MOHN UND GEDÄCHTNIS
von Little Tiger und XTrek
Die Idee zu dieser Geschichte entstand, als gerade mal die zweite Staffel von Akte X lief, und da diese längst vergangenen Zeiten in unserer Pre-Modem-Ära fallen, wußte damals noch keiner von uns beiden von der großartigen Fanfiction im Internet. Wir begannen zu schreiben, zuerst nur zu unserer eigenen Unterhaltung, aber mit der Zeit entwickelte die Geschichte ein Eigenleben und weigerte sich immer öfter, das zu tun, was unsere verdrehte Phantasie ihr aufzwingen wollte. Schließlich hatten wir etwas ganz Anderes und vor allem viel Längeres vor uns liegen, als eigentlich geplant war, und es bleibt nun euch überlassen zu entscheiden, ob euch das Ergebnis gefällt oder nicht.
Disclaimer: Mulder, Scully, Skinner, Krycek, The Lone Gunmen und einige weitere, zum Teil nur erwähnte Figuren gehören gänzlich und ausschließlich Chris Carter, 20th Century Fox und 1013 Productions - aber ihr würdet wohl keine Fanfiction lesen, wenn ihr das nicht schon längst wüßtet. Wir haben sie nur geliehen und geben sie nach Gebrauch herzlich gerne und in ihrem gewohnten Glanz den rechtmäßigen Besitzern zurück. Was wir hier machen geschieht nicht zu Profitzwecken, was Geld betrifft sind wir nämlich ziemlich unbegabt, und uns rechtlich zu verfolgen würde niemandem etwas bringen. Aber es könnte unseren Verfolgern schaden...
Für alle Germanisten unter euch: der Titel dieser Geschichte stammt aus "Corona" einem Gedicht von Paul Celan; alles andere gehört uns, UNS, und wir warnen alle etwaigen Diebe, wir haben nämlich eine ganze Menge Freunde mit ganz besonders schlechtem Ruf und ganz besonders großem Bizeps. Ihr könnt euch alles leihen, was ihr wollt, aber wir wüßten es gerne.
Rating: PG aufgrund einiger Schimpfwörter, allerdings keine, die man nicht jeden Tag im Fernsehen hören könnte. Was folgt ist einfach eine X-Akte, nicht mehr und nicht weniger, wenn auch mit etwas Mulder-Angst vermischt. Für die Relationshippers unter euch ist nichts dabei, sorry, und es gibt auch keine einzige Sex-Szene... aber vieles andere.
Inzwischen haben wir entdeckt, daß andere X-Philes ähnliche Ideen hatten wie wir, aber wir schwören auf unsere respektiven Akte-X-Videos, daß wir niemandem was geklaut haben. Wir sterben vor Neugier auf eure Kommentare, aber da wir ziemlich sensibel sind, mögen wir keine Flames; ihr könntet uns damit umbringen, und wir wären dann gezwungen, euch in Gestalt von Geistern bis an euer Lebensende zu verfolgen. Beleidigt uns, aber auf zivilisierte Art und Weise. ACHTUNG: dies ist eine Übersetzung, das Original wurde in sprachübergreifender, sozusagen kosmopolitischer Zusammenarbeit auf Italienisch geschrieben. Übersetzung und Rechtschreibfehler by LittleTiger. Und aus.
KAPITEL 1
Die Tiefgarage des J. Edgar Hoover Buildings war Fox Mulder, Special Agent des Federal Bureau Of Investigation, schon immer unheimlich gewesen, und das nicht nur, weil er normalerweise mindestens zehn Minuten brauchte, um einen freien Parkplatz zu finden. An diesem Tag aber war das anders. Alles war anders.
Mulder war zu Fuß gekommen, was an sich nichts Ungewöhnliches war: seine Wohnung lag nur wenige Blocks entfernt, und üblicherweise vermied er es tunlichst, stundenlang in der Rush-hour zu stecken, nur um die paar hundert Meter zum Büro zurückzulegen. Es kam allerdings vor, daß der Wunsch, zu spät ins Büro zu kommen, so übermächtig wurde, daß er einfach das Auto nehmen mußte. Der aktuelle war keiner dieser Tage, und das war zu schade, denn der ganze Parkplatz war leer. Und das Merkwürdigste daran war, daß Mulder das nicht einmal merkwürdig fand. Die Tiefgarage, feucht und dunkel trotz des sommerlichen Wetters draußen, hatte etwas von einer Gruft an sich. Er hätte nicht sagen können, warum er beschlossen hatte, diesen Weg zu nehmen, wo er doch zu Fuß war, und Scully hätte die Angelegenheit sicher mit einem ihrer gewohnten erstaunt-genervten Blicke kommentiert, die sogar Freud ins Schwitzen gebracht hätten. Schon vor einiger Zeit war sie zur Auffassung gelangt, daß Mulders Hirn und sein Körper nicht besonders gut aufeinander zu sprechen sein mußten, tat er doch manchmal Dinge, die sogar ihn selber überraschten. Und dabei verschwieg er ihr hartnäckig, an welch merkwürdigen Orten er morgens seine Zahnbürste wiederfand. Aber zumindest war er hier nicht der einzige, der seltsame Sachen machte. Tatsächlich hatte der Lift, über den die Angestellten die Büroräume erreichen konnten ohne durch den Haupteingang zu müssen, beschlossen zwischen drittem und viertem Stock auf und ab zu pendeln, ohne auf Mulder zu achten, der im ersten Untergeschoß stand und sich schwarz ärgerte. Also doch der Haupteingang. Er betrat das Atrium und fand es, schon kaum mehr überrascht, leer. Nicht einmal das Sicherheitspersonal war da, aber Mulder legte trotzdem seine Waffe auf den Tresen, bevor er durch den Metalldetektor ging, um sie dann wieder an sich zu nehmen. Jahrelange Erfahrung mit den Bräuchen des Büros hatten ihn gelehrt, sinnlose Schwierigkeiten zu vermeiden., auch wenn er hin und wieder den Drang verspürte, etwas zu tun, das alle Alarme gleichzeitig losheulen ließ, einfach um zu sehen, was das für eine Wirkung hatte. Das ganze Gebäude anzünden wie einen Christbaum zu Weihnachten - grandios!
Auf dem Weg in den dritten Stock traf er keine Menschenseele, aber das schien ihm nur richtig zu sein, denn dies war schließlich ein ganz besonderer Tag. In Raum Nummer 328 wartete nämlich seine Schwester Samantha auf ihn. Bisher war Mulder zwar immer der Meinung gewesen, im dritten Stock befänden sich die Presseabteilung und das Zahlungsbüro, aber seine Besuche in höheren Gefilden waren zu selten, um sich darüber auf dem Laufenden zu halten. Lästigerweise waren sämtliche Türen weder beschriftet noch numeriert, und so probierte er gleich den ersten Raum zu seiner rechten. Er trat ein ohne zu klopfen und fand sich in einem Zimmer wieder, das der Einrichtung nach das Set für einen sehr mittelmäßigen Polizeifilm hätte sein können: ein Tisch mit einer Schreibtischlampe, zwei grobe Holzstühle davor und ein halbdurchlässiger Spiegel, hinter dem sich ein kalter, fensterloser Beobachtungsraum verbarg. Mulder verließ das Zimmer und versuchte sein Glück mit der nächsten Tür, aber hinter ihr befand sich ein bis ins kleinste Detail mit dem ersten identischer Raum. Er öffnete die dritte und vierte Tür und fand hinter jeder dasselbe. Es störte ihn nicht weiter, daß sein Gehaltsscheck anscheinend doch nicht hier geschrieben wurde, solange er nicht auf der Gehaltsliste eines außerirdischen Public-Relations-Ministeriums stand, aber langsam begann ihn die ganze Sache doch etwas zu beunruhigen.
Und - vor allem - wo war Samantha? Nach der zwanzigsten Tür begann ihn die Monotonie der Räume zu irritieren: Tisch, Lampe, Stühle, Spiegel, Tisch, Lampe, Stühle, Spiegel, Tisch... alles schien - nein, alles war vollkommen gleich.
