyn bemerkte seine Scham, als sie ihn auszog. Das, was getan werden mußte, mußte getan werden, die Patienten wußten das, und sie wußte das. Er nicht. Er wehrte sich mit von den Medikamenten schwachen und unbeholfenen Gesten. Zum ersten Mal seit langem erinnerte sich Jocelyn wieder daran, daß sie es mit einem menschlichen Wesen zu tun hatte und machte vorsichtiger weiter, versuchte, ihn so zu behandeln, wie sie das mit ihrem Hund gemacht hätte.

**********

Es war ein wunderschöner Tag und die Hauptstadt zeigte sich den Touristen stolz in ihrem vollen Glanz. Die Touristen wiederum würden begeistert und mit Tonnen von Fotos von einer Stadt, in der es keinen Smog gab und in der jeden Tag die Sonne schien, nach Hause zurückkehren. Scully verdrehte die Augen hinter der Sonnenbrille und wartete ungeduldig, bis der Reisebus mit einer Gruppe von Japanern sich dazu durchringen konnte, gewöhnliche Sterbliche passieren zu lassen. Sehr wütende gewöhnliche Sterbliche. Das machten sie absichtlich. Daran gab es keinen Zweifel. Alle zusammen, Scully wußte es. Die Sonne, die sie auszulachen schien, die japanische Regierung, die eine ganze Armee von Bürgern auf Vergnügungsreise vor die Schnauze ihres Ford gebeamt hatte, und Mulder. Vor allem Mulder. Mister "Haltet-die-Welt-an-meine-Schwester-ist-verschwunden!", so gefangen in seinem Schmerz, in der Suche nach seinem persönlichen Heiligen Gral, daß ihm gar nicht auffiel, wie er über die Gefühle aller, die ihn umgaben, trampelte.

Der Bus vor ihr streifte langsam und unaufhaltsam die Seite eines geparkten Kleinlasters, und ein streitbares Brüllen kündigte den unausweichlichen Streit zwischen den beiden Lenkern an. Die Hupgeräusche in ihrem Rücken wurden langsam frenetisch.

Scully nahm die Sonnenbrille ab und massierte sich die Schläfen. Er hatte es wieder getan. Das Shuttle Mulder hatte abgehoben, Ziel unbekannt. Und wie üblich hatte er nicht die geringste Vorstellung davon, was er den Personen, die ihm nahe standen, antat. Also ihr.

Endlich, ein Streifenwagen. Wo war die Polizei, wenn man sie brauchte? Die beiden Männer waren immer noch dabei, sich gegenseitig die grundlegendsten Verkehrsregeln beizubringen, glücklicherweise nur mit Worten. Noch.

Und dabei hatte er einen Ph.D. in Psychologie, einen astronomisch hohen I.Q und eine Geschwindigkeit beim Schlußfolgern, daß sie manchmal schon ins Schwitzen kam, wenn sie ihm nur zu folgen versuchte. Er verstand, wie die verrücktesten Kriminellen dachten, aber auf dem Gebiet der zwischenmenschlichen Beziehungen war er auf dem Niveau eines Fünfjährigen.

Der Bus bewegte sich endlich, und einer der Polizisten winkte den Verkehr vorbei.

In seiner gewohnten Passivität würde er wie immer wieder alles akzeptieren. Es ist meine Schuld, das übliche Mantra. Mit Vollgas geradewegs in den Abgrund. Es war sinnlos zu versuchen, ihn aufzuhalten. Zum Schluß, ganz zum Schluß, würde er sie anrufen und sie würde einen Löffel nehmen und versuchen, die Reste zusammenzukratzen.

Nicht, daß sie nicht versucht hätte, ihn zu Vernunft zu bringen. Sie hatte auf jede nur denkbare Weise versucht, ihn zu überreden, mit ihr nach Washington zurückzukommen. Die ihnen zugestandene Ermittlungszeit war abgelaufen, und die von Di Giacomo eingereichte Klage wegen Verletzung religiöser Freiheit hatte alle Versuche Skinners und Halmonds, sie zu verlängern, im Ansatz niedergeschmettert. Gar nicht zu reden von der anorektischen Version von Mulder und der Tatsache, daß sie immer noch nicht einmal beweisen konnten, daß es Mord gewesen war.

Sie waren nach Washington zurückbeordert worden, aber Mulder hatte Urlaub beantragt, um noch zu bleiben, und Scully konnte sich lebhaft vorstellen, wie Skinner vor Freude im Büro herumgetanzt war - zumindest bis er festgestellt hatte, wofür Mulder den Urlaub verwendete. Und dann war es schon zu spät gewesen, auch, um sich nur die Haare zu raufen - bildlich gesprochen.

**********

Scully parkte und holte ihre Tasche aus dem Kofferraum. Natürlich hätte sie es vorgezogen, bei ihrem Partner - oder wenigstens in der Nähe - zu bleiben. Di Giacomo war hart zu knacken, und der Einfluß, den er auf Mulder ausübte, trieb ihr die Gänsehaut auf den Rücken. Und dann diese Morde... sie wußte, daß es Morde waren, Halmond hatte einen guten Riecher bewiesen, aber sie hatten nichts als Spekulationen in der Hand, Gerüchte und den Tip eines polizeilich bekannten Kriminellen, Ex-

Agenten und alten Freundes von Skinner, und diesen Teil ihrer Ermittlungen wagte sie in ihrem Bericht nicht einmal zu erwähnen. Scully hatte gehorchen müssen. Jetzt konnte sie nur noch Daumen drücken und hoffen, daß ihr Partner die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht enttäuschte.

"Hey, Kleines! Es wird auch langsam Zeit, daß du nach Hause kommst. Was gibt's zum Abendessen?"

Die grauenhafte Humphrey-Bogart-Imitation ließ sie grinsen. Sie wandte sich um und wartete auf der untersten Treppenstufe, bis der Junge auf dem Fahrrad sie erreicht hatte.

"Suppe. Frisch, ganz frisch aus der Tiefkühltruhe. Kann ich dich einladen, Ben?"

Der blonde Engel auf dem Rennrad zog angewidert seine Nase kraus. Ben erinnerte sie in gewisser Weise an Frohike; nicht, daß er große Ähnlichkeit mit ihrem paranoischen Freund hatte, aber gelegentlich schüttelten beide diesen Teddybär-Ausdruck aus dem Ärmel, der in ihr das unwiderstehliche Verlangen weckte, sie zu umarmen und zu drücken. Natürlich hätte sie das nie wirklich gemacht, zum einen wollte sie nicht, daß Frohike die Gelegenheit nutzte, um sie mißzuverstehen, und zum anderen vermutete sie stark, daß Gavin, Bens Lebensgefährte, ziemlich eifersüchtig über sein Revier wachte.

"Also?"

Scully bemerkte überrascht, daß Ben auf eine Antwort wartete. Schlechtes Zeichen: entweder war sie müde oder besorgt, oder sie wurde alt. Wahrscheinlich alle drei gleichzeitig.

"Also was?"

Der Junge schenkte ihr einen indignierten Blick.

"RHPS. Gleiche Zeit, gleicher Ort. Was sagst du?"

Eigentlich hatte Scully den Abend schon verplant: schnelles Abendessen, Fertigstellen des Abschlußberichts in gewohnt perfektem Scully-Stil, also trockene Prosa und keine sinnlosen Fragen, und dann lange schlaflose Stunden im Bett mit dem Handy auf dem Nachtkästchen. Aber Bens Einladung klang verlockend, und das Handy konnte genauso gut in ihrer Jackentasche liegen. Und was den Bericht anging... niemand wartete darauf und niemand würde ihn je lesen.

"Wann?"

**********

Wenn er es nur geschafft hätte, das Leintuch festzuhalten, wenn er es nur geschafft hätte, sich diese unbarmherzigen, schamlosen Hände vom Leib zu halten, wenn er es nur geschafft hätte, seine schmerzenden, nutzlosen Muskel dazu zu bringen, ihm wieder zu gehorchen.

Es war abstoßend. Nicht das, was sie mit ihm machten, sondern das, was er mit sich machen ließ.

Eine Nadel. Eine neue Injektion. Neue Fragen. Er verstand nicht, was sie ihn fragten, aber er war fest entschlossen, nicht zu antworten.

Ein Riß im Putz der Decke. Das Gesicht einer Frau. Einer Frau, die er kannte. Einer Frau, der er geantwortet hätte.

**********

Einen Ort wie diesen hätte ihr Vater augenblicklich von der Polizei räumen lassen. Nicht, daß er ein besonders intoleranter Mensch gewesen wäre, aber seine geliebte Tochter an einem Ort wie diesem zu sehen hätte ihn zu unüberlegten Handlungen verleitet. Als Ben und Gavin sie zum ersten Mal hierhergebracht hatten, war sie selber... beeindruckt gewesen, aber sie hatte schnell gemerkt, daß diese Bande von ausgeflippten Jungen und Mädchen, die sich damit vergnügten, die Grenzen des sogenannten Anstands auszuloten, sauberer waren als viele andere, die den alltäglichen Horror ihres Lebens unter frisch gereinigten Kleidern und akkurat gemähten Vorgärten verbargen. Und was Mulder anging... der hätte das alles für "banal" gehalten.

*Tu mir den Gefallen, Mulder, halt dich aus meinem Leben raus, wenigstens für diesen einen Abend.*

Wie üblich wurde sie begeistert empfangen, obwohl man sie hier als etwas merkwürdig und aufgrund ihrer Arbeit für die Regierung als nicht gerade empfehlenswerter Umgang erachte. Aber auch sie liebte die Rocky Horror Picture Show, und deshalb mußte sie trotz allem in Ordnung sein. Sie besaß eine beeindruckende Sammlung von Eintrittskarten, angefangen von Produktionen kleiner Provinztheater bis zu aufwendigen Broadway-Inszenierungen. Das war genau das, was sie jetzt brauchte um zu entspannen.

Sie schielte kurz nach ihrer Tasche; ja, das Handy war noch da.

**********

Es war Nacht. Ein weißes Licht vor dem Fenster. Ein weißes Licht zwischen den Gitterstäben, auf den Gitterstäben. Nacht.

Dieselben Stimmen. Sie waren wütend. Das erkannte er durch die Art und Weise, wie sie zwischen Decke und Fußboden vibrierten, wild von einer in die andere Ecke sprangen, gegen die Mauern prallten.

Worte in einem Käfig, Worte ohne Bedeutung, Worte mit bösem Klang.

Die Lederriemen taten weh, aber er würde ihnen nicht die Genugtuung geben zu sprechen.

Eine Nadel im Arm. Der Arm brannte, ein Schleier legte sich über seine Gedanken, verwischte die Schatten.

**********

Sie waren hervorragend und gut aufeinander eingespielt. Nur die extravagante Rollenverteilung, nach Talent und persönlicher Vorliebe, aber ohne Rücksicht auf Orginaltreue, war gewöhnungsbedürftig: die Janet dieses Abends war relativ muskulös (obwohl es unübersehbar war, daß sich der Schauspieler an Susan Sarandon inspiriert hatte), und Meat Loafs Rolle wurde von einem zierlichen Mädchen mit Tracy-Chapman-Stimme gespielt. Das Liebespaar war auch in Wirklichkeit eines - zwei furchtbar verliebte Jungs.

Während der Vorstellung gelang es Scully, alles übrige zu vergessen; ein großes, mageres Übriges mit dunklem Haar und irrationaler Dickköpfigkeit. Aber sie lehnte die Einladung auf die anschließende Fete ab. Schließlich konnte ihr Handy ja kaputt sein oder leere Batterien haben oder....