Er betrat den x-ten Raum - er hatte schon vor langer Zeit aufgehört zu zählen - und knipste aus Langeweile das Licht an, dann öffnete er die Tür zum nächsten und stellte fest, daß auch dort die Lampe brannte. Er machte sie aus - und auch das erste Zimmer war plötzlich dunkel. Super. Mulder blieb verwirrt im Korridor stehen, der mit einem Mal länger wirkte als noch vor wenigen Minuten; vielleicht war es ja nur Einbildung, vielleicht spielte ihm jemand einen schlechten Streich, oder vielleicht war einfach das eingetreten, was seine Kollegen schon seit langem vermuteten: daß er nämlich verrückt geworden war. Ein unangenehmes Gefühl schlich langsam seinen Rücken hoch, um Mulders Gehirn in seine Gewalt zu bringen. Er hatte Angst.
"Samantha!"
Seine Stimme hallte im leeren Korridor wieder, aber er bekam keine Antwort. Er begann zu laufen, doch der Gang dehnte sich unter seinen Füßen und wurde länger, je schneller er rannte. Ein unbeteiligter Teil seines Gehirns kam zum Schluß, daß die Situation an Kafkas Das Schloß erinnerte, und zum ersten Mal in seinem Leben tat es ihm leid, den Roman nicht zu Ende gelesen zu haben.
Schließlich gab er sich geschlagen und versuchte sein Glück zur Abwechslung wieder einmal mit einer der Türen. Tisch, Lampe, Stühle... er war kurz davor, die Tür wütend zuzuschlagen, als er entdeckte, daß in diesem Raum etwas anders war als in allen anderen. Die Schreibtischlampe - die angeschaltet war - stand nicht wie alle anderen in der Mitte des Tisches, sondern war an den rechten Rand gerückt, und der Schirm war so gedreht, daß er den Spiegel beleuchtete. Es gab keinen vernünftigen Grund dafür, ins danebengelegene Beobachtungszimmer zu gehen, um durch das von dieser Seite durchsichtige Glas zu sehen, aber es gab auch keinen Grund dafür, es nicht zu tun. Durch den Spiegel sah er Samantha in dem leeren Raum, den er gerade verlassen hatte. Lange Zeit stand er nur da und starrte sie an. Er hatte sie augenblicklich wiedererkannt, auch wenn nicht mehr viel an ihr an das Mädchen erinnerte, das sie einst gewesen war. Als Kind hatte sie lange, dicke Zöpfe gehabt, jetzt war ihr Haar kurz geschnitten und fast glatt. Ihr Gesicht war mager und hatte scharfe Züge, die denen ihrer Mutter ähnelten, auch wenn sie sonst eher ihrem Vater glich - Mulder war das vorher noch nie aufgefallen. Dafür hatte er nicht genug Zeit mit ihr verbracht. Sie saß auf dem Tisch, die Beine übereinandergeschlagen und ganz konzentriert auf das, was sie tat. Mulder lächelte, als er entdeckte, daß sie ein Armband knüpfte. Es war ihre ganz persönliche Art sich die Zeit zu vertreiben, während sie auf etwas wartete. Er hatte sie Stunden und Stunden damit beschäftigt gesehen, neue Motive zu erfinden, nur um sie dann sofort wieder aufzutrennen, um von vorne beginnen zu können. Es kam selten vor, daß sie ein Band fertigstellte, und wenn, dann nur um jemanden ein ganz besonderes Geschenk zu machen. Mulder hatte sich seines für einem erbitterten Kampf mit seinen Eltern verdient, der damit geendet hatte, daß Sam den streunenden Köter behalten durfte, der später Familienhund geworden war. Er trug das Armband immer noch in seiner Brieftasche bei sich, und es war das einzige Erinnerungsstück an Samantha, das er ansehen konnte, ohne sich müde und machtlos zu fühlen. Seine Angst war verschwunden, und zum ersten mal seit langem hatte er Frieden gefunden: er hatte Samantha wieder, er fühlte sich glücklich, leicht... nutzlos.
Plötzlich hob Samantha den Kopf und ihr Blick, kalt vor Feindseligkeit, durchbohrte ihn, schnitt durch ihn, ein Blick, der ihn erstarren ließ, der seine Muskeln und sein Gehirn lähmte und ihn kaum atmen ließ. Unter Aufbietung all seiner Kraft schaffte er es schließlich, sich abzuwenden und so die Wirkung zu brechen, und nach einigen Sekunden erlangte er auch die Kontrolle über seinen Körper wieder. Er wußte nicht, was plötzlich los war, aber in diesem Moment war nur eines wichtig: Samantha. Er durfte sie nicht noch einmal gehen lassen. Er ging zurück ins andere Zimmer... und erstarrte. Da war niemand mehr. Tisch, Lampe, Stühle waren an ihrem gewohnten Platz, aber Samantha war fort.
Sein Puls ging schneller. Er hatte sie noch einmal verloren.
Aber er war nicht bereit, aufzugeben. Noch nicht. Wieder begann er zu laufen, Türen zu beiden Seiten des Korridors aufreißend. Jedes Zimmer war wie eine Kopie der anderen, und alle waren sie leer.
Leer.
**********
Mulder erwachte schweißgebadet auf seiner Wohnzimmercouch.. Er zog die Beine enger an den Körper und schlang seine Arme darum, sich so klein wie möglich machend, um das Zittern abzustellen, das durch seinen Körper lief. Als er schließlich die Kontrolle über seinen Körper wiederhatte, setzte er sich auf, um wieder zu Atem zu kommen. Die Leuchtziffern des Videorekorders zeigten halb vier Uhr. Er wußte, daß für diese Nacht an Schlaf nicht mehr zu denken war und stand auf, um in seiner Kommode nach einem übergroßen T-Shirt und seiner verwaschenen Jogginghose zu suchen. Dann verließ er die Wohnung und tat das einzige, was ihn am Grübeln hindern konnte: Laufen.
Als er wieder zurückkam, hatte der Himmel zu grollen begonnen, und der Regen setzte ein, noch bevor er die Dusche verlassen hatte. Wieder war eine Nacht zu Ende. Zum Glück.
**********
Fox Mulder schaffte es um ein Haar, der zehntausendsten Pfütze dieses Morgens auszuweichen und fragte sich, was Noah an jenem neununddreißigsten Tag wohl gedacht haben mochte, als er aufgewacht war und feststellen mußte, daß es immer noch regnete. Vermutlich nichts, was auch nur entfernte Ähnlichkeit mit dem hatte, was ihm selber in diesem Moment durch den Kopf ging, denn sonst hätte Gott ohne Zweifel seine Arche zu Kleinholz gemacht.
Im Büro angekommen legte er den triefend nassen Regenschirm auf einen Sessel und bereute es augenblicklich; er nahm ihn wieder hoch und betrachtete verärgert den Fleck, der zurückgeblieben war. Dann fiel sein Blick auf die Uhr, und er fluchte leise, bevor er fluchtartig den Raum verließ, Regenmantel und Schirm ihrem Schicksal überlassend. Schon wieder zu spät.
Vom Untergeschoß des J. Edgar Hoover Buildings stieg er hoch zum Olymp der FBI-Leitung, bis zu seinem Ziel, eine Stufe unter dem Gipfel. Skinners Sekretärin sah ihn wie üblich an, als habe er soeben ihre Katze erwürgt, und wie üblich benahm Mulder sich, als habe er es tatsächlich gerade getan. Mit einem sadistischen Lächeln ließ er sich auf der Couch des Vorzimmers nieder, während die Sekretärin ins Interphon sprach. Er schaffte es nicht einmal, sich zurückzulehnen, als auch schon die Tür zum Allerheiligsten aufging und der Vizedirektor höchstpersönlich erschien, um ihn hereinzubitten.
Während er eintrat und automatisch auf den am weitesten vom Schreibtisch entfernten Stuhl zusteuerte, ging er im Geist noch einmal alle Fälle durch, die er in letzter Zeit bearbeitet hatte. Soweit er sich erinnern konnte, war er keinem Provinzpolizisten auf den Schlips getreten, indem er ihm einen Poltergeist als Täter vorschlug; er hatte keinen Kollegen bloßgestellt, indem er einen scheinbar unlösbaren Fall mit einem kurzen Blick in die Akten abgeschlossen hatte und, vor allem, er hatte sich in letzter Zeit mit keiner einzigen X-Akte beschäftigt. Theoretisch gab es also keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Theoretisch. Skinner musterte ihn einige Augenblicke lang schweigend, und zumindest das war neu. Schließlich schlug er einen dünnen, hellblauen Aktenordner auf, der bestimmt nicht aus den Archiven des FBI stammte und begann in seinem üblichen, leicht vorwurfsvoll wirkenden Tonfall zu sprechen. Manchmal, an besonders schlechten Tagen, stellte Mulder sich vor, wie Skinners Liebesleben wohl aussehen mochte; er konnte sich lebhaft vorstellen, daß allen vom Vizedirektor Auserwählten der nächste Rendezvoustermin noch in den Ohren hallte, wenn Skinner schon längst gegangen war. Und über dieser erheiternden Vorstellung verpaßte Mulder die komplette Einleitung von Skinners Rede. "... in Vietnam. Halmond ist ein sehr guter Freund von mir und ein wirklich guter Polizist, alles, was er braucht, ist ein Rat, ein paar Tips, nichts weiter. Ich habe ihm gesagt, daß Sie morgen früh bei ihm sein können."
Er schloß die Akte und reichte sie Mulder. Der nahm sie mit spitzen Fingern und sah verwirrt von dem anonymen blauen Deckel wieder zu Skinner.
"Alleine?" Offensichtlich war das die falsche Frage gewesen, offensichtlich mußte er lernen zuzuhören, wenn jemand mit ihm sprach - vor allem, wenn dieser Jemand Skinner war.
"Wie ich Ihnen gerade erklärt habe hat es keinen Sinn, ein ganzes Einsatzkommando loszuschicken, nur um ein paar Tips zu liefern. Wir würden uns ja zum Narren machen! Und außerdem sollten Sie wissen, daß Agent Scully den Fall Devemport weiter verfolgen muß."
Mulder nickte abwesend und verließ wortlos das Büro; er winkte der Sekretärin zum Abschied, erhielt postwendend einen genervten Blick und ging automatisch Richtung Aufzug, die Augen nicht von der Akte lassend. Aber sie weigerte sich weiterhin stur, auch nur das Geringste über ihren Inhalt preiszugeben. Ein einfacher, hellblauer Umschlag, ganz bestimmt nichts Offizielles; Walter Skinner war immer für eine Überraschung gut.
In seinem Büro hatte der Regenmantel den Sessel inzwischen völlig durchweicht und machte sich gerade über den Teppichboden her. Mulder setzte sich auf seinen Stuhl, legte die Akte vor sich auf den Schreibtisch und betrachtete sie ohne große Sympathie.
"Wie kannst du nur hoffen, jemals eine Frau zu finden, wenn du derartige Desaster veranstaltest?" ertönte eine weibliche Stimme von der Tür her. Dana Scully navigierte geschickt um den kleinen See, der sich inzwischen auf dem Boden gebildet hatte und ließ sich ihm gegenüber auf einem Stuhl nieder.
"Deshalb bist du auch meine letzte Hoffnung. Lebt Devemport noch?"
"Noch. Was wollte Skinner?" In Scullys Stimme lag mehr als ein Hauch von Besorgnis.
"Nichts von Bedeutung." antwortete Mulder mit einer wagen Geste. Doch Scullys ungläubiger Gesichtsausdruck ließ ihn nicht so ohne weiteres davonkommen.
"Ehrlich; ein Freund von ihm hat ein Problem und hätte gerne die Meinung eines Experten gehört."
"Und da schickt Skinner ausgerechnet dich?" Es war kaum zu glauben, daß Scully aus demselben nassen Inferno kam wie er vor einer knappen halben Stunde; wie immer war sie einfach perfekt. 'Wie eine Leiche in einem Sarg` wäre ein guter Kommentar gewesen, um sich für ihre spitzige Bemerkung zu rächen; er mußte ihn sich unbedingt für eine passende Gelegenheit aufheben. "Ich fliege heute nachmittag. Aber wenn alles gut geht, bin ich in spätestens einer Woche wieder da, um dich zu ärgern."
"Du fliegst? Und ich? Was ist mit deinen großartigen Versprechungen, mit dir würde ich die Welt sehen?"
"Godeyes Town, New Mexico ist nicht gerade Paris."
"Nein, wahrscheinlich nicht." stimmte Dana zu, aber ihre Gedanken waren ganz woanders. Jeder, der sie kannte, hätte das sofort gemerkt: an der nervösen Geste, mit der sie sich eine rotbraune Locke aus dem Gesicht strich, an der ungeduldigen Handbewegung, mit der sie ihr blaues Kostüm zurechtstrich. "Verrätst du mir, um was es geht?"
Mulder schlug die Akte aus und blätterte sie ohne besonderes Interesse durch. Dana atmete auf. Das war keine offizielle X-Akte, noch bestand also Hoffnung.
"Eine Sekte", sagte ihr Partner schließlich, "Soviel ich verstanden habe vermutet Halmond - Skinners Freund, der als Sheriff dort gelandet ist - daß die Mitglieder dieser Sekte für drei Morde verantwortlich sind, die sich in seinem kleinen Städtchen ereignet haben. Nein, Moment..." Er las ein paar Stellen aufmerksamer, und in Scullys Kopf schrillten prompt alle Alarme los. Sie hielt die Luft an, entspannte sich aber bald wieder. Mulder wirkte konzentriert, zeigte aber nicht die Spur jenes schon fast krankhaften Interesses, das immer im ungünstigsten Moment aufflackerte und immer nur eines bedeutete: Schwierigkeiten.
"Nein. Es waren Selbstmorde, Halmond glaubt nur, daß es sich um Morde handelt. Er hält die Mitglieder dieser Sekte für fähig, Menschen in den Selbstmord zu treiben, ungefähr wie die letzte Meisterschaft der Redskins. Kurz und gut, ich soll herausfinden, wie die das machen." Mulder schüttelte seufzend den Kopf und Scully war nun endgültig sicher, daß es keinen Grund zur Besorgnis gab. Das war keine X-Akte, nicht einmal für Mulder.
"Vielleicht kann ich ja einen kleinen Abstecher nach Roswell machen, wenn ich in der Gegend bin, was meinst du?"
Dana musterte ihn unter gerunzelten Brauen und sah verdächtig so aus, als wolle sie ihn schlagen.
"War nur ein Scherz, ehrlich." beeilte sich Mulder klarzustellen und hob die Hände zum Zeichen der Kapitulation.
"Das möchte ich dir auch geraten haben."
KAPITEL 2
Es regnete, als sein Flugzeug von Dulles abhob, und dank eines glücklichen Zufalls regnete es auch, als es in Pueblo aufsetzte. Vor dem Abflug hatte er eine Landkarte zu Rate gezogen und beschlossen, nach Pueblo zu fliegen, um dann im Auto die Grenze nach New Mexico zu passieren. Das war zwar nicht der einfachste Weg, um nach Godeyes zu kommen, aber Mulder hatte keine besondere Eile; außerdem machte es ihm Spaß, neue Gegenden kennenzulernen, und das ging eben am besten, wenn man das Reisetempo selber bestimmen konnte. Er haßte es, mit einem Koffer voller Wollpullover in subtropischem Klima aus dem Flugzeug zu steigen; natürlich hätte ein Anruf im lokalen FBI-Büro oder ein Blick auf den aktuellen Wetterbericht genügt, derartigen Überraschungen vorzubeugen, aber zum Teufel damit, er hatte beschlossen, diesen Auftrag in einen Urlaub zu verwandeln und das würde er auch tun.