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Nacht. Tag. Hände auf der Haut, Krallen im Hirn.

Rosafarbenes Licht zwischen den Gitterstäben und der Schatten eines Baumes an der Wand. Es war kein schöner, freundlicher Baum, Symbol des Lebens, des Gleichgewichts, der Weisheit. Es war ein böser Baum, skelettgleich, der im Wind pfiff und unter Böen ächzte.

Warum kam die Injektion dieses Mal nicht? Dieses Mal wollte er schlafen. Vergessen. Nie mehr aufwachen.

 

KAPITEL 10

 

Als Jocelyn ihre nächste Schicht begann, wartete eine neue Überraschung auf sie. Der Neue hatte einen Namen bekommen, auch, wenn der ziemlich lächerlich war: Fox Mulder. Seine Karteikarte war korrigiert worden und jetzt stand es da schwarz auf weiß: Fox William Mulder. Die Station war in heller Aufregung, es ging das Gerücht um, daß dieser Mulder ein Typ aus Washington sei, der Sohn eines Politikers oder eines lokalen Don. Mindestens. Auf jeden Fall hatte sich jemand die Mühe gemacht, ein paar Fotos und einen Satz Fingerabdrücke herumzuschicken, und an diversen wichtigen Stellen hatten Alarme losgeheult. Und sofort war die Kavallerie angerückt gekommen, oder besser: die Kavallerien. Zuerst der lokale Scheriff mit zwei Beamten, dann sein Kollege vom benachbarten County und schließlich das regionalen FBI-Büro. Die Federals hatten sich gar nicht erst persönlich herbequemt wie gewöhnliche Sterbliche, sondern hatten umgehend ausrichten lassen, daß einer ihrer Agenten so bald wie möglich vorbeikommen würde. Direkt aus Washington. Das war der Punkt gewesen, an dem der Großteil der Angestellten der H&B-Klinik gewettet hatte, daß der gute Fox der Sohn eines hohen Tiers sein mußte, der wegen irgendeiner Drogensache in diese Scheiße geraten war.

Für Jocelyn allerdings bedeutete all das nur eines: zusätzliche Arbeit. Ein Bad, frische Bettwäsche... und, mager oder nicht, Fox war nicht gerade eine Libelle.

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Jocelyn hatte gerade ihren hart verdienten Kaffee ausgetrunken, als der Agent kam. Sie hatte sich ja nicht gerade Agent Cooper erwartet, aber beim besten Willen nicht ihre Mathematiklehrerin aus der High-School. Deshalb las sie das ID vor ihrer Nase auch sicherheitshalber von oben bis unten. Special Agent Dana Scully war eine kleines, graziöses, makelloses Ding in blau, ohne Emotionen und in großer Eile, aber Jocelyn hatte zu viel Erfahrung mit Gesichtern und Schweigen, um sich täuschen zu lassen. Sie hätte jederzeit geschworen, daß die kleine Dana sehr schnell die Krallen ausgefahren hätte, wenn sie jemand aus welchem Grund auch immer daran gehindert hätte, augenblicklich Fox Mulder zu sehen. Während sie ihr den Weg zeigte, fragte Jocelyn sich insgeheim, ob ihr Interesse wirklich ausschließlich rein beruflicher Natur war. Und antwortete sich mit nein.

**********

Scully war müde von der Reise, aber zu aufgeregt, um das zu merken. Natürlich war sie glücklich zu wissen, daß Mulder lebte, aber zu hören, daß er in einer psychiatrischen Klinik war, hatte sie nicht gerade beruhigt. Im Büro mochten sie sich auch darüber lustig machen, aber Scully kannte Mulder gut genug um zu wissen, daß nicht viel, wirklich nicht viel nötig war, um das sensible innere Gleichgewicht zu zerstören, das sich ihr Partner im Laufe der Jahre konstruiert hatte.

Skinner hatte sie um drei Uhr nachts aus dem Bett geholt, doch er hatte ihr nicht viel sagen können; nur, daß Mulder in einem Krankenhaus nahe Braxton wieder aufgetaucht war. Zum Glück ging der Primar mit dem Scheriff der Gegend fischen, und der Scheriff wiederum nannte einen Computer sein eigen... Es hatte zwei ganze Tage gedauert, aber zum Schluß hatte das Telefon auf Direktor Skinners Schreibtisch doch geklingelt.

In Braxton angekommen hatte sie die hartnäckigen Fragen des Scheriffs, des Klinikdirektors und des Arztes, der Mulders Kartei ausgefüllt hatte, über sich ergehen lassen müssen; wenn auch noch die Krankenschwester glaubte, ihre Nase da reinstecken zu müssen, würde sie sie leider erwürgen müssen. Doch zum Glück beschränkte sie sich darauf, aufmerksam ihren Ausweis zu lesen und führte sie dann durch einen langen, kahlen Korridor zu einer Metalltür mit einem Guckloch auf Augenhöhe. Auf Augenhöhe von jemand anderem. Scully schnaubte verächtlich, während die Schwester mit dem Schlüssel herumhantierte und stürmte dann in den Raum.

**********

Scully fand sich in einem von der morgendlichen Sonne lichtdurchfluteten Zimmer wieder. Am Fenster vor ihr saß im Gegenlicht Mulder, in einem Holzstuhl, der zur Tür gedreht war. Sie wartete nicht, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, sondern ging sofort auf ihn zu. "Mulder? Endlich, Mulder... geht es dir gut?... Mulder?"

Sie kannte ihn lange genug, um zu wissen, daß er einer der wenigen Personen war, die sich so auf eine Sache konzentrieren konnten, daß sie alles um sie herum vergaßen. Aber dieses Mal war es nicht das. Für einen Augenblick blieb ihr Blick an den Gitterstäben vor dem Fenster hängen. Das war nicht weiter ungewöhnlich, wenn man bedachte, daß sie sich in einer psychiatrischen Anstalt befanden, aber einen Moment lang hatte Scully vergessen, daß sie sich eigentlich darüber wundern mußte, daß sie sich in einer psychiatrischen Anstalt befanden.

Das zweite, was Scully besorgt feststellte, war, daß man ihm die Haare praktisch bis auf die Kopfhaut rasiert und ihn in eine Art graues, grobes Pyjama gesteckt hatte. Und dann, als sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah sie ihn richtig und fragte sich, was sie denn für eine FBI-Agentin war, wenn sie so lange gebraucht hatte, um es zu merken.

Er war angebunden. Breite Lederriemen banden seine Handgelenke so fest an die hölzernen Armlehnen, daß die Venen an seinem Handrücken hervortraten. An den Sprunggelenken dasselbe. An den Füßen trug er Segeltuchschuhe, aus denen man die Schuhbänder entfernt hatte.

"Mulder", flüsterte sie und kniete sich vor ihm hin, um sein Gesicht zwischen die Hände zu nehmen. "Mulder, hörst du mich?"

Sie streckte den Arm aus, um einen Stuhl herzuziehen, aber der war am Boden festgenagelt.

"Mulder.", wiederholte sie leise.

"Das bin ich.", antwortete er ihr, fast ohne die Lippen zu bewegen.

Sie zwang ihn, ihr in die Augen zu schauen. "Ja. Und du weißt auch, wer ich bin, nicht wahr?", fragte sie mit zitternder Stimme. Mulder deutete ein müdes Lächeln an, sagte aber nichts. "Was haben sie mit dir gemacht, Mulder?"

"Ich... weiß es... nicht. Ich habe... Schwierigkeiten, mich zu... erinnern." Er sprach langsam und, dem Schweißfilm auf seinem Gesicht nach zu schließen, mit Mühe.

"Weißt du, wo du bist?"

"Injektionen... die geben mir... Injektionen."

Scully ließ sein Gesicht los und machte sich an den Riemen zu schaffen. Dann schob sie einen Arm unter seine Schulter, um ihm aufzuhelfen und stellte fest, daß sie all ihre Kraft aufwenden mußte, um das zu schaffen. Als sie endlich auf der Bettkante saßen, hielt sie ihn immer noch fest.

"Besser?"

Er wandte sich halb um, um sie anzusehen.

"Bring mich weg von hier."

"Ich werde mein Möglichstes tun." Sie sah die Verzweiflung in seinen Augen und fuhr fort, "Die Zwangseinweisung ist aufgrund richterlicher Anweisung erfolgt, du mußt mir schon etwas Zeit geben."

Sie fragte sich, ob er überhaupt verstand, was sie sagte.

"O'Reilly."

Scullys Herz übersprang ein paar Schläge. Er erinnerte sich. Aber war es gut, daß er sich gerade an O'Reilly erinnerte?

"Wir haben ihn tot aufgefunden. Kopfschuß. Die Mordwaffe wurde am Tatort zurückgelassen, Seriennummer ausgefeilt, das Übliche eben. Wir haben keine Ahnung, wer es gewesen sein könnte. Aber wir haben den Mann verhaftet, der Bawinsky getötet hat, einer von O'Reillys - Di Giacomos Speichelleckern. Er hat eine elektronische Vorrichtung benutzt, die... irgendwie... die Ruptur eines Hirnbasis-Aneurysmas hervorgerufen hat. Das Merkwürdigste an der Sache ist aber, daß nicht einmal Bawinsky selber von dem Aneurysma wußte, obwohl er es wahrscheinlich schon seit langer Zeit hat. Vielleicht hatten sie nicht einmal geplant, ihn umzubringen. Was die anderen betrifft haben wir immer noch keine Spur, die Di Giacomo mit den Morden in Verbindung bringt; aber ich bin immer noch fest davon überzeugt, daß das keine Selbstmorde waren."

Scully vermied es hinzuzufügen, daß sie sich dessen noch sicherer war, seit sie gesehen hatte, was mit Mulder passiert war.

"Hast du mich gehört, Mulder?" fragte sie leise.

"Bitte... hol mich hier raus. Raus."

Scully umarmte ihn und streichelte seinen Rücken. Mulder legte den Kopf an ihre Schulter.

**********

"Warum haben die ihn in eine Irrenanstalt gesperrt?" Skinner verlor keine Zeit mit Geschwätz. Die Stimme am anderen Ende der Leitung zitterte. "Nun, ich kann nicht sagen, daß sie... absolut falsch entschieden haben.", antwortete Scully und wünschte sich gleichzeitig, in der Erde zu versinken. Der Vizedirektor fragte sich einen Augenblick lang, ob er nicht vielleicht mit irgendeinem außerirdischen Klon telefonierte, der den Platz von Mulders Partnerin eingenommen hatte. "Daß sie nicht absolut falsch entschieden haben, Agent Scully?"

"Natürlich will ich damit nicht sagen, daß ihn dort drinnen zu lassen die Lage verbessern würde, aber um ihn da rauszuholen, müßte ich eine Sache beweisen, die so nicht zutrifft, nämlich, daß Mulders Psyche... normal ist."

"Was?!"

"Sir, ich möchte nicht, daß Sie mich falsch verstehen. Es ist nur so, daß die medikamentöse Therapie, die er in dieser Klinik erhalten hat, seinen Zustand noch verschlechtert; das ist... wie eine Katze, die sich in den Schwanz beißt."

Konnte sie ihm erzählen, was Di Giacomo Mulder angetan hatte? Und wenn sie das getan hätte, hätte er ihr geglaubt?

"Scully." Stille und das Geräusch eines Martinshorns in den Straßen der Hauptstadt. "Scully, haben Sie irgendeine Idee, um dieses... Problem... zu lösen?"

Scully atmete tief durch. "Sind Sie sicher, daß Sie das wirklich wissen wollen?"

Beide hängten gleichzeitig auf. Scully wählte die Nummer, die ihr die Lone Gunman gegeben hatten. Tatsächlich war Skinner nicht ihr erster Gedanke gewesen, als sie die Klinik verlassen hatte.

**********

Das Telefon läutete zweimal.

"Ja?"

Es war einen weibliche Stimme, fest, volltönend, ohne Akzent, ohne Eile, ohne besondere Emotion; eine einfache Antwort, kurz, unpersönlich.

Dana fragte sich zum millionsten Mal, wie weit sie gehen konnte, was sie verschweigen sollte. *Höflichkeit kann nie schaden.*, sagte sie sich. "Guten Tag, mein Name ist Dana Scully. ich bin..."

"Sie haben ihn also gefunden." Erleichterung, Vorwegnahme, vielleicht eine Spur Sorge.

"Ich weiß nicht, ob wir von der gleichen..."

"Dana, mir wurde gesagt, daß Sie gut sind. Können Sie ihn herausholen?" Eine freundliche Zurechtweisung mit geschäftlichem Unterton.

Scully biß die Zähne zusammen; es gefiel ihr gar nicht, das Steuer einer Unbekannten zu überlassen. Andererseits waren es die Lone Gunman gewesen, die diesen Kontakt zustandegebracht hatten, und sie hätten Mulder niemals geschadet. Zumindest nicht wissentlich. Aber ohne es zu wissen? Oder im Austausch gegen etwas so unschätzbar Wertvolles wie die Wahrheit? Etwas, wofür Mulder selber sein Leben gegeben hätte?

"Hören Sie mich, Dana? Können Sie ihn da herausholen?"

"Nein."

"Ich verstehe. Wo sind Sie jetzt, in welchem Staat?"

"Maine."

Stille. Undefinierbarer Lärm im Hintergrund.

"In drei Stunden im Blue Boy, New York City."

"Was ist das?"

"Eine Bar." Vergnügen. Es schien ihr Spaß zu machen.

"Die Adresse?"

"Dana. Ich frage mich, wofür unser Staat die Steuern ausgibt."

Klick.

Scully schaffte es nicht, ein gereizte Lachen zu unterdrücken. Sie war dabei, sich selber und ihren Partner einer Unbekannten anzuvertrauen. Einer Unbekannten mit einem merkwürdigen Sinn für Humor.

**********

Scully saß an der Theke in ihrem flaschengrünen Kostüm und mit einem analkoholischen Drink vor sich, den sie nicht einmal zu kosten gedachte, und konnte nicht umhin sich vorzustellen, wie sehr sich Mulder amüsiert hätte, sie so zu sehen. Sie in bestem FBI-Outfit hier sitzen zu sehen, während sie versuchte, sich nicht von einer Herde besessener weiblicher Wesen jeder Altersgruppe überrennen zulassen, die kurz vor dem Delirium standen, weil auf der kleinen Bühne solariumgebräunte und fitneßclubgestählte Musekelberge nicht mißzuverstehende Verrenkungen machten.

Scully war noch nie in einem derartigen Lokal gewesen, es gehörte nicht gerade zu jenen Plätzen, die eine katholisch erzogene junge Dame aus gutem Haus üblicherweise frequentierte; Mulder hätte das natürlich mit Hinweis auf den Boomerang-Effekt der sexophobischen Religionen bestritten. Er hätte es ihr ins Ohr geflüstert, wenn sie es am wenigsten erwartete, auf seine eigentümliche Art, die ihn immer wieder ihre Intimsphäre eindringen ließ. Er hätte sein schmutzigstes Lächeln gelächelt und sie hätte ihn mit ihrem inzwischen patentierten zurechtweisenden Blick angesehen und eine angemessene Bemerkung über seine Videokollektion gemacht. Das Bild des verängstigten Mannes, der einst ihr Partner gewesen war, eingesperrt in dieser Klinik, ließ ihre Augen brennen.

*Hör auf damit, Dana. Verdammt, du redest von ihm, als sei er tot.*

"Sie waren pünktlich. Setzen wir uns an einen Tische?"

Die Frau, der die Stimme gehörte, die sie am Telefon gehört hatte, führte sie zu einem der kleinen Tische im Halbdunkeln. Sie waren etwas weiter von der Bühne entfernt, und die Besucherinnen konnten sich hier unterhalten, ohne schreien zu müssen. Die hier saßen schienen mehr an dem interessiert, was sie in ihren Gläsern hatten, als an dem, was auf der Bühne vor sich ging. Scully musterte die Frau interessiert. Sie sah relativ durchschnittlich aus und fühlte sich offensichtlich in dieser Umgebung bedeutend wohler als sie selber. Sie war um die vierzig, von mittlerer Statur - also ungefähr eine Handbreit größer als sie -, hatte braunes, krauses Haar, das ihr auf die Schultern fiel, dunkle Augen und ein eckiges Gesicht, das nicht gerade den gängigen Schönheitsidealen entsprach. Und sie war nicht geschminkt. Zu ihren blauen Samthosen trug sie einen weiten Pullover derselben Farbe und eine Regenjacke, die Scully schon einmal im Schaufenster eines italienischen Designer in Washington gesehen hatte. Während sich der Kellner mit ihren Bestellungen und ziemlich wenig am Körper wieder entfernte, beschloß Scully, das Eis zu brechen.

"Sie hatten offensichtlich keine Schwierigkeiten, mich zu erkennen."

"Wie schon gesagt, ich verstehe nicht ganz, wofür unsere Regierung die Steuergelder ausgibt. Ich hoffe, ihre Bemerkung war nur ein höflicher Versuch, ein Gespräch zu beginnen, und keine wirklich signifikante Äußerung."

"Tatsächlich." Scully schnaubte. Wann hatte sie eigentlich zum letzten Mal geschlafen? "Aber lassen Sie uns auf den Punkt kommen. Ich weiß nichts über sie, während Sie alles über mich zu wissen scheinen. Und darüber hinaus verstehe ich nicht, warum... warum mir geraten worden ist, mich mit meinem... Problem... an Sie zu wenden."

Der Ausdruck der Frau wurde ernst.

"Sie haben recht, ich sollte mich wirklich langsam vorstellen. Mein Name ist Sandra Jacobs, ich besitze einen Laden, unten an der East Side, der sich mit Innenarchitektur beschäftigt. Aber wie sie sicher schon erraten haben, verbringe ich den Großteil meiner Zeit nicht mit Möbeln."

Der Kellner brachte einen Scotch und ging wieder, elegant durch die übermütige Menge vor der Bühne navigierend. Keine der beiden Frauen beachtete ihn. "Und da ich wirklich alles über Sie weiß, sollten Sie wirklich auch etwas über mich erfahren." Die Frau lächelte traurig und fuhr fort: "Mein Mann stammte aus dem Iran. Seine Familie war aufgrund... liberaler Ideen vom Regime Rheza Palevis verfolgt und ins Exil verbannt worden. Nach der Revolution kehrten sie in ihre Heimat zurück, aber... nun ja, sie hatten wieder kein Glück. Seine Eltern beschlossen, trotzdem im Iran zu bleiben, aber Jim... Jim war hier geboren und aufgewachsen, er hatte einen Job hier und nach ein paar Jahren auch eine Frau." Sie lächelte bitter. "Aber sie kamen oft in die Staaten. Einmal im Jahr mindestens... Eines Tages wurde er verhaftet, zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder. Für die Regierung der Ayatollahs war er ein gefährlicher Extremist, für unsere Regierung ein gefährlicher... Araber. Nach sechs Monaten konnte ich ihn wieder mit nach Hause nehmen. Sie hatten ihn gefoltert. Er hat es nicht geschafft, den Alptraum hinter sich zu lassen. Eines Morgens habe ich ihn am Lampenschirm unseres Vorzimmers erhängt gefunden. Seit damals sind 13 Jahre vergangen, und ich bin Expertin auf diesem Gebiet geworden. Meine Gruppe kümmert sich um Menschen, die Folter und Mißhandlungen ausgesetzt waren, hier, in den USA." Jacobs nippte an ihrem Drink und fuhr dann fort: "Unsere gemeinsamen Freunde müssen gedacht haben, ich könne ihrem Partner helfen."

"Ihre... Patienten kommen aus der ganzen Welt?"

"Falsch. Unsere Patienten kommen ausschließlich von hier, aus unserem Land. Wir sind keine wie man so schön sagt 'staatlich anerkannte Organisation'. Ihr Federals zum Beispiel versorgt uns mit vielen unserer Kunden, auch wenn sie nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz von jenen darstellen, die uns eure Cousins von der Agency liefern. Und ich muß zugeben, daß ich gar nicht in Erwägung gezogen hätte, euch zu helfen, wenn ich Mulders Ruf nicht gekannt hätte."

"Ich verstehe nicht ganz, warum Sie sich so sicher sind, daß mein Partner gefoltert wurde. Es gibt keine Anzeichen für..." Scully stoppte verlegen mitten im Satz.

"Moment, Sie müssen mich falsch verstanden haben, Miss Scully. Meine Gruppe arbeitet nicht mit Opfern physischer Gewalt. In den letzten Jahren wurden einige derartiger Rehabilitationzentren eröffnet, und einige von ihnen leisten hervorragende Arbeit. Wir hingegen kümmern uns um jene Menschen, denen psychische Gewalt angetan wurde; auch wenn die psychische Folter inzwischen auch von der WHO als solche anerkannt wird, wird sie im Therapiebereich immer noch vernachlässigt. Im Gegensatz zur körperlichen Mißhandlung hört die psychische Folter nicht mit dem Moment der Freilassung auf, sondern kann tiefe Veränderungen in der Persönlichkeit und im Charakter eines Individuums hervorrufen. Und Psychiater und Psychotherapeuten sind im allgemeinen nicht ausgebildet, um solche Störungen zu behandeln, weshalb viele Patienten in Krankenhäusern oder Anstalten enden, ohne Chance, jemals wieder hinauszukommen. Aus diesem Grund hat unser Projekt auch großen Anklang gefunden, und wir sind längst nicht mehr imstande, alle Hilfesuchenden auszunehmen oder ihnen adäquate Therapien zu bieten."

Jacobs musterte Scully aufmerksam und schüttelte dann langsam den Kopf.

"Sie müssen sich keine Vorwürfe machen, Dana. Jetzt denken Sie vielleicht an ihren Alltag, an all die gewöhnlichen Dinge, die Sie getan haben, während ihr Partner versucht hat, die Hölle zu überleben. Was er durchgemacht hat, während Sie geduscht haben, gegessen, oder Musik gehört haben..."

Scully biß sich auf die Lippe und versuchte sich, auf den blonden Elektriker auf der Bühne zu konzentrieren, der unter lautem Beifallsgeschrei eine ziemlich ausgefallene Art vorführte, um Isolierband zu verwenden.

"Sie haben ihn in der Nähe von Portland gefunden?"

"Ja, in einer..."

"Ich weiß. Die H&B-Klinik ist ein Plätzchen, das wir ziemlich gut kennen."

"Wer leitet sie?"

"Das ist unwichtig. Es ist einfach eine Klinik, wo wenig getan wird und wenig Fragen gestellt werden."

"Was werden wir tun?" Dana fühlte sich nicht wohl dabei, eine solche Frage zu stellen; sie entsprach so gar nicht ihrer Art. Jacobs zeichnete mit der Spitze ihres rechten Zeigefingers die Konturen ihres Glases nach.

"Es wäre besser, wenn Sie nicht wüßten, was ich vor habe. Halten Sie sich da raus. Und lassen Sie sich morgen nacht von vielen Leuten sehen, gehen Sie auf eine Party, in ein Theaterstück, und gehen Sie in Begleitung hin. Ich werde von mir hören lassen."