Jetzt saß Mulder mit Leichenbittermiene hinter dem Steuer seines Mietwagens, schloß die Augen und hörte einer Weile dem Gewitter zu, das sich auf das Wagendach ergoß; sein Vorsatz schien doch nicht so leicht in die Tat umzusetzen zu sein, wie er gedacht hatte. Als er die Augen wieder öffnete, hatte der Regen sogar noch an Intensität zugenommen. Soviel zum Thema Urlaub.
Während der Fahrt nach Godeyes hatte er ausreichend Gelegenheit, alle Arten von Regen - oder besser: alle Arten von vom Himmel fallendem Wasser - kennenzulernen. Es war sogar Hagel dabei, der auf sein Auto und ein kleines, verlassenes Kaff, das aus nur einer Handvoll Häuser bestand, aber mit einer Tankstelle und einem Motel gesegnet war, niederging. Und dann, nach sechzig langen Meilen, fand er schließlich schönes Wetter und Godeyes, und die sich so plötzlich verändernde Aussicht nahm ihm den Atem.
In den 35 Jahren seines Lebens hatte Mulder noch nie so viele Sonnenblumen auf einem Fleck gesehen. Zu beiden Seiten der Straße erstreckten sich Hektar um Hektar von Feldern voll mit drei Meter hohen Pflanzen mit riesigen Blüten, von denen jede einzelne aussah, wie von Van Gogh persönlich gemalt. Kaum zu glauben, daß er ursprünglich nicht die geringste Lust gehabt hatte, hierher zu kommen! Mulder machte das Autofenster auf - kein Zweifel, er war im Paradies.
Ein Stones-Album und sechs Doors-Songs später hatte Mulder sein Ziel erreicht. Am Stadtrand empfing ihn ein riesiges Schild mit der Aufschrift "YOU ARE ENTERING GODEYES - HOME OF THE SUNFLOWER". Daneben hatte ein Scherzbold eine Art Schneemann aus dornigen Sträuchern errichtet und ihm ein selbstgemaltes Schild mit den Worten "Welcome to Tumblewood City!" um den Hals gehängt. Mulder grinste. Die Menschen hier mochten zwar Probleme mit ein paar Fanatikern haben, die sich einen Spaß daraus machten, ihren Nächsten in den Selbstmord zu treiben, aber zumindest hatten sie ihren Sinn für Humor nicht verloren.
Godeyes war ein 2000-Seelen-Städtchen im Norden von New Mexico, am Fuße der Sangre-de-
Cristo-Berge, und es sah verdächtig so aus, als wäre es erst wenige Stunden vor Mulders Ankunft errichtet worden. Wie war es sonst zu erklären, daß jede einzelne Fassaden in der Sonne leuchtete wie frisch gewienert?
Die Stadt war auf einer Seite begrenzt von einem Bach mit offensichtlichen Ambitionen, ein reißender Fluß zu sein, auf der anderen von zwei Bergketten, die sich am Horizont vereinigten, um so einen waldüberfluteten Fjord zu schaffen, in den sich die Häuser schmiegten.
Mulder fand keinen logischen Grund, warum jemand sich die Mühe gemacht haben sollte, bis hierher vorzudringen, zumindest vor der Erfindung des Großstadt-Streß; aber vermutlich hatten auch die mutigen amerikanischen Pioniere gelegentlich die Nase voll vom ewigen "Go West!" gehabt. Die ehrenwerten Gründerväter von Godeyes hatten wahrscheinlich einen kurzen Blick auf die natürlichen Barrieren geworfen, die sich vor ihnen erhoben und entschieden, daß es die Mühe nicht lohnte hochzuklettern, nur um zu sehen, was auf der anderen Seite lag. Getreu uralten Traditionen hatten sie ein paar Eingeborene ausgerottet, die lokale Fauna dezimiert und eine Kirche gebaut; dann hatten sie festgestellt, daß Sonnenblumen eine natürliche Vorliebe für das Mikroklima dieses Tales hatten, und künstliche Bewässerungssysteme hatte den Rest erledigt. So ungefähr stellte sich Mulder Godeyes' Gründergeschichte vor, und so ungefähr erzählte sie ihm Halmond vor dem Eingang des einzigen, kleinen, nicht besonders gut besuchten Hotels der Stadt mit dem originellen Namen "Godeyes Hotel".
Halmond mußte in seiner Jugend von eindrucksvoller Statur gewesen sein; jetzt war er nur noch korpulent. Er hatte Mulder am Stadteingang erwartet, eine komische Figur in einem anthrazitfarbenen Regenmantel, der sich um seine massive Gestalt spannte. An eine Straßenlaterne gelehnt, hatte er einen fast schon anachronistischen Eindruck gemacht: der einsame, patriarchale Wächter über Frieden und Wohlergehen der guten Bürger von Godeyes.
Halmond hatte ihn sofort erkannt - in der Gegend schienen nicht sehr viele Fremde herumzulaufen - und angehalten. Auf dem Weg zum Hotel hatte er ihm ein paar Anekdoten über den alten Walt Skinner erzählt, die er offensichtlich sehr amüsant fand, bevor er sich schließlich in einer abstrusen Erzählung über Professor Albert O'Reillys Taten und Untaten erging, die sich für Mulders Geschmack verdächtig nach Gothik-Horror anhörte. Als Mulder schon zur Auffassung gelangt war, daß er Halmond wahrscheinlich erst umbringen würde müssen, um auf sein Zimmer gehen zu können, zerquetschte ihm Halmond noch einmal die Hand in seinen Pranken und ging mit schweren, selbstsicheren Schritten davon.
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Dieses Mal wußte Mulder, daß er träumte. Es war einer jener janusköpfigen Träume, in denen man alles in dem sicheren Wissen, daß es nicht real ist, erlebt und trotzdem kurz vor dem Herzinfarkt steht, wenn man vor etwas davonrennen will und die Beine plötzlich wie am Boden festgewachsen sind. Aber in diesem Traum gab es keinen Grund davonzulaufen. Er lag ausgestreckt auf einer Wiese, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, inmitten eines Meeres von Sonnenblumen, die mit der warmen Herbstsonne, die sein Gesicht liebkoste, um die Wette strahlten. Alles war so perfekt wie in einem alten, kitschigen Film. Während er auf einem Grashalm herumkaute, beobachtete er die Wolken, die, vom Wind wie von einem gutmütigen Hirten herumgeschoben, ein Ballett zu proben schienen und dabei ständig das Kostüm wechselten. Und nicht einmal der Schatten einer fliegenden Untertasse. Mulder atmete tief durch; endlich hatte er Frieden gefunden.
Aber etwas tief in ihm war nicht bereit, sich der Wärme der Sonne auf seiner Haut zu ergeben. Etwas, das nicht zuließ, daß er sich vom Frieden und der Schönheit, die ihn umgab, tragen ließ, etwas wie ein kleiner Sprinkler, der das Feuer seines Enthusiasmus daran hinderte, ihn ganz zu verschlingen. Das Gefühl war nicht neu für ihn, im Gegenteil, es war wie ein guter Bekannter, der ihn schon lange begleitete, ein alter Freund mit der lästigen Angewohnheit, immer im ungünstigsten Moment aufzutauchen. Und es gab nur einen Weg, das Gefühl loszuwerden.
Er schloß die Augen und verließ seinen Körper. Von einer kleinen Anhöhe aus sah er sich im Gras liegen, ausgestreckt, ein Körper, klein und unbedeutend zwischen den vielen Sonnenblumen. Er stieg höher. Ein Vogel hätte ihn klein wie einen Käfer gesehen; vielleicht hätte er ihn einen Moment lang beobachtet, und dann, nachdem er den reglose Körper für harmlos befunden hatte, seinen Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet. Noch höher, und das Feld verschwamm in ineinander übergehende Grün-, Gelb- und Rottönen, in dem bunten Fleckenteppich, der New Mexico war. Von noch weiter oben wurde es schwierig, die einzelnen Kontinente unter der Wolkendecke auszumachen, und schließlich begann auch die Erde zu schrumpfen, um sich in den unendlichen Weiten des Weltalls zu verlieren. Was waren seine Ängste verglichen mit diesen Dimensionen, in einem Universum, in dem die Erde nur ein winziges Insekt war, das einen unbedeutenden Stern umschwirrte? Nichts.