Sie stand plötzlich auf und verschwand mit einem unverbindlichen Lächeln in der Menge.

**********

Im Hauptquartier des FBI ging das Gerücht um, daß Skinner nicht immer wütend war. Und Skinner wußte das sehr gut, er war sogar ziemlich zufrieden mit dem Ruf, den er genoß. Und er wußte sehr wohl, das dieses Gerücht all seiner Grundlagen beraubt war, wenn Fox Mulder ins Spiel kam.

Es gab Tage, an denen er sich wünschte, Mulder sei nur einer der vielen Agenten, die seinem Befehl unterstanden, ein sehr talentierter Agent zwar, aber immer noch ersetzlich. Er hatte solche Leute in seiner Abteilung. Das FBI besaß eine Menge ausgezeichneter Agenten, wirkliche Experten; der Großteil von dem, was man in der Zeitung las, waren pure Märchen. Oft betrachtete die Presse die Sachen nur oberflächlich. Es stimmte, daß Schnitzer gemacht worden waren, daß es ewige innere Kämpfe und politische Spielchen gab, aber all das war dasselbe, was auch außerhalb des Büros anzutreffen war. Und darüber hinaus hatte Skinner an jenen diplomatischen Menuetts teilgenommen, hatte mit Krallen und Zähnen gekämpft, um seinen Teil des FBI aus dem Sturm zu halten.

Und das alles, um sich mit einem kleinen Hurrikan vor der Haustür wiederzufinden. Mulder war heiß in seinem eisigen Kellerloch, und außerdem ein Unikat. Wenn Skinner von Mulder Berichte über "normale" Fälle aus Hollywood haben hätte wollen, wäre er jetzt ein reicher Mann gewesen, seine Kollegen hätten die ewige Story von Mr und Mrs Spooky schon längst fallengelassen., und es gäbe eine Menge weniger Kriminelle, die frei herumliefen.

Skinner nahm das Telefon, wählte eine interne Nummer und knurrte zwischen zusammengebissenen Zähnen: "In mein Büro. Sofort."

Als Scully das Büro des Direktors betrat, war sie etwas außer Atem, aber das kam hauptsächlich von der Anspannung und weniger von der Tatsache, daß sie geflogen sein mußte, um in so kurzer Zeit herzukommen. Skinner hielt sich nicht damit auf, ihr einen Stuhl anzubieten, sondern wandte sich in seinem Bürosessel sofort ihr zu. Scully blieb vor dem Schreibtisch stehen.

"Mulder ist verschwunden."

Scully hoffte verzweifelt, wirklich alle Basen gedeckt zu haben.

"Verschwunden, Sir?"

"Er hat es fertiggebracht zu fliehen. Mit etwas Unterstützung. Die Sache war gut inszeniert, keiner hat etwas gesehen oder gehört - bis auf eine Schwester. Oder sagen wir, wir hoffen, daß sie etwas gesehen hat. Denn in jener Nacht hat sie jemand gefesselt, mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt und sie in einen Putzschrank gesperrt. Sie wird erst morgen früh wieder in der Lage sein, eine Aussage zu machen. Darf ich Sie fragen, wo sie die letzte Nacht verbracht haben, Agent Scully?"

Scully ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und spielte den Part, den sie vorbereitet hatte.

"In einem Konzert, mit meiner Mutter und meinem Bruder Bill. Carmina Burana, Sir, der Chor war bemerkenswert."

"Der Chor, sicher. Und danach?"

"War ich bei meiner Mutter, Sir. Bill ist nur für ein paar Tage in der Stadt, und wir haben uns wirklich schon ewig nicht mehr gesehen."

Skinner sah auf die offene Akte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag und legte die Handflächen auf die polierte Oberfläche. "Es ist wohl überflüssig, Sie daran zu erinnern, daß Mulder jetzt auf der Liste der potentiell gefährlichen Gesuchten steht. Sie wissen doch, was das bedeutet, oder?"

"Natürlich, Sir."

"Nachdem er trotz Zwangseinweisung aus der geschlossenen Abteilung einer Klinik geflohen ist, könnte er im Falle seiner Ergreifung unter Umständen den Rest seines Lebens dort verbringen."

"Dessen bin ich mir bewußt, Sir."

"Deshalb frage ich Sie, Agent Scully: wissen Sie, wo Agent Mulder sich in diesem Moment aufhält."

"Nein, Sir."

Scully konnte nicht umhin festzustellen, daß Skinner seine Frage sehr präzise, knapp und detailliert gestellt hatte; keine vage Frage, er hatte ihr viele Möglichkeiten gelassen, ohne sie zum Lügen zu zwingen. Er hatte sie nicht gefragt, ob sie etwas von der Sache wußte, er hatte sie nicht gefragt, ob Mulder sie kontaktiert hatte, oder ob jemand anderes das für ihn getan hatte. Nichts dergleichen. Eine direkte Frage, eine direkte Antwort.

"Sie können gehen."

"Danke, Sir."

Scully bewegte sich nicht, in der Hoffnung, der andere hätte die Bedeutung ihrer Aussage verstanden. Skinner hob den Kopf, um ihrem Blick zu begegnen und nickte langsam. Erst dann ging Scully.

**********

Scullys Handy hatte sieben Tage später geläutet, und als sie am Ende des Gesprächs wieder auflegte, dankte sie dem Himmel, daß es ihr erspart blieb, Skinner, dem Büro und der IRS erklären zu müssen, warum sie plötzlich den unwiderstehlichen Drang verspürte, wieder nach New Mexico zu fliegen.

Scully hatte diese Woche dazu verwendet, die Bemerkungen zu überhören, die im Büro die Runde machten. Weißt du das Neueste? Spooky ist endgültig verrückt geworden. Dieses Mal sperren sie ihn endgültig ein. Dieses Mal.

Und dann hatte sie endlich die New Yorker Adresse bekommen. Sandra hatte sie höchstpersönlich vom Flugplatz abgeholt. Scully hatte nicht nach den Details von Mulders Befreiung gefragt und bekam auch keine Antwort auf diese Frage, aber Sandras Widerstreben, über Mulders Zustand zu reden, beunruhigte sie.

"Es geht ihm gut." Sagte sie einfach, und brachte sie zu einem scheinbar verlassenen Haus am Stadtrand.

"Bist du sicher, daß das Auto noch dasteht, wenn wir wieder herauskommen?", fragte Scully, als sie die Beifahrertür zuschlug.

"Chaky ist sehr mißtrauisch, was fremdes Eigentum angeht.", antwortete Sandra und deutete mit dem Kopf auf eine merkwürdige Gestalt, die zusammengekauert auf dem Randstein des Gehsteigs vor dem Haus saß.

Sie stiegen ein paar Treppen hoch, sich ihren Weg durch Berge von Müll bahnend; ein knochiges, vielleicht zwanzigjähriges Mädchen lächelte ihnen zu, als sie sich im Korridor kreuzten. Sandra klopfte an die einzige ganze Tür auf dieser Etage, und die schwarzhaarige und freundliche Version von Chaky öffnete, um sie warmherzig zu begrüßen. Die beiden Frauen traten in ein großes, spartanisch eingerichtetes Zimmer. Auf der rechten Seite des Raumes standen eine Couch und ein niedriger Schrank, vor ihnen ein Tisch, der unter Kabeln und elektrischen Apparaten fast zusammenbrach, zu ihrer Linken ein Schreibtisch mit einem Computer und hinter dem Computer, die Hände auf den Tisch gestützt und ganz auf den Bildschirm konzentriert... Mulder. Der Mann, der am Computer saß, war gerade dabei, ihm etwas zu erklären, und eine ganze Weile sah keiner der beiden hoch.

Scully hatte so Gelegenheit, ihn genau zu betrachten; und das, was sie sah, gefiel ihr überhaupt nicht. Wie er da stand, makellos wie sein blauer Anzug, das blütenweiße Hemd und die in verschiedenen Blautönen gestreifte Krawatte, schien er der Inbegriff der Entschlossenheit. Aber er war bleich, sehr bleich, seine Kiefermuskeln schienen keine Ruhe zu finden und seine Augen, riesig, glänzten. Das war nicht richtig, nicht, wie es immer war.

Die beiden dunklen Seen hoben sich zu ihr und für einen Augenblick schien Mulder Schwierigkeiten zu haben, sie zu erkennen. Dann lächelte er und durchquerte mit drei schnellen Schritten den Raum, um sie zu umarmen.

"Endlich!", sagte er leise zu ihr, "Komm, ich muß dir etwas zeigen."

Er nahm sie am Ellenbogen und zog sie zum Computer.

Scully wehrte sich nicht, wandte ihren Blick aber nicht von ihm.

"Wie geht es dir, Mulder?"

"Sieh mal. Ist das nicht unglaublich?"

Es war schwer, seinem Enthusiasmus zu widerstehen, wenn man ihn genau ansah, konnte man die Rädchen in seinem Hirn sich in schwindelerregendem Tempo drehen sehen. Scully senkte ihren Blick auf den Bildschirm; er zeigte eine lange Liste von Zahlen, drei Zeilen von Ziffern, dann eine Leerzeile, und so weiter bis ins Unendliche. Was immer das auch sein mochte, es war mit Sicherheit verschlüsselt.

"Was ist das?"

"Es sieht ganz so aus, als ob die Lone Gunman eine Menge kleiner Geschwister haben." Mulder nah dem anderen die Tastatur weg und ließ die Liste über den Bildschirm laufen. "Sieh nur. Und das sind nur die Gruppen, die in dieser Gegend aktiv sind. Sandra hat dir doch von ihrer erzählt, nicht?" Er wartete gar nicht auf eine eventuelle Antwort. "Das ist phantastisch. Ich habe diese Leute kontaktiert und.... hey, da ist ja schon die Antwort!"

Scully sah abwechselnd auf die endlose, nichtssagende Liste von Zahlen und zu ihrem Partner. Ein vertrautes Gefühl machte ihr eine Gänsehaut. Nach einem kurzen Boxenstop war Mulder wieder auf der Strecke und raste mit Höchstgeschwindigkeit auf eine Stahlbetonmauer zu.

"Sehr gut. Wir können gehen."

Mulder rannte auf die Tür zu und der Lächelnde Chaky folgte ihm gehorsam, so als ob er an einer unsichtbaren Leine gehalten würde.

"Mulder!", rief Scully ihm nach.

"Ich rufe dich an, okay?"

Und weg war er.

Scully stand da, ballte die Fäuste und starrte auf die Tür. Stehengelassen. Zum hundertsten Mal.

Flug Mulder Fox William, hier Bodenkontrolle, kommen. Hier Flug Mulder Fox William, wir sind im Steilflug, hört auf zu nerven, Bodenkontrolle.

Scully atmete tief durch und spielte einen Moment lang das uralte Ich-zähle-jetzt-bis-zehn-und-dann-

werde-ich-richtig-wütend-Spiel. Dann sagte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen:" Ich sollte froh sein... trotz allem. Ihr habt wunderbare Arbeit geleistet."

Sandra setzte sich und schlug die Beine übereinander.

"Glauben Sie?"

Scully bemerkte den bitteren Unterton und drehte sich zu Sandra um.

"Ja. Sie nicht?"

"Nun, angesichts der Tatsache, daß wir absolut gar nichts gemacht haben, wage ich... zu zweifeln."

"Was meinen Sie mit 'nichts'?"

"Mit `nichts' meine ich 'nichts'. Oh, ja, wir haben ihm ein paar Pflaster hierhin und dorthin geklebt, und wir haben dafür gesorgt, daß er einen ruhigen Platz hat, um die Wirkung der Drogen auszuschlafen. Ach ja, und dann hat einer unserer Therapeuten ein paar Nachmittage lang damit verbracht, sich von Mr Entschuldigt-Leute-aber-ich-habe-in-Oxford-studiert an der Nase herumführen zu lassen."

"Also glauben Sie, daß Ihre erste Einschätzung falsch war? Daß Mulder nicht..."

"Nein. Keineswegs. Ich glaube, daß Di Giacomos Behandlung Erfolg gehabt hat. Nicht den Erfolg, den Di Giacomo oder wer immer ihn bezahlt hat im Sinn gehabt hat, weil es uns ja gelungen ist, ihn aus der Klinik zu holen, bevor es zu spät war, aber immerhin Erfolg in dem Sinn, daß es ihm gelungen ist, ihn zu ändern."

Scully verschränkte die Arme und ging zum Fenster, ohne die große Fabrikshalle aus Backstein mit dem eingestürzten Dach zu sehen. Sie brauchte bestimmt keine Experten, um zu merken, daß er sich verändert hatte; schließlich war sie selber Mulderismus-Experte.

"Ich verstehe das nicht.", sagte sie nach einer kurzen Pause, "Ich meine, ich weiß genau, daß der ganze Scheiß, den man in James-Bond-Filmen sieht, Blödsinn ist."

"Das stimmt. Aber Sie vergessen, daß Mulder kein normaler Mensch ist. Es ist nicht nötig, ihn einer Gehirnwäsche zu unterziehen, es reicht völlig, bei nebensächlichen, latenten Charakterzügen anzusetzen, um sie zum Leben zu erwecken und sie zu verstärken, bis die Grenze überschritten ist und er zusammenbricht. Ich hatte Gelegenheit, seine Akte zu lesen; wie Sie sicher wissen, muß jeder Psychologiestudent sich in der Ausbildung zum klinischen Psychologen selber analysieren lassen... und fragen Sie jetzt bitte nicht, wie ich an die Akte gekommen bin... jedenfalls weiß ich jetzt, daß das psychische Gleichgewicht ihres Partners schon immer ziemlich labil gewesen ist; in Streßsituationen hat er schon einige Male Borderline-Reaktionen gezeigt. Es liegt natürlich nahe, anzunehmen, daß Di Giacomo dieselben Informationen hatte und sie als Basis benutzt hat, um seine Strategie zu entwickeln."

Die Teile fügten sich langsam zu einem Ganzen. Theoretisch verstand Scully, wie alles abgelaufen war, aber dieselbe wissenschaftliche Rationalität machte es ihr unmöglich zu glauben, daß jemand so leicht manipuliert werden konnte, vor allem jemand wie Mulder, jemand, der wirklich gut in seinem Job war, und der zum Schluß mehr einem von den Jägern in die Enge getriebenem Tier geähnelt hatte als einem Menschen. Als sie ihn so in der Klinik gesehen hatte, war ihr ein alter Manfred-Mann-

Song in den Sinn gekommen, "Sweet Fox On The Run"; es war lächerlich, aber sie schaffte es nicht, das Lied aus ihrem Kopf zu verscheuchen.

"So einfach kann das nicht gehen."

"Nein, das stimmt.", erwiderte Sandra und stand auf, um zu dem niedrigen Schrank an der Tür zu gehen, auf dem ganze Stapel von Papieren lagen. "Das, was ich ihnen erzählt habe, erklärt, was Di Giacomo mit Mulder gemacht hat, aber nicht die kurze Zeit, in der er das geschafft hat. Auch wenn man davon ausgeht, daß Di Giacomo eine wirklich einzigartige Persönlichkeit hatte - und ich finde, das trifft durchaus zu -, wenn man sein unbestreitbares Können und seine jahrelange Erfahrung bedenkt, hätte der Manipulationsvorgang Monate beanspruchen müssen. Und das auch nur, wenn der 'Patient' willens gewesen wäre, aktiv mitzuarbeiten."

Sandra hatte ihre Wühlerei beendet und kam mit einem bemerkenswerten Stapel von Dokumenten zu Scully zurück. Während sie weitersprach, sah sie nach und nach die Papiere durch.

"Mulder ist nicht das erste Opfer von Di Giacomo, das zu uns kommt. Aber bisher hat seine 'Therapie' immer so gut funktioniert, daß wir nicht in der Lage waren, mit diesen Leuten zu arbeiten. Wir haben aber herausgefunden, daß er tatsächlich einen solchen Apparat verwendet, wie sie ihn beschrieben haben."

"Und das wäre?"

"Wenn wir das wüßten! Wir haben noch nie einen in die Finger bekommen, aber wir vermuten, daß es sich um eine Art... Chip handelt, der, mit einer Lichtquelle verbunden, eine Serie von Impulsen von 8 oder 10 Hertz produziert. Die Frequenz ist zu niedrig, um vom menschlichen Auge wahrgenommen zu werden, aber sie..."

"... kann epileptische Anfälle auslösen.", beendete Scully den Satz, "Ich kenne die Studien über die Temporallappen-Epilepsie. Man hat herausgefunden, daß auf diese Weise außerkörperliche Erfahrungen, paranoide Reaktionen, Alpträume und ähnliches induzierbar ist." Alpträume. Eine von jenen rationalen Erklärungen, die sie Mulder schon vor langem angeboten hatte. Trotzdem, jemand schien der Auffassung zu sein, daß Di Giacomo sich zu gerne mit seinem Spielzeug beschäftigte, und Bawiskys Tod mußte ihn/sie in dieser Überzeugung bestätigt haben. Auch dieses Teil des Puzzles hatte also seinen Platz gefunden. Nur Krycek paßte nicht in die Sache. Warum sollte er sie warnen, nur um dann reinen Tisch zu machen? "Es gibt da eine Sache, die ich nicht verstehe. Vielleicht können Sie mir dabei helfen.", sagte Sandra und reichte ihr eine Akte. Es war eine komplette Krankengeschichte, mit Bluttests, Röntgenaufnahmen und allem, was man mit einem kleinen, gut ausgerüsteten Labor so untersuchen konnte. Und noch etwas mehr. Eine ausgezeichnete Arbeit.

"Auch wenn Di Giacomo einen Weg gefunden hätte, induzierte Epilepsieattacken für sein Programm einzusetzen, erklärt das noch lange nicht, wieso Mulder all das so willig akzeptiert hat."

Scully sah wieder aus dem Fenster. 'Es ist meine Schuld.' Wie oft hatte Mulder diesen Satz wiederholt? Er mußte irgendwo ganz vorne in seiner persönlichen Hitliste sein, gleich nach 'Es tut mir leid' [Und jetzt, hier für euch, Foxy Boy mit 'Oohh, Baby, es ist alles meine Schuld!']. Di Giacomo mußte es gewußt haben. Ihr Gesicht war ausdruckslos, als sie sich wieder zu Sandra umwandte, aber ihr Magen rebellierte.

"Und Sie glauben..."

"Die toxikologischen Untersuchungen waren negativ, aber ich halte es für ziemlich wahrscheinlich, daß er eine Substanz verabreicht bekommen hat, die keine Spuren hinterläßt. Vielleicht könnte uns die weltberühmten FBI-Labors mehr dazu sagen."

Scully biß sich auf die Lippe und las das Krankenblatt noch einmal.

"Es gibt kaum Substanzen, die wirklich keine Spuren hinterlassen.", flüsterte sie, als spreche sie mit sich selber, "Man muß nur am richtigen Ort suchen." *

*Und man braucht eine gut ausgerüstete medizinische Bibliothek, besser noch einen Internetzugang, einen gewissen jungen Mann im weißen Kittel, der jedes Mal rot wird, wenn man ihn anspricht und der auf den Namen Pendrell hört, und etwas Zeit. Viel Zeit. Und nicht zu vergessen die Telefonnummer von Miss Sunflower 1987.*

"Womit muß ich Ihrer Meinung nach rechnen?"

"Ich habe keine Ahnung. Ich kann Ihnen nur sagen, womit sie auf keinen Fall rechnen können. Sie dürfen sich nicht erwarten, Ihren Freund zu finden, sondern jemanden, der... der aus seinen Ängsten, aus seiner Besessenheit, seinem Haß entstanden ist."

"Ich glaube, ich kenne eine solche Person."

"Gut für sie."

"Eine letzte Frage. Wen von Ihren Freunden hat er kontaktiert?"

"Machen Sie es sich bequem, das ist eine lange Geschichte."

**********

Sandra hatte Unrecht gehabt. Nach einer halben Stunde hatte Scully eine ziemlich klare Vorstellung davon, was in Mulders Kopf vorging. Nur leider waren alle Hebel, die sie hätte benutzen können, um ihn wieder auf den richtigen Weg zu bringen, außerhalb ihrer Reichweite. Sie war überzeugt davon, daß dies nicht einer von jenen Fällen war, in denen sie unbeabsichtigterweise die Rolle der... der braven Ehefrau, die zu Hause am Herd die Rückkehr ihres Mannes erwartet, spielte. Okay, es war nicht ganz so, wenn man bedachte, daß die brave Ehefrau den Herd sein ließ und die Pistole in die Hand nahm, wenn es sein mußte, aber mit Mulder hatte sie schon öfters den Eindruck gehabt, als treffe der Vergleich viel zu gut zu.

Und doch wußte Scully, daß Mulder sie dieses Mal nicht zurückgelassen hatte, weil er es eilig gehabt hatte oder weil er eine jener pathetischen Inszenierungen durchzog, die sie angeblich vor ihm beschützen sollten.

Scully kehrte nach Washington zurück und versuchte die ganze Nacht lang, Leute zu kontaktieren. Aber Special Agent Dana Scully war nicht Spooky Mulder und die Türen öffneten sich nur widerstrebend.

Sie verdrängte jeden Gedanken an den Umfang der Telefonrechnung, die sie unweigerlich am Ende des Monats erhalten würde; ihre Telefongesellschaft würde denken, daß sie eine Hotline gefunden hatte, die ihr zusagte. Anfangs hatte sie Kathy nur anrufen wollen, um sie nach ihrer professionellen Meinung zu fragen, aber dann hatte sie recht schnell festgestellt, daß Dr. Seabright in Wirklichkeit die medizinisch gebildete kleine Schwester von Sherlock Holmes war. Blieb nur zu hoffen, daß in diesen Tagen keiner von Kathys Schutzbefohlenen beschloß, ernsthaft krank zu werden, denn sie war sich nicht sicher, ob Dr. Seabright in der Stimmung war, sich mit so profanen Sachen abzugeben. Und zwischen zwei Telefonaten mit Kathy verbrachte Scully ihre Zeit hauptsächlich mit Steven Reighleigh - am Telefon natürlich.

Lieutenant Steven Reileigh von der Polizei in Maine koordinierte die Suche nach einem gefährlichen Psychopathen, der aus einer Anstalt ausgebrochen war und dessen Identität er nicht kannte. Alles, was er an Informationen bekommen hatte, war ein Foto und sehr vage Angaben zur Person. Aber es war klar, daß dieser Typ das FBI sehr interessierte. Steve war der einzige Sohn des Admirals Michael Reighleigh, der wiederum ein alter Freund von Captain Scully war. Und nicht nur das, Steve hatte außerdem lange Nachmittage mit dem Versuch verbracht, die bronzefarbenen Locken der Scully-

Mädchen mit Wasserfarben zu tränken. Es war reiner Zufall, daß ausgerechnet Steve mit diesem Fall betraut worden war, und die Tatsache, daß Skinner jeden ersten Mittwoch im Monat mit Steves Vorgesetztem Squash spielte, hatte ganz bestimmt überhaupt nichts damit zu tun.