Ein Licht.
Weit entfernt zerschnitt ein Lichtstrahl das Sternendunkel. Eine Supernova?
Er war ziemlich enttäuscht, als er die Augen öffnete und entdeckte, daß es nur die Lampe auf seinem Schreibtisch war, die seinen Ausflug ins Weltall so rüde unterbrochen hatte. Irgendein Witzbold hatte sie so gedreht, daß sie ihm direkt ins Gesicht leuchtete. Geblendet tastete er nach dem Schalter und knipste das Licht aus, allerdings nicht, ohne sich vorher am heißen Schirm die Finger verbrannt zu haben. Was für ein Tag!
Er mußte in seinem Büro, während der Arbeit eingeschlafen sein. Fehlte nur noch, daß Skinner Wind davon bekam! Er sah auf die Uhr. Drei Uhr nachts, nein, Skinner war kein Problem. Trotzdem, etwas beunruhigte ihn. Er hätte schwören können, in seinem Hotelzimmer eingeschlafen zu sein, in... wie hieß das Kaff doch gleich?... Godeyes. In Laufe seiner Tätigkeit als FBI-Agent hatte er unzählige X-
Files über das Phänomen der Teletransportation gelesen, ganz zu schweigen von all den einschlägigen Star-Trek-Folgen, die in den letzten drei Jahrzehnten gesehen hatte. Aber er hätte es bestimmt schon früher gemerkt, wenn er selber derartige Fähigkeiten besessen hätte, spätestens bei der ersten Standpauke von Vizedirektor Skinner. Und Scotty war auch nie zur Stelle, wenn man ihn brauchte: "Energie!", und voilà - zu schön, um wahr zu sein.
Er sah sich um, um herauszufinden, ob er vielleicht immer noch träumte. Und erstarrte. Neben der Tür, bequem an den Schrank mit den X-Akten gelehnt, stand Samantha. Die Arme über der Brust verschränkt beobachtete sie ihn lächelnd. Aber es lag keine Fröhlichkeit in ihrem Ausdruck, ihr Blick war voll von Vorwürfen und Verachtung. Sie schien schon seit einiger Zeit darauf zu warten, daß er sie endlich bemerkte.
Und dann sprach sie.
"Also bist du endlich gekommen."
KAPITEL 3
Der Morgen kam spät, den mit einem Mal wolkenverhangenen Himmel herausfordernd, der eimerweise Wasser auf die leidende Menschheit zu stürzen drohte. Mulder schlich die Holztreppe seines Hotels hinunter, in der wagen Hoffnung, unbemerkt das Haus verlassen zu können. Er hatte das Gefühl, in seinem gemütlichen kleinen Hotelzimmer ersticken zu müssen und wäre am liebsten nach draußen gerannt, aber das erschien ihm dann doch die geeignetste Methode zu sein, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er schaffte es nicht. Die sprichwörtliche Gastfreundschaft von Godeyes Town fing ihn gnadenlos ab, und er sah sich gezwungen, unter den wachsamen Augen einiger Kellnerinnen zu frühstücken. Schließlich war er ein Agent des FBI, nicht ganz so wichtig wie der Star des Tages, der Reporter des "News Of The Day", aber alles in allem auch nicht schlecht - immerhin war er die Vize-
Persönlichkeit des allgemeinen Interesses von Godeyes.
Der Star des Tages, abgesehen von den Mördern, Verdächtigen oder unschuldig Verfolgten, je nach Standpunkt, mußte in einem früheren Leben mindestens einmal eine Schlange gewesen sein. Natürlich war auch er Gast des "Godeyes Hotel" und natürlich wußte er längst von Mulders Ankunft.
Michael Debris, seines Zeichens berühmter Journalist der verbreitetsten Lokalzeitung, lächelte ihm pflichtschuldigst von der anderen Seite des Saales her zu und kam unverzüglich mitsamt Teller und Kaffeetasse zu ihm herüber. Er begrüßte Mulder freundlich und lud sich an seinen Tisch ein, ohne auch nur auf ein "Guten Morgen" zu warten.
"Also hat unser guter Halmond doch noch das FBI verständigt." Der Satz hing in der Luft, während Mulder wütend seinen inzwischen lauwarmen Kaffee vivisezierte. "Es wurde auch langsam Zeit." fuhr Debris aufmunternd fort.
Mulder zwang sich, den Kopf zu heben und musterte den Reporter stumm. Die Hände des anderen begannen, nervös an der Serviette herumzufummeln. Als Mulder sich weiterhin standhaft weigerte, irgend etwas wie auch immer Geartetes zu sagen, wurde dem guten Mann sichtlich unbehaglicher; schließlich quetschte er noch einige freundliche aber absolut unehrliche Sätze hervor, bevor er sich sehr zu Mulders Freude aus dem Staub machte. Mulder beendete ruhig sein Frühstück, besuchte dann sein Auto, das auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude stand und machte sich schließlich zu Fuß auf den Weg, ohne genau zu wissen, wohin er ihn führen würde. Er hatte beim besten Willen keine Idee, wo er als erstes hingehen sollte, wie auch, er wußte ja nicht einmal, wonach er suchen sollte. Vielleicht wäre es am klügsten gewesen, gleich als erstes Professor Albert O'Reilly zu besuchen, um zu sehen, ob er danach ein unüberwindbares Verlangen empfand, sich von einem Balkon zu stürzen, aber er glaubte den mehr oder weniger wirren Verdächtigungen des Sheriffs nicht. Sie machten einfach keinen Sinn. *Andererseits* dachte er für sich, während er die gepflegten Einfamilienhäuser an der Straße und den perfekten Rasen davor betrachtete *Andererseits würde ich mich auch umbringen, wenn ich hier wohnen und Sonnenblumenkerne nicht mögen würde. Oder ich würde anfangen, Sonnenblumenkerne zu hassen*.
Er verwarf letzteres als völlig undenkbares Szenario und beschloß, als erstes den Gerichtsmediziner aufzusuchen. An einer Ecke traf er ein paar Kinder, die ihre diplomatischen Fähigkeiten an einem wütenden Hund ausprobierten. Er fragte sie nach dem Weg, aber noch während sie damit beschäftigt waren, sich gegenseitig mit immer komplizierteren Beschreibungen zu übertrumpfen, funkte eine Frau vom Typ "meine-Liebe-du-errätst-nie-mit-wem-ich-heute-gesprochen-habe" dazwischen und erklärte ihm mit strahlendem Plastiklächeln, daß die Frau Doktor Seabright, die eigentlich die Gemeindeärztin war, jeden Montag und Freitag Vormittag als Gerichtsmedizinerin im Bezirkskrankenhaus arbeitete. Mulder bedankte sich und ging zurück zu seinem Auto.
**********
"Miss Sunflower?"
Die Frage klang etwas skeptischer, als sie eigentlich gemeint gewesen war. Gerahmte Fotos einer bunten, ausgelassenen Parade an den Wänden eine Seziersaales waren an und für sich schon eine etwas merkwürdige Kombination, aber der Anblick einer Miss Sunflower aus Fleisch und Blut und in steriler Kleidung, die sich über eine Leiche beugte, verwirrte ihn dann doch noch mehr.
"Haben Sie auch die Jahrzahl auf der Schleife gelesen?" Katherine Seabright, die zuständige Gerichtsmedizinerin, schien amüsiert, was etwas merkwürdig war, wenn man bedachte, womit sie im Moment beschäftigt war. Es sah so aus - Mulder zog es vor, nicht nahe genug hinzugehen, um seinen Verdacht bestätigen zu können - als nähe sie ein klaffendes Loch im Bauch eines Jungen, der entschieden zu jung für diese Umgebung war.