Steve kannte Mulder nicht, er wußte nicht einmal, daß die öffentliche Gefahr Nummer 1 diesen Namen trug. Aber er kannte Dana, und das war Grund genug, ihn Mulder mit derselben Besessenheit suchen zu lassen, mit der Darth Vader dereinst die Rebellen jagte. Unter seiner Führung leistete die Polizei von Maine hervorragende Arbeit; wenn da nur nicht die Bürokratie gewesen wäre... aufgrund eines Kommunikationsproblems schien es Steve nämlich absolut unmöglich zu sein, seinen Vorgesetzten Berichte über die Fortschritte der Suche mit einer Verspätung von weniger als 48 Stunden zu liefern. Und das war zu schade, denn dank der freundlichen Unterstützung Scullys machten die Ermittlungen riesige Fortschritte.

Das Telefon klingelte schon wieder. Scully nahm den von der letzten handwerklichen Konferenz mit Godeyes noch warmen Hörer ab; vielleicht hatte Kathy wieder einen ihrer perversen Geniestreiche gehabt.

"Ich muß ein Auge auf dich haben, Scully, kaum bin ich ein paar Tage fort, schon tauchst du überhaupt nicht mehr im Büro auf."

Einen Moment lang beschränkte sich Scully darauf, festzustellen, daß die Stimme am anderen Ende der Leitung nicht Kathy gehörte. Dann setzte ihr Herz aus.

"Mulder! Wo bist du?"

"Naaaa. Falsche Frage. Ich Gesuchter, du FBI-Agent."

"Mul-der!"

"Scu-lly! Wie du weißt haben unsere gemeinsamen Freunde eine Schwäche für elektronisches Spielzeug. Wie dem auch sei, es ist lange her, daß ich mich so gut amüsiert habe."

Er hörte sich ruhig, gelassen an, und Scully beschloß, sein Spiel mitzuspielen. Nur leider war sie zu müde, um geduldig zu sein, und ihre Stimme wurde unbeansichtigterweise ziemlich eisig.

"Also, warum rufst du an? Hat dich Miss November sitzengelassen?"

"Ist das ein Angebot?"

"Nur, wenn du mir versprichst, mich auf der Stelle zu heiraten. Du hast meine Frage nicht beantwortet."

"Paß auf." Der Themenwechsel war brüsk und radikal. "Ich habe Sandras Leute gebeten, ein bißchen auf dich aufzupassen, aber sie sind keine Profis..." Mulder als Lanzelot-Verschnitt hatte ihr gerade noch gefehlt. "... berichtet, daß du einen Schatten hast. Einen sehr anhänglichen Schatten. Sagt dir der Name Alex Krycek etwas?"

Für ein paar Sekunden vergaß Scullys Gehirn, wie logisches Denken funktionierte. Sie war nicht sonderlich beunruhigt, Krycek hatte mehr als eine Gelegenheit gehabt, sich um sie zu "kümmern" und hatte ihr nichts getan. Aber die Tatsache, daß sie seine offensichtlich systematische Beschattung nicht bemerkt hatte, machte sie doch nervös; und, schlimmer noch, sie hatte nicht die geringste Ahnung, warum er das tat.

"Sei vorsichtig, gut?"

"Mulder..."

Aufgehängt. Grandios.

**********

Vier unendliche Minuten später klingelte das Telefon wieder, doch dieses Mal wußte Scully, wer am anderen Ende der Leitung war.

"Hast du was zum Schreiben?"

Steve war nun mal so, er haßte es, Zeit zu verlieren. Wenn sie als Kinder Verstecken gespielt hatten, hatte er immer angeboten, als erster zu suchen, nur um ewige Diskussionen zu vermeiden.

"Ich bin dir was schuldig, Stevie."

"Das ist schön zu hören, Rotschopf. Wenn du ihn da weggebracht hast, laß es mich wissen, und ich werde alle Personen-Such-Rekorde dieser Erde brechen. Vielleicht ist sogar eine Beförderung für mich drinnen..."

"Ähm... sag mal, Steve, wie willst du deinem Chef eigentlich erklären, daß du rein zufällig ein Telefonat abgehört hast, daß eine FBI-Agentin bekommen hat und das von... wo gekommen ist?"

"New York."

"... New York?"

Scully hörte ein paar Minuten lang sehr aufmerksam zu.

 

KAPITEL 11

 

Es war später Nachmittag, als Scullys Flugzeug in La Guardia landete; als der Mietwagen eine verfallene Industriegegend erreichte, legten sich bereits die ersten Schatten des Abends über die Stadt.

Nach einigen Minuten Herumfahrens bedeutete ihr ein - etwas verwirrt wirkender -"Lachender Chaky" anzuhalten und führte sie in eine relativ gut erhaltene Fabrikshalle.

Scully wußte sofort, daß etwas passiert war. Die Luft in der alten Halle knisterte noch vor Spannung wie von statischer Energie nach einem Blitzschlag. Aber sie schien den eigentlichen Knall verpaßt zu haben; ein schneller Blick auf die Anwesenden zeigte ihr, daß keiner von ihnen sehr besorgt aussah, im Gegenteil, einige schienen sogar merkwürdig aufgekratzt.

Die Stille lag schwer auf ihren Trommelfellen, aber das war nichts im Vergleich zur Sicherheit, mit der sie die Schwere des Vorgefallenen wahrnahm. Sie fühlte, wie sich ihre Nebennieren zusammenzogen, um ihren Körper auf eine eventuelle Notsituation vorzubereiten; ihr Herz schaltete gehorsam einen Gang höher.

Noch immer hatte sich niemand bewegt; niemand hatte auch nur Anstalten gemacht, ihr eine Erklärung zu geben. Dann, nach einer Ewigkeit, sagte eine bekannte Stimme feierlich: "Wir haben ihn."

Scullys Blick durchstreifte den Halbschatten. Auf Mulders Antlitz lag ein ungewohnter Ausdruck des Triumphs, aber kein Anzeichen dafür, daß er überrascht war, sie hier zu sehen. Mit einem Mal verstand Scully, wer es war, den sie hatten, und einen wunderbaren Augenblick lang teilte sie seine Freude.

Aber ihr FBI-Training gewann bald wieder die Oberhand; sie sah sich um und bemerkte mit wachsender Unruhe Details, die ihr zuerst entgangen waren. Kleine Dinge; Kratzer, Blutspritzer auf einem Hemd, blaue Flecken, Abschürfungen, harmlose kleine Verletzungen wie bei Jungs, die sich nach der Schule geprügelt hatten. Nur daß diese Jungs Schlagringe hatten, und Gummiknüppel, und die Augen von Schakalen.

Und Mulder.

Er war makellos. Der graue, elegante Anzug hatte nicht die kleinste Falte. Scully brauchte ihm nicht in die Augen zu sehen, um einen anderen dort vorzufinden. Und diese Person wäre imstande gewesen...

"Oh Gott, nein.", flüsterte Scully und näherte sich dem regungslosen Körper, der auf dem Boden lag.

Aber Krycek war nicht tot. Er war nicht einmal ganz bewußtlos. Zum Glück. Wenn er bewußtlos gewesen wäre, wäre es einfacher gewesen; wenn er nicht bei jeder ihrer Berührungen leise gestöhnt hätte, wenn sich sein Körper nicht vor Schmerzen verkrampft hätte, hätte sich Scully wahrscheinlich nicht wutentbrannt umgewandt, um sich demjenigen zu stellen, von dem sie hoffte, daß er irgendwann einmal wieder ihr Partner sein würde, ihr Freund, ein Teil ihrer Seele.

"Mulder, sag, daß das nicht wahr ist! Sag, daß nicht du es warst, der das angeordnet hat!"

"Er hat meinen Vater umgebracht, Scully. Er hat zugesehen, wie Melissa gestorben ist.", kam die gleichgültige Antwort.

"Natürlich, und du bist sein Richter und sein Henker in einer Person. Ich weiß sehr gut, wer er ist und was er getan hat. Aber du? Weißt du, wer du bist - was du jetzt bist? Was du geworden bist? Und du hast zugelassen, daß sie das aus dir gemacht haben!"

Ohne auf eine Antwort zu warten, begann sie, sich wieder um Krycek zu kümmern. Sie ließ zu, daß der rationale Teil von ihr sie durch den emotionalen Sturm brachte, der sie zu übermannen drohte. Aber Scully, die Ärztin, bewegte sich sicher, automatisiert; jahrelange Erfahrung löschten Gedanken und Gefühle aus.

Sie hatten ihn schlimm zugerichtet. Blut floß aus seiner Nase und seinem Mund, und mehr als ein Knochen in seinem Gesicht schien gebrochen. Seine Hände waren ohne Rücksicht auf die ausgekugelte Schulter hinter den Rücken gefesselt, und eine an der Wand befestigte Kette war an seinem rechten Knöchel befestigt. Wenn sie ihn nicht mit dem Gesicht nach unten liegen gelassen hätten, wäre er wahrscheinlich an seinem eigenen Blut erstickt. Echte Profis. Er hatte sich übergeben, hatte aber nicht die Kraft gehabt, den Kopf wegzudrehen.

"Ich brauche warmes Wasser, eine sterile Nadel, Faden und Verbandszeug.", befahl sie, ohne von ihrer Arbeit hochzusehen. "Und es wäre nett, wenn mir jemand helfen würde, seine Schulter wieder einzurenken."

Aber zuerst mußte sie sicherstellen, daß er weiteratmete. Mit etwas Mühe schaffte sie es, ein zusammengerolltes Taschentuch zwischen seine Zähne zu schieben; das würde auch helfen, die Blutung an seiner Unterlippe zu stoppen. Und vor allem hatte sie nicht vor, allzu vertrauensselig ihre Finger zwischen Alex Kryceks Zähne zu stecken, wenn das schon sein mußte. Grandios, das war immer schon ihr Traum gewesen. Wenn sie nur nicht die Latexhandschuhe vergessen hätte...

Hinter sich hörte sie Schritte, die sich entfernten.

**********

Man hatte ihr gebracht, was sie verlangt hatte, und noch einiges mehr: Antibiotika, Desinfektionslösung, Morphium, Spritzen. Und sie hatte ihre Arbeit getan, schweigend und unter Kryceks aufmerksamem Blick. Ein paar Mal hatte er die Augen geschlossen, und als sie sich an seiner Schulter zu schaffen gemacht hatte, war seine eiserne Beherrschung kurz zusammengebrochen. Erst als sie fertig gewesen war, hatte er zugelassen, daß Schmerzen und Müdigkeit ihn übermannten und war in einen unruhigen Schlaf gefallen.

"Du hast ihm die Hände losgebunden." Noch immer derselbe flache, monotone Tonfall. Scully sah nicht auf, sondern fuhr fort, ihre Instrumente zu waschen.

"In diesem Zustand geht er nirgendwo hin."

"Ich weiß. Alle Ausgänge sind bewacht. Wie geht es ihm?"

"Nicht besonders. Er könnte innere Verletzungen haben."

"Und wie merken wir das?"

"Ganz einfach. Wenn er verblutet, heißt das, daß er innere Verletzungen hatte."

Mulder antwortete nicht sofort; er näherte sich Krycek und musterte ihn ein paar Sekunden lang, dann sah er wieder zu ihr.

"Brauchst du noch etwas?"