"Woran ist er gestorben?" fragte er sie, um sich von dem dringenden Verlangen, sich vorzeitig von seinem Frühstück zu trennen, abzulenken.
"Morbus Kawasaki." Die Ärztin legte Pinzette und Schere beiseite und begutachtete ihr Werk noch einmal. Sanft, mit einer fast zärtlichen Geste berührte sie das Gesicht des Jungen, als streichle sie ihn ein letztes Mal.
"Er war gerade mal 17. Er trug einen Helm, aber der war ihm viel zu groß... seine Eltern haben der Entnahme der Organe zugestimmt."
Sie wandte sich zu Mulder um, der sehr dankbar dafür war, daß sie ihm so den Blick auf das viel zu friedliche Gesicht des Toten versperrte. "Ich hoffe, ich kann zumindest Ihnen helfen, Agent Mulder.", sagte sie mit einem traurigen Lächeln.
"Woher wissen Sie..."
"Ihren Namen?" Sie bedeutete ihm, ihr zur anderen Seite des Saales zu folgen, "Halmond hat mir erzählt, sein Freund beim FBI würde uns jemanden vorbeischicken. Und außerdem wohnen Sie im Hotel von Lucy, der Kusine der Frau meines Onkels. Willkommen in unserer wunderbaren kleinen Stadt auf dem Land!"
Nacheinander zog sie die Tücher von den drei Körpern auf den Metalltischen.
"Zwei von ihnen waren schon zur Beerdigung freigegeben, aber dann passierte das mit Andrew, und Halmond forderte weitere Untersuchungen. Wir halten sie zwar gekühlt, aber das ist nicht gerade eine Dauerlösung - es tut mir leid, daß ich Ihnen das zumuten muß."
Mulder hatte mehr Tote gesehen, als ihm lieb war, und manch einer war in schlechterer Verfassung gewesen. Dennoch würde er sich nie an die Gerüche und Geräusche eines Seziersaales gewöhnen, und jedes Mal, wenn er gezwungen war, einen zu betreten, stieg seine Achtung vor allen, die das tagtäglich aushielten. Scully zum Beispiel.
Das Schlimmste aber war das hartnäckige Gefühl, die Toten zu kennen, das ihm sein fotografisches Gedächtnis aufgrund der Bilder in den Akten vorgaukelte: James Tawara, 56, das erste Opfer; der Mann hatte sich vor drei Wochen in der Garage seines Hauses erhängt; Molly Sheppard, 34, Mutter eines fünfjährigen Mädchens, von ihrem Mann mit durchgeschnittenem Hals im Badezimmer aufgefunden; und schließlich der jüngste Fall, Andrew Silver, ein Neunzehnjähriger, der sich in den Kopf geschossen hatte, peinlich darauf bedacht, im Fallen das Fleischermesser zu treffen, daß er mit der Spitze nach oben zwischen zwei Bodenbrettern fixiert hatte. Tolle Art zu sterben.
"Gibt es Hinweise darauf, daß jemand versucht hat, eventuelle Spuren an den Leichen zu beseitigen?"
"Halmond hat gesagt, daß er etwas in dieser Richtung vermutet. Aber ich habe bei keinem von ihnen Zeichen von Gewaltanwendung durch Dritte oder Spuren, die auf einen Kampf schließen lassen, gefunden. Es gab weder Abwehrverletzungen noch intravitalen Verletzungen; und auch unter den Fingernägeln war nichts, das auf einen eventuellen Täter hindeutet."
Mulder näherte sich widerstrebend dem ersten Tisch, auf dem der Körper von James Tawara lag.
Es war nicht der erste Erhängte, den er sah, aber bei keinem anderen zuvor hatte er solch merkwürdigen Quetschungen und Blutergüsse auf der Brust bemerkt.
"CPR - Herz-Lungen-Wiederbelebung." erklärte die Ärztin, die seinen Blick richtig gedeutet hatte, "Der Strang ist eine ziemlich scheußliche Methode, um zu töten oder um sich umzubringen. Meistens geht es relativ schnell - je nachdem, wie dick das Seil ist - aber manche Opfer leben noch einige Minuten, nachdem die Schlinge sich zugezogen hat. Wie James." Mulder glaubte, ein leichtes Zittern in ihrer Stimme zu hören, war sich aber nicht sicher, "Der zertrümmerte Kehlkopf hat paradoxerweise verhindert, daß er sofort erstickte. Manchmal, wenn schnell genug Personen zur Stelle sind, die etwas von Erster Hilfe verstehen, können die Opfer noch gerettet werden. Zwei Passanten haben James zufällig gefunden und haben es geschafft, ihn am Leben zu erhalten, bis ich kam, aber ich konnte nichts mehr für ihn tun. Beim Reanimationsversuch sind dann einige seiner Rippen gebrochen. Das kommt vor; die Patienten, bei denen die Wiederbelebung funktioniert, beklagen sich im allgemeinen nicht, die, bei denen das nicht zutrifft... beklagen sich nie."
"Und die toxikologischen Untersuchungen?"
"Negativ bis auf Spuren eines Beruhigungsmittels in Andrews Blut, allerdings handelt es sich um ein ziemlich gebräuchliches Medikament, das man in jedem Supermarkt frei kaufen kann. Der Gebrauch von Tranquilizern bei Selbstmordversuchen ist aber nichts Ungewöhnliches, besonders bei derart harten Methoden."
Mulder sah sich um. Das, was er sah, half ihm nicht viel; den Bericht der Ärztin hatte er schon gelesen, und er konnte sich nicht vorstellen, daß sie ihm absichtlich etwas verheimlichte. Blieb Halmond: niemand bat das FBI nur so zum Zeitvertreib um Unterstützung, und außerdem war Halmond Skinners Freund, und Skinner ... war ein sehr guter Grund, weiter zu ermitteln.
"Wäre es möglich, Haarproben von den Opfern zu nehmen?" fragte er.
"Ich glaube nicht, daß einer von ihnen irgendwelche Drogen genommen oder verabreicht bekommen hat, die die Bluttests nicht ans Licht gebracht haben, aber ich gebe Ihnen gerne Proben. Wir sind für derartige Tests hier nicht ausgerüstet, und ich muß gestehen, daß ich auch keine Erfahrung mit solchen Untersuchungsmethoden habe. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht würde ich die Ergebnisse gerne sehen, ein bißchen Fortbildung kann nie schaden."
"Ich werde Ihnen den Bericht zukommen lassen. Und da wäre noch etwas; meine Partnerin ist forensische Pathologin, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn... "
Miss Sunflower 1987 schenkte ihm ihr bestes Paradelächeln: "... sie Ihre Partnerin meinen Bericht überprüfen lassen? Nein, im Gegenteil, ich würde mich geehrt fühlen."
KAPITEL 4
Es wurde langsam dunkel; das Abendessen war schon einige Zeit her, aber Mulder war immer noch am Verdauen. Er saß am sanft abfallenden Ufer des Flusses und hatte nicht die geringste Lust, ins Hotel zurückzukehren - zum einen, weil dort bestimmt schon Debris auf der Lauer lag, zum anderen... weil er keine Lust hatte und Schluß.
Er hatte das getan, was Halmond ihm geraten hatte. Euphemistisch ausgedrückt. Zwar hatte er nicht direkt mit O'Reilly gesprochen, noch nicht, denn auf das Mittagessen war eine kleine Feier gefolgt; man hatte eine Kerze für Kenneth, Julias und Dans jüngsten Sproß, und dessen ersten Zahn angezündet, danach mußten die Felder bewässert werden und der Traktor hatte ein so merkwürdiges Geräusch gemacht... um den kaputten Toaster hatte er sich höchstpersönlich gekümmert, im Umgang mit Schraubenziehern hatte er Talent.