"Außer einem Krankenhaus und einem Notfall-Team? Ich muß ihn gegen Tetanus impfen. Ich denke nicht, daß deine Freunde ein Rezept brauchen, um die Medikamente zu bekommen, deshalb werde ich einfach eine Liste machen." In seiner Stimme hatte sie etwas gehört, ein Schatten von Schuldgefühlen, aber sie achtete darauf, ihren kalten, unbarmherzigen Ton beizubehalten.

"Du bekommst alles so schnell wie möglich."

**********

Nach einer Morphium-Injektion hatte Krycek die Nacht durchgeschlafen. Scully war bei ihm geblieben - falls Komplikationen auftreten sollten, hatte sie den Wachen erklärt, die alle Viertelstunde kamen, um ihn zu kontrollieren, und das wiederholte sie auch sich selber gegenüber immer wieder, aber ohne große Überzeugungskraft.

Die Wahrheit war, daß sie Angst hatte, Mulder gegenüberzutreten. Diesem Mulder. Einem Fremden, unberechenbar und gefährlich. Sie dachte an Sandras Worte, an ihre Antwort darauf. So etwas hatte sie nicht erwartet.

Einmal war sie kurz nach draußen gegangen, um Luft zu schnappen; sie hatte ihn regungslos im Auto sitzen sehen, aber sie hatte nicht den Mut gehabt, zu ihm zu gehen. Die Wachen hatten sich zu ihr umgedreht, und den Kommentaren nach zu urteilen hatte ihnen gefallen, was sie sahen. Also war sie wieder nach drinnen gegangen, hatte sich in der Krycek gegenüberliegenden Ecke zu der zusammengerollt und war mit der Pistole in der Hand eingeschlafen.

Als sie wieder aufwachte, beobachtete Krycek sie mit dem Blick einer gefangenen Katze. Er saß in seiner Ecke, die Beine an den Körper gezogen, wie um sich vor weiteren Schlägen zu schützen.

"Gut geschlafen?", fragte Scully ohne die Spur aufrichtigen Interesses und näherte sich. Krycek antwortete nicht.

"Ich würde mir gerne dein Auge ansehen. Wahrscheinlich ist die Augenhöhle gebrochen und ich möchte sichergehen, daß keine Weichteile verletzt sind."

Die Handschellen, mit denen die Männer ihn wieder gefesselt hatten, als er versorgt war, rieben sich an der Mauer, als Krycek vergeblich versuchte, ihr auszuweichen.

"Hör auf den harten Typen zu spielen und schau auf meinen Finger."

Seine Augen folgten den Bewegungen ihrer Hand gleichzeitig und perfekt koordiniert.

"Siehst du normal?"

"Ja."

Scullys Blick fiel auf eine Plastiktüte und eine Decke, die jemand knapp außerhalb Kryceks Reichweite auf den Boden gelegt hatte. Sie nahm sie hoch; sie enthielt alles, was sie verlangt hatte und eine Flasche Wasser. Sich der zunehmenden Unruhe des Mannes vor ihr sehr wohl bewußt, zog sie die Spritze betont langsam auf.

"Oh, mein Held hat Angst vor Nadeln? Das ist nur eine Tetanusschutzimpfung. Wann bist du das letzte Mal geimpft worden?"

"Das mache ich jedes Mal, wenn ich Gefahr laufe, Ihren Partner zu treffen."

Nach der Injektion warf Scully ihm die Decke zu.

"Ich möchte nicht, daß du nach der ganzen Mühe, die ich hatte, an Lungenentzündung stirbst."

Wieder senkte sich die Stille wie ein Vorhang zwischen ihnen.

Scully entfernte sich einige Schritte und dachte an den letzten Abend. Es war nicht nur Mulder gewesen, der ihr Angst gemacht hatte, auch sie selber; ihre Reaktion, als sie gesehen hatte, was sie mit Krycek gemacht hatten. Sie war befriedigt gewesen. Ihn so zu sehen, wehrlos, gequält, war, als ob sich in einer der Phantasien wiedergefunden hätte, die sie seit Missys Tod verfolgten.

"Warum?", fragte sie wütend, sich plötzlich zu ihm umdrehend, "Warum zerstörst du unser Leben? Warum? Warum machst du weiter? Wie kannst du nicht einmal im Angesicht von Unschuldigen Mitleid zeigen?"

Sie hatte keine Antwort erwartet, doch zu ihrer großen Überraschung bekam sie sie.

"Sie können sich glücklich schätzen, wissen Sie das eigentlich, Agent Scully? Sie haben ihre Moral, ihre ausgezeichnete Erziehung, eine perfekte Familie, perfekte Freunde. Sie leben in einer perfekten Welt, in der es Gute und Böse gibt, und in der jeder weiß, auf welcher Seite er zu stehen hat. Sie wissen gar nichts, Dana. Kommen Sie aus ihrer Barbiepuppen-Welt, bevor Ihnen jemand die Wirklichkeit ins Gesicht knallt. Ich kann Ihnen versichern, daß das ganz schön weh tut."

Scully kam langsam näher.

"Du widerst mich an, Krycek." Sie gab der Flasche einen Tritt, so daß sie in zu ihm hinüberrollte. Krycek drehte sich halb um, um ihr seine hinter dem Rücken gefesselten Hände zu zeigen. Scully ignorierte seine Aufforderung und ging Richtung Tür. "Ich bin sicher, du bist ein sehr einfallsreicher Junge."

**********

"Da ist noch etwas.", sagte Scully und stellte ihre Tasse auf den Imbißstuben-Tisch vor sich, "Als ich Krycek verarztet habe, habe ich etwas gefunden."

Mulder schluckte seinen letzen Bissen Apfeltorte und sah sie fragend an.

"Eine Art... nun ja, es sieht ganz so aus, wie der Chip, der... es war sogar an der selben Stelle implantiert. Ich hab's herausgeholt, nachdem er das Morphium bekommen hatte; ich habe es einem deiner Freunde gegeben, damit er es untersucht."

"Vielleicht hätten unsere Labors da bessere Dienste leisten können."

"Und wie soll ich das rechtfertigen? Du bist ein entlaufener, gefährlicher Psychopath, aber zu deiner Information, ich bin immer noch FBI-Agentin. Außerdem bin ich offiziell beurlaubt, wenn ich eine derartige Anfrage stellen würde, könnte das jemanden stutzig machen und Skinner wäre in Schwierigkeiten, glaubst du nicht?"

"Willst du mich heiraten, Scully?"

"Ja, natürlich, sobald ich die Zeit finde, zum Frisör zu gehen.... wo willst du jetzt schon wieder hin?"

"Mich mit jemandem unterhalten." Verlegen hielt er inne und trat von einem Fuß auf den anderen, "Noch einmal mit jemandem reden."

**********

Kryceks Freude Mulder wiederzusehen hielt sich in Grenzen. Und als Mulder die Handschellen aufschloß, um ihn in einen kleinen Raum zu schleifen, der einst vermutlich ein Umkleideraum gewesen war, und der jetzt den Generator beherbergte, wirkte er wie eine Kuh, die wegen Verdachts auf BSE notgeschlachtet werden soll. Er fand sich mit den Handschellen an den Generator gefesselt wieder, das Gesicht an der Wand und Mulders Arm im Nacken. Scully überlegte kurz, ob sie Mulder bitten sollte, auf Kryceks Schulter aufzupassen, aber sie ließ es dann doch bleiben; eigentlich war es ihr völlig egal.

"Was weißt du über Entführungen durch Außerirdische?" Mulders warmer Atem auf der Wange ließ Krycek frösteln.

"Independence Day hat mir nicht besonders gefallen."

"Ach was?"

Mulder drückte stärker und Krycek schrie auf.

"Was ist das Ding, das du in deinem Nacken hattest?"

"Ein Mikrochip."

"Und wozu ist der gut?"

"Ich glaube nicht, daß dir die Antwort gefallen würde."

"Tu dir keinen Zwang an, sei auch weiterhin der unsensible Bastard, der du immer warst und sag es mir trotzdem!"

Das Geräusch der sich öffnenden Tür ließ die beiden Agenten herumfahren, und Mulder lockerte seinen Griff. Scully erkannte den Mann, dem sie den Chip anvertraut hatte. Er schwenkte eine durchsichtige Tüte und hatte den Gesichtsausdruck eines Wissenschaftlers, der soeben ein Heilmittel gegen Schnupfen entdeckt hat.

"Bingo.", sagt er.

"Ein Mikrochip, der Gehirnwellen moduliert?, kam ihm Mulder zuvor.

Der andere sah ihn perplex an. "Was? Nein, gibt es so was denn?" Mulder bedeutete ihm nervös, fortzufahren.

"Es ist ein Impulsgeber. Oder besser gesagt, eine Einheit, die von einem Sender ausgehende Impulse reflektiert. Sie erlaubt, etwas - oder jemanden - von einer Zentrale aus zu lokalisieren."

Mulder wandte sich langsam Krycek zu. Der grinste.

"Ich sagte doch, daß dir die Antwort nicht gefallen würde."

Scully bewies mehr Geistesgegenwart, indem sie den Chip nahm, ihn auf den Boden warf und ihn mit dem Absatz ihres Schuhs zu Krümeln zermalmte.

Ein merkwürdiger Laut, wie von einer zerplatzenden Seifenblase, folgte, und der stolze Entdecker ging zu Boden. Mit einem Loch im Rücken.

Bevor Mulder und Scully reagieren konnten, stürmten drei ganz in schwarz gekleidete Männer in den Raum; sie trugen Schimasken und automatische Gewehre. Sie richteten stumm die Waffen auf die beiden FBI-Agenten, ohne Erklärung und ohne etwas anderes zu unternehmen; offensichtlich warteten sie auf jemanden.

Und dann kam sie. Sie trug dieselbe Kleidung und dieselbe Waffe. Eine Frau mit dunklen Augen und tiefschwarzen Haaren, die sich weigerten, unter der Maske verborgen zu bleiben. Mit einer schnellen Handbewegung bedeutete sie einem der Männer, die Agenten zu durchsuchen, was dieser augenblicklich und mit schnellen, kompetenten Griffen tat. Es dauerte keine Minute, bis er den Schlüssel zu den Handschellen gefunden und ihn der Frau ausgehändigt hatte. Sie ging zu Krycek, um ihn zu befreien.

"Hab ich dir gefehlt?" flötete amüsiert sie über seine Schulter in sein Ohr. Kein Akzent.

"Furchtbar."

"Das sehe ich." Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß, von Verletzung zu Verletzung. "Hm, ich wußte ja, daß du diskutable sexuelle Präferenzen hast, aber ich hätte nicht gedacht, daß du so weit gehst mit Leuten, die du kaum kennst."

"Geistreich wie immer." erwiderte Krycek und rieb sich die zerschundenen Handgelenke, "Wie sieht's aus?"

"Wir haben zwei fürs Verhör geschnappt, der Rest ist tot. Bis auf deine Freunde hier, natürlich; ich nehme mal an, um die möchtest du dich gerne persönlich kümmern?"

"Eine echte Lady. Geht schon mal vor, das hier wird nicht lange dauern."

Die Frau reichte ihm lächelnd ihr Gewehr und ging, gefolgt von ihren Männern.

"Sie ist toll, nicht?" sagte Krycek, als sie fort waren. Er überprüfte das Magazin der Waffe und die Sicherung. "Ich habe viel von ihr gelernt." Langsam, gewissenhaft schraubte er den Schalldämpfer vom Lauf des Gewehrs und richtete es auf Mulders Kopf. "Oh, entschuldige, ich vergaß, daß du kein Mann großer Worte bist, Fox. Deshalb... leb wohl!"