Er lächelte in die Dunkelheit. Dan hatte von wiedergefundener Harmonie gesprochen. Und er hatte recht gehabt. Der Ausspruch stammte zwar mit ziemlicher Sicherheit aus irgendeinem schlechten New-Age-Pseudo-Ratgeber, aber er konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal so... ja, so glücklich gewesen war. An diesem Nachmittag hatte er zum ersten Mal seit langem wieder ein paar schöne Stunden erlebt, zusammen mit Leuten, die Alltägliches zu schätzen wußten, einfache Worte ohne doppelten Boden, an einem Ort, wo "Guten Morgen" einfach "Guten Morgen" bedeutete, nicht mehr und nicht weniger.
Sein Bericht für Skinner war vorbereitet und in seinem Gehirn gespeichert; trotzdem zog er es vor noch abzuwarten. Skinner würde verstehen, wenn er noch ein paar Tage in Godeyes blieb, um sich eine Verteidigungsstrategie für Halmonds unausweichliche Tobsuchtsanfälle zurechtzulegen. Und vor allem, um zu O'Reilly zurückzukehren. Er hatte schließlich einen Fall zu untersuchen. Außerdem faszinierte ihn dieser Mann. Vielleicht bedeutete sein Traum vom Sonnenblumenfeld, als er geträumt hatte, endlich Frieden gefunden zu haben, ja, daß er intuitiv schon gewußt hatte, was er erst jetzt rational erfaßt hatte.
Athanatoi.
Das war der Name, den der Professor für seinen "Kulturkreis" - wie er es nannte - ausgewählt hatte. Wenn ihn seine Griechischkenntnisse nicht betrogen, bedeutete das "die ohne Tod sind" - die Unsterblichen. Wie der Geist, die Gedanken. Er legte den Kopf in den Nacken und sah hoch zu den Sternen. Es kam nicht oft vor, daß er das tat, aber die Nacht war klar, der Himmel wolkenlos, und um ihn herum herrschte beruhigende Stille. Er würde Samantha nie vergessen, er würde die Suche nach ihr nie aufgeben, aber wenn er jetzt die Möglichkeit hatte, einen Moment, nur einen Moment lang das Leben, sein Leben zu genießen, dann, vielleicht...
**********
Halmond hatte keine Ahnung, was er von dieser ganzen Sache halten sollte, und noch weniger, was er diesbezüglich unternehmen sollte. Auf seiner alltäglichen Morgenrundfahrt hatte er vom Wagen aus etwas Graues, das auf den ersten Blick wie ein Bündel Lumpen aussah, am Flußufer entdeckt. Er hatte natürlich sofort angehalten - in Godeyes wagte es natürlich niemand, seinen Müll einfach so im Wald abzuladen, dafür sorgte er schon; aber es war schon vorgekommen, daß ein verängstigtes Mädchen aus der Umgebung ein Neugeborenes "vergaß", manchmal auch auf Anraten der Angehörigen. Also war er die Böschung hinuntergerannt, ungeachtet der Gefahr eventueller Knöchelbrüche oder Herzinfarkte, nur um feststellen zu müssen, daß es sich zumindest dieses Mal nicht um ein Baby handelte, sondern um diesen merkwürdigen FBI-Typen aus Washington, der ihn verschlafen anblinzelte, als sei er gerade erst aufgewacht.
Mulder gähnte und rieb sich die Augen, bis Die Autorität Von Godeyes scharfe Konturen angenommen hatte und entdeckte Muskeln in seinem Körper, von deren Existenz er bis zu diesem Tag nicht einmal geträumt hatte. Er fühlte sich... zerknittert, aber im Großen und Ganzen eigentlich ganz passabel. Eine schöne, große Tasse voll mit irgend etwas Warmen, egal was, würden den morgendlichen Bodennebel aus seinem Hirn schon vertreiben, und eine heiße Dusche und frische Kleidung würden bestimmt helfen, ihm wieder ein etwas menschlicheres Aussehen geben. Es ging ihm großartig. Zum ersten Mal seit langem hatte er eine Nacht durchgeschlafen, ohne von Samantha zu träumen.
"Guten Morgen."
"Sie haben hier geschlafen?" Halmond erstickte fast an der Frage.
"Na ja, ich fürchte, ich bin eingeschlafen. Es ist so ruhig hier. So..."
"Oh ja, besonders während der Gewitter, die um diese Jahreszeit hier ziemlich häufig sind. Wenn es während der Nacht irgendwo oben im Sangre de Cristo einen Wolkenbruch gegeben hätte, würde man sie um diese Zeit wahrscheinlich gerade in Santo Domingo aus dem Wasser fischen.
Mulder grinste schief und reckte sich. "Die Strände dort sollen sehr schön sein."
Nachdem er sich vergewissert hatte, daß seine Beine noch da und halbwegs funktionstüchtig waren, stand er auf und machte sich auf den Weg hoch zur Straße. Warum schaffte er es immer wieder so mühelos, gewissen Leuten, insbesondere Gesetzeshütern, auf den Schlips zu treten? Er war sich ziemlich sicher, daß er das nicht absichtlich machte, es war etwas, gegen das er machtlos war, eine natürliche Begabung sozusagen. Andererseits, was hatte er denn Falsches getan? Was hatte es Halmond zu interessieren, wo er schlief und wo nicht? Langsam begann er zu verstehen, was O'Reilly mit diesen Spießern mitmachte.
**********
Die Rückkehr ins Hotel wurde ein ausgewachsener Spießrutenlauf. Jeder einzelne Bürger von Godeyes schien zu wissen, wo er geschlafen hatte, und alle gaben ihr Bestes, ihm zu verstehen zu geben, daß sie seine Wahl mißbilligten. Debris empfing ihn mit einem vor Freundlichkeit nur so triefendem Lächeln, und die Besitzerin des Hotels rannte ihm nach, als wolle sie ihn wegen seiner Ungezogenheit übers Knie nehmen. Fox, böser Junge, du hättest doch zumindest anrufen können! Ob er jetzt noch Frühstück wollte? Erst das heiße Wasser der Dusche schaffte es, die angesammelten Vorwürfe des Morgens wegzuwaschen. Er war fest entschlossen, sich diesen wunderbaren Tag von niemanden versauen zu lassen.
Noch während er sich abtrocknete musterte er abschätzig den zweiten Anzug, den er zum Wechseln mitgebracht hatte. FBI-08/15-Uniform, Marke Einheitsquälkluft. Er wühlte sich durch seine Reisetasche und brachte Jeans, ein Baumwollhemd und einen Sweater zum Vorschein, eigentlich seine Ausrüstung für den Notfall, aber für diese Gegend bestimmt besser geeignet als ein Anzug. Als er sich das Halfter seiner Dienstwaffe um die Schultern schnallte, fühlte er sich plötzlich, als hätte ihm jemand einen Schlag verpaßt, und der Morgen hörte mit einem Schlag auf, wunderbar zu sein. Es war wie in dem Traum, als Samantha ihn angesehen hatte, die Augen voller unausgesprochener Vorwürfe und Haß. Er strich in Gedanken versunken über das weiche Leder und langsam, ganz langsam ließ der Schmerz nach.
**********
Scully saß in Mulders Büro, kerzengerade und sehr, sehr wütend. Durch die geschlossene Tür drangen gedämpft die üblichen Geräusche eines ganz normalen Arbeitstages: klingelnde Telefone, Fotokopierer, Faxgeräte, die kilometerweise Berichte und Expertisen ausspuckten, Drucker, die ganze Stapel von Papier verschlangen, und Menschen, Dutzende, hunderte von Agenten die diskutierten, redeten, Meinungen austauschten, Vorgehensweisen ausarbeiteten. Alles war so, wie es sein sollte. Ein Büro wie jedes anderen, ein Zahnrädchen wie so viele im Getriebe der öffentlichen Verwaltung. Schließlich war das hier keine Fernsehserie mit quietschenden Autoreifen und Leuten, die sich andauernd zum Narren machten. Aber wahrscheinlich würde eine Serie, die Regierungsangestellte beim Studieren von Akten oder Agenten, die sich stundenlang über einen Fall unterhielten, keinen besonderen Anklang beim Publikum finden. Wer sich derartige Sachen ansah, machte selber jeden Tag dasselbe. Wie alle hier auch. Es war also ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag.
Nein, sie war nicht wütend, sie war kurz davor auszurasten. Sie faßte die Kaffeetasse, die sie mit beiden Händen hielt, fester, und die Knöchel an ihren Fingern traten weiß hervor. Alles war normal da draußen. Nicht wie hier drinnen, in diesem kühlen, stillen Raum mit der schlechten Beleuchtung, die Wänden tapeziert mit verschwommenen Fotos und unzähligen Lagen verschiedenster Papiere, und Möbeln, die unter Akten, Büchern und undefinierbaren Objekten begraben waren. Schräg ihr gegenüber hing das Foto eines länglichen Objekts, dessen unscharfe Kontur sich aus einem Meer von Baumwipfeln zu lösen schien, darunter lag ein Stück schwarzen Steins auf dem Umschlag von "Der Totenkult der Dayaki". 3. Auflage, man sollte es kaum glauben.
Skinners erste Amtshandlung an diesem Morgen war gewesen, sie in sein Büro zu zitieren, und auch er war nicht gerade der Inbegriff der guten Laune gewesen. Ob sie in letzter Zeit mit Mulder gesprochen hatte? Nein, sie hatte nicht mit ihm gesprochen. Sein Handy war in letzter Zeit immer abgeschaltet, und ins Hotel kam er so gut wie nie. Im Gegenzug hatte sie zwei Mails bekommen: "Ich denke, ich bleibe noch ein paar Tage." und "Professor O'Reilly ist eine sehr interessante Persönlichkeit. Ich lasse von mir hören." Das war vor zwei Tagen gewesen.
Ob alles in Ordnung war? Nein, nichts war in Ordnung. Mulder war nämlich nicht so verschroben, wie allgemein behauptet wurde, und daß er mit kaum jemandem redete kam nur daher, daß er Leuten, die ihm ohnehin nicht zuhörten, nichts zu sagen hatte. Bei ihr war das anders. Sie hörte ihm zu, und er redete mit ihr. Sie waren schon vor langem zu einer einzigen Person verschmolzen, und mittlerweile kursierten sogar schon ein paar Gerüchte, die üblicherweise hinter vorgehaltener Hand und mit augenzwinkerndem Grinsen weitergegeben wurden.
"Wußten Sie, daß Sheriff Halmond ihn schlafend am Fluß gefunden hat?" Die Stimme des Vizedirektors hatte nicht etwa vor Häme getrieft, wie ein ungeübter Beobachter vielleicht angenommen hätte. Im Gegenteil, Skinner war besorgt, nervös, verwirrt gewesen, aber es hatte nur so ausgesehen, als wolle er Mulder mit bloßen Händen erwürgen.
"Schlafend, Sir?", hatte Scully schwach erwidert, "Vielleicht haben Sie da etwas falsch verstanden."
**********
Mulder saß bereits seit ein paar Stunden auf der Terrasse von O'Reillys Ranch. Die Gläser waren schon ein paar Mal geleert und wieder mit Eistee nachgefüllt worden, und noch immer war der große Krug nicht halb leer; von Zeit zu Zeit krabbelte eine Biene auf dem Rand herum, um von der dunklen Flüssigkeit zu kosten, und kehrte dann wieder zu ihren geflügelten Artgenossen zurück, die die warme Luft genossen. Ein paar Mal hatte die leichte Brise die Motorgeräusche eines Wagens, der winzig wie eine Ameise die Straße am Talboden entlangkrabbelte, zu ihnen hochgetragen, um für einen Augenblick das Gespräch zu unterbrechen. Worte, die langsam, ruhig, gemütlich dahinplätscherten.
Anfänglich war Mulder auf der Hut gewesen, wachsam nach den Erlebnissen seiner ersten Begegnung mit diesem so außergewöhnlichen Mann. Aber die Harmlosigkeit der Themen hatte seine Wachsamkeit schließlich durchbrochen, was auch egal war, da überhaupt nichts von dem ganzen Gespräch irgendeine Bedeutung für seine Untersuchung hatte. Aus dem Haus drang der himmlische Geruch frisch gebackenen Brotes, von weißen Leinentischdecken, die aus Schränken geholt wurden, wo sie sauber gefaltet neben Sträußchen Lavendel gelegen hatten, von Schokoladekeksen mit Zimt.
"Das Schlüsselprinzip ist das der Verantwortung." sagte O'Reilly unerwartet, während er noch einmal Tee nachgoß, und Mulder fühlte sich plötzlich wie ein aufgespießter Käfer unter einer Glasvitrine.
"Verantwortung?" fragte er in der Hoffnung, daß seine Worte gleichgültig genug klangen.
"Genau, Agent Mulder. Darf ich Sie Fox nennen? Schließlich haben sie meinem Toaster das Leben gerettet."
"Ich würde es vorziehen... "
"Oh, natürlich, wie Sie wünschen, Agent Mulder."
"Mulder reicht."
"Sehen Sie, ich bin der Auffassung, daß der einzige Weg, mit sich selber und der Welt, die uns umgibt, in Harmonie zu leben, das Akzeptieren der eigenen Verantwortung ist. Das ist für jeden unumgänglich, der seinen inneren Frieden finden will. Was glauben Sie, warum wir uns in der freien Natur so entspannt und ruhig fühlen?"
"Weil die Natur frei von vom Menschen geschaffenen Rhythmen ist und man keinen äußeren Zwängen gehorchen muß?" mutmaßte Mulder in Anlehnung an den Text auf einer Crackerpackung, die er in der Reformkostabteilung gekauft hatte. O'Reilly kicherte wie ein Fünfzehnjähriger. "Wo haben Sie denn den Unsinn her? Nein, weil die Natur keine Alibis kennt. Alles stellt sich den Folgen seiner Handlungen und akzeptiert, was es ist. Anders ist das nicht möglich, es gibt keine Ausreden. Alles ist einfach, linear. Oder haben sie schon einmal eine Antilope gesehen, die sich zum Geparden umdreht und sagt "Oh, entschuldige, aber mir tut heute das Bein weh, könnten wir die Jagd nicht auf morgen verschieben?" Ist das nicht lächerlich? Und trotzdem tun wir dasselbe jeden Tag von neuem."
"Lauf." sagte Mulder leise.
"Bitte?"
"Lauf, nicht Fuß." wiederholte Mulder, aber es war ihm überhaupt nicht nach Lachen zumute.
"Jeder von uns muß die Konsequenzen seiner Handlungen annehmen, muß die Folgen von dem, was er tut oder läßt akzeptieren, ohne Ausnahmen oder Spitzfindigkeiten. Das ist notwendig, ganz alleine für uns selber , nicht für andere. Wir müssen uns von Schuldgefühlen und Gewissensbissen befreien, um in Frieden mit uns selber leben zu können. Denken Sie nach - gibt es in ihrem Leben etwas, das Sie bereuen, etwas, das Sie getan oder nicht getan haben?"
Konnte O'Reilly recht haben? Wie konnte der Professor etwas, das ihm seit so vielen Jahren keine Ruhe ließ, besser verstehen als er selber? Vielleicht hatte er sich tatsächlich nur einen Schutzwall konstruiert, eine persönliche Copingstrategie, um mit dem Verlust seiner Schwester und seinen Schuldgefühlen fertig zu werden. Solange er sich einredete, außerirdische Wesen oder irgendeine obskure Regierungsorganisation hatten sie entführt, wies er jede Verantwortung von sich. Ganz einfach.
Unsinn. Wenn dem tatsächlich so wäre hätte sein ganzes Leben keinen Sinn gehabt. Der Professor konnte einfach gut mit Worten umgehen, und sein Weltbild war, im Großen und Ganzen, sehr interessant. Aber das hieß noch lange nicht, daß man nach guter alter Wohnzimmerpsychologie-
Manier eine philosophische Anschauung nehmen konnte, um sie auf Individuen zu projizieren. Außerdem hatte er sich diese Frage selber schon tausend Mal gestellt, ohne sie beantworten zu können.
Ende von Teil 1
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