Scully schloß die Augen und versuchte, alle Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen, während sie auf den Schuß wartete. Merkwürdig, sie fühlte absolut nichts, nicht einmal Angst. Sie wünschte sich nur, Krycek würde schneller machen.

Der Schuß ließ sie zusammenfahren. *Mulder* dachte sie, und ihr Magen verkrampfte sich. Noch ein Schuß, dann Stille.

Nach einer Ewigkeit öffnete sie die Augen; in ihren Ohren hallte immer noch das Echo der Schüsse.

Mulder stand vor ihr, etwas blaß um die Nase, aber an einem Stück. Und sehr, sehr wütend. Die Mauer hinter ihm, wenige Zentimeter über seinem Kopf, zierten zwei parallele Einschußlöcher. Krycek schien sich köstlich zu amüsieren.

"Entschuldigt", sagte er, mühsam ein Lachen unterdrückend, "Ich konnte nicht widerstehen. Du kennst das Gefühl, nicht wahr, Mulder? Nimm's mir nicht übel. Spielt brav Toter Mann, bis wir weg sind, sie werden nicht nachschauen kommen."

Er trat über die Schwelle und wandte sich dann noch einmal um.

"Und noch was, Mulder... vergiß nicht, dich bei Scully zu bedanken!"

Die Tür schloß sich mit einem dumpfen 'pflopp'.

Mulder drehte sich langsam zu Scully um und zog eine Augenbraue hoch. "Wirklich?"

Scully wandte ihre Augen gen Himmel.

 

EPILOG

 

*Gott, ich flehe dich an, schenk mir eine einzige ruhige Minute!* dachte Scully, die am Schreibtisch des kleinen Kellerbüros im Hauptquartier des FBIs saß, als sie den Ausdruck auf dem Gesicht ihres Partners sah.

Mulder setzte sich ihr gegenüber; der blaue Anzug, den er immer dann trug, wenn der FBI-Posterboy gefragt war, ließ sein blasses Gesicht und die dunklen Ringe um seine Augen noch besser zur Geltung kommen.

"Und, wie lief deine Audienz bei der Kommission?", fragte Scully mit unbeteiligter Miene.

"Alles in Ordnung, sie haben mich als zurechnungsfähig eingestuft. Zumindest bis zu einem gewissen Grad. Du hättest dabei sein sollen, als Skinner seine heroische Geschichte über meine verdeckten Ermittlungen in der Irrenanstalt erzählt hat." Er lächelte, nein, er machte übermenschliche Anstrengungen, nicht in lautes Gelächter auszubrechen.

"Tauglich und zum Dienst beordert also?"

"Genau."

"Ich habe den Bericht über O'Reilly fertiggeschrieben, auch wenn wir beide wissen, wo er enden wird."

"Jaja."

"Gut, ich geb's auf. Verrätst du mir, was so lustig ist?"

"Blue Boy. Mmmmmhhh, Scully, jetzt verstehe ich endlich dein Interesse für meine Videokassetten..."

Scully dachte einen Moment lang über eine angemessene Antwort nach. Dann erst erkannte sie, was der Satz implizierte. "Du hast mit Sandra gesprochen."

"Ich habe mit Sandra gesprochen." Das diabolische Grinsen war jetzt etwas abgeschwächt, aber immer noch erkennbar.

"Und...?"

"Sie hat mir von eurem netten Abend in New York erzählt."

"Und...?"

"Und sie hat mir die Adresse von einem Typen gegeben. Einem Psychotherapeuten."

"Und...?"

Mulder neigte kaum merklich den Kopf und sein Lächeln wirkte mit einem Mal traurig. "Die Antwort lautet nein. Ich habe nicht vor hinzugehen. Das ist lächerlich. Wenn ich mich wirklich auf so etwas einlassen, würde ich mich innerhalb einer halben Stunde aus dem Büro geworfen und in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert wiederfinden - das ist doch offensichtlich."

"Mulder, du brauchst jemanden, der dir hilft."

"Zweifellos. Jemanden, der gut schießt, zum Beispiel."

Scully verschränkte die Arme und überlegte sich ein halbes Dutzend gute Antworten, von denen ihr jede nach ein paar Sekunden dann doch nicht mehr so gut schien. Also beschränkte sie sich darauf, ihn einige Sekunden lang stumm zu fixieren.

"Hast du über den Fall nachgedacht?"

"Du meinst, ob ich deine Theorie über die induzierte Schläfenlappenepilepsie für plausibel halte? Sie klingt gut."

Scully beschloß, nicht mehr länger zu verbergen, was ihre größte und einzige Sorge war, seit dieser ganze Zirkus begonnen hatte.

"Das habe ich nicht gemeint. Der Einfluß, den Di Giacomo auf dich hatte war... erschreckend. Du willst nicht mit Sandras Freund reden, gut, auch recht, aber du mußt dir im klaren darüber sein, daß... daß du..." Scully kämpfte mit den Worten und gegen ihren aufsteigenden Zorn, bis sie schließlich nüchtern schloß: "Es ist zu riskant."

Mulder sah sie stumm an, mit völlig neutraler Miene, und über sie senkte sich jenes wortreiche Schweigen, daß seit jeher ihre intensivsten Gespräche begleitete. "Warum... warum hast du dich nicht gewehrt? Warum hast du ihm keinen Widerstand geleistet? Du hast noch nie gezögert, für deine Überzeugungen zu kämpfen, dein Leben für das zu riskieren, an das du glaubst, und sei es auch eine völlig verrückte Theorie, wie nur du sie zustande bringst. Aber wenn es um dich geht, um das, was du bist, dann..."

"Scully, es tut mir leid..."

"Siehst du?" Wenn seine abgemagerten Züge und das immer noch zu kurze Haar nicht Zeugen dafür gewesen wären, was in den letzten Wochen passiert war, wenn sie sie nicht an die Frustration und Angst jener Tage erinnert hätten, wäre Scully jetzt unweigerlich explodiert. So aber beschränkte sie sich darauf zu schlucken, um die Tränen zurückzuhalten. "Siehst du? Mulder ich... kannst du dir eigentlich vorstellen, was ich empfunden habe, als ich dein E-Mail gelesen habe?"

Mulder senkte den Blick. "Es ist nur daß... daß ich mich manchmal nicht so einsam fühlen möchte." Scully sah ihn fragend an, und Mulder fuhr fort, "Ich weiß nicht, was damals passiert ist. Mit Samantha. Ich weiß es nicht. Selbst mein ach-so-tolles Gedächtnis hat mich im Stich gelassen. Ich habe so viele Wahrheiten gehört und gesehen, daß... nun, daß auch ich manchmal das Bedürfnis habe, das zu glauben, was alle anderen glauben. Daß an jenem Abend jemand... irgendein verrückter Bastard von Psychopath... in unser Haus gekommen ist und Samantha entführt hat und ich... nichts getan habe, um ihn aufzuhalten."

Scully hatte keine Worte des Trostes für ihn. Was konnte sie einem Mann sagen, der seine Schuldgefühle benutzte, um sich weniger einsam zu fühlen, um seine Wunden zu heilen? Sie stand auf und näherte sich langsam ihrem Partner. "Ich glaube nicht, daß es so war. Auch, wenn es ein 'stinknormaler' Psychopath war. Ein zwölfjähriges Kind kann dafür nicht verantwortlich gemacht werden."

Mulder antwortete nicht, aber ihre Blicke kreuzten sich. Scully atmete tief durch und lächelte ob eines plötzlichen Gedankens. Sie kehrte zum Schreibtisch zurück, und als sie sprach, war ihr Tonfall verändert.

"Außerdem müßtest du stolz darauf sein, das Leben von wer-weiß-wie-vielen Tausenden von Menschen gerettet zu haben und dazu beigetragen zu haben, die Dekadenz der amerikanischen Provinz aufgehalten zu haben."

"Was?" Mulder runzelte verwirrt die Stirn.

Scully schwenkte eine Zeitung durch die Luft, um sie dann theatralisch vor ihm auszubreiten. Es war die neueste Ausgabe des "News Of The Day".

"Ich habe ein langes Gespräch mit den berühmten Journalisten Debris gehabt, in dem ich ihm die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit über Di Giacomo erzählt habe. Aber irgendwie ist er bei seiner Meinung geblieben."

Mulder verschränkte die Arme und las mit wachsendem Erstaunen die Titelseite der Zeitung.

"Scully, aber... das... das ist...."

"Alles erlogen, aber extrem glaubhaft. Drogenhandel, zufällige, ungemütliche Zeugen, das FBI, das eingreift..."

"Aber wenn, wenn..."

Scully sah die Hoffnung in den Augen ihres Partners aufblitzen, das wohlbekannte Leuchten, als er seinen Blick hob.

"Genau. Wenn sich jemand soviel Mühe gemacht hat, dann war Di Giacomo wirklich ein Bauer in einem viel größeren, viel gefährlicheren Spiel. Krycek hat also wirklich nicht nur die Gelegenheit genutzt und uns angelogen. Nicht in allem, jedenfalls."

Scully sah zu, wie sich der fiebrige, geschlagene Ausdruck ihres Partners langsam wandelte, wacher wurde; er hatte die Startrampe von neuem verlassen. Und Scully beschloß, aufs Gas zu drücken.

"Und dann ist da noch die Diskette, die unsere gemeinsamen Freunde haben."

"Langly hat gesagt, daß nichts Spektakuläres drauf sei. Keine konkreten Beweise, zumindest. " Mulder grinste ihr hämisch zu, und Scully nickte zustimmend, "... aber die Lone Gunman glauben, einige... Handschriften entziffern zu können und sind begeistert, endlich etwas zu haben, mit dem sie arbeiten können. Wir werden sehen."

Mulder atmete durch. *There is more to this journey than it is apparent to the eye.*1 Mulder ließ sich ein paar Augenblicke lang von dem Lied tragen, das ihm ganz plötzlich in den Sinn gekommen war. Wieder einmal hatte er einen hohen Preis dafür bezahlte, ein weiteres Teil in das Puzzle, das sein Leben war und das er so hartnäckig wieder zusammenzusetzen versuchte, einsetzen zu können; und dennoch war er schon wieder dabei, sich Hals über Kopf in seine Zukunft zu stürzen, immer hoffend, daß sein eidetisches Gedächtnis es ihm irgendwann ermöglichen würde, auf gleich Weise in seine Vergangenheit vorzudringen.

Scully seufzte. Wenn sie sich darauf beschränkt hätte, ihren Job zu erledigen, gewissenhaft die Rolle zu erfüllen, die ihre Vorgesetzten ihr zugewiesen hatten, hätte sie ruhig und zufrieden ihr Leben weiterleben können. Aber sie hatte den schwierigeren Weg gewählt, jenen, der sie Mulder auf seinem verrückten Run in die Dunkelheit folgen ließ. Für einen Augenblick hatte er gewartet, hatte zugelassen, daß sie ihn erreichte. Das hatte genügt. Jetzt konnte sie nicht mehr umkehren. Sie wollte es auch gar nicht.

Es war sehr wahrscheinlich, daß der größte Teil der X-Files für immer ungelöst bleiben würde; daß die Monster, seinen sie nun real oder eingebildet, die sich in den Falten der Wirklichkeit räkelten und sie gelegentlich berührten, erschütterten, bedrohten, daß diese Monster dort blieben, wo sie sich regten, unverwundbar, ewig. Sicher war nur, daß sie und Mulder weitermachen würden; daß sie weiterhin Bereiche der Wirklichkeit untersuchen würden, die zu dunkel für andere waren; Bereiche, in die ihnen niemand folgen würde.

ENDE

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1
Das Lied, das Mulder im Epilog zitiert, ist "Rock Steady" von Sting.

 

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