Anmerkung der Autorin: Die ursprüngliche Version dieser Geschichte entstand vor US-Ausstrahlung der zweiten Staffel. So ist es kein Wunder, daß ein oder zwei kleinere Spekulationen, die ich über Lindseys Ursprünge anstellte, mittlerweile längst von der Serien-Realität (sprich: Folgen wie "Epiphanies" und "Dead End") hinweg gefegt wurden. Die hieraus entstehenden Umstimmigkeiten mit dem offiziellen Buffyverse-Kanon bitte ich zu entschuldigen und wünsche jedem Leser trotzdem viel Spaß! Bimo, Juli 2001.

 

GIER
von Bimo

 



Das Auswahlverfahren hat die Zahl der Bewerber auf fünf heruntergeschraubt. Bilder und Lebensläufe der Kandidaten liegen in verschlossenen Umschlägen, ausgebreitet auf dem Schreibtisch. Zärtlich streicht die Seherin mit den Fingern über das braune Papier, schließt die Augen und summt in Trance vor sich hin. Ein hoher, atonaler Singsang, der das Warten unerträglich macht, doch Holland Manners verzieht keine Miene. Das bedauerliche Schicksal seiner Vorgänger hat ihn gelehrt, die Übernatürlichen mit Gelassenheit und Respekt zu behandeln, sie niemals zu drängen oder zu verärgern. Wartend gleitet sein Blick durch das Panorama-Fenster über die Hochhausschluchten des nächtlichen L.A., solange bis die Frau zu ihrem endgültigen Urteil gekommen ist.
"Da, dieser hier." Sie deutet auf den Umschlag zu seiner linken. "Größeres Potential als die anderen."
"Und die Schwächen?"
"Seine Fehler finden Sie heraus, wenn es soweit ist."
Ihrem Mund entspringt ein Kichern. Sie geht auf Holland zu, schwarz und rätselhaft, und bei jedem einzelnen Schritt rascheln die Falten ihres Kleides wie Federn, die über ein raues Stück Holz streichen. Holland überreicht der mageren kleinen Krähe ihren Honorarscheck und komplimentiert sie zur Tür hinaus, dann greift er nach dem Brieföffner. Aufmerksam betrachtet er das Gesicht seines potentiellen Schützlings, sich darüber wundernd, wie frisch und unschuldig es wirkt. Klare grau-blaue Augen, gewinnendes Lächeln. Den funkelnden Ehrgeiz darin sieht man erst auf den zweiten Blick.


***


Lindsey nutzt das Frühstücksbuffet des Wohnheims so ausgiebig er nur kann. Toast, Eier und Speck kostenlos, in Mengen die einen über den halben Tag bringen. Die breitnasige Latina an der Ausgabe schmunzelt schon von weitem als sie ihn kommen sieht.
In seinem zweiten Jahr sind Gebäude und Säle längst entzaubert, die Mitstudenten keine rätselhaften Wesen aus fremden Universen mehr, sondern nur noch menschliche Körper, die sich zufällig über die gleichen Tische beugen. Er sucht ein Weilchen, bis er im Gewirr von Haarschöpfen und Rücken einen freien Platz findet. Als er das Tablett absetzt, schwappt Kaffee über den Rand der Tasse.
"Hey, aufpassen. Wir sind heute wohl nicht ganz bei der Sache, oder? Na, gib's zu, da läuft doch was mit dieser schnuckeligen Elfe von Erstsemesterin ?"
Er beantwortet Scott Rotherays Frage nicht, sondern schenkt ihm nur ein vielsagendes Grinsen. Scotty ist der Letzte den seine Abende etwas angehen. Nicht die Paukerei in der Bibliothek, nicht die Nachhilfestunden, die er Robin Horowitz, der "Elfe" gibt, um seinen Finanzetat aufzubessern. Wenn die Kleine sich dümmer stellt als sie ist, und gutes Geld zahlt, bloß um in seiner Nähe zu sein, ist das ihr Problem, nicht seines. Vermögend genug sind ihre Eltern ja. Eine propere jüdische Mittelschicht-Tochter, die von ihrer Familie mit Gewalt auf den sicheren Karrierepfad bugsiert wird, und nicht davon abweichen könnte, selbst wenn sie es wollte.
Lindseys eigene Aufenthaltsberechtigung für Hastings dagegen baumelt am Faden von Klausurnoten und den Beurteilungen seiner Professoren. Er lebt mit ständiger Beobachtung und Konkurrenzdruck, greift nach jedem Vorteil, den er nur in die Hände bekommt. In einer Welt der Mächtigen und Reichen taugt der Schwache höchstens zum Fußabtreter. Niemand weiß das besser als Lindsey. Es ist die große, bittere Lektion seines Lebens.
Während seiner ersten College-Wochen rechnete er damit, seine Kommilitonen würden ihn hassen. Für seinen Ehrgeiz, für seinen noch immer leise hörbaren Ghetto-Akzent, für die billigen Schuhe, die er trägt. Doch nichts. Man lässt ihn in Ruhe, respektiert seine Leistungen. Einige suchen sogar bewusst seine Nähe. Wenn er in einem seiner Kurse für oder gegen eine bestimmte These argumentiert, finden sich schnell andere Studenten, die sich ihm anschließen; er reißt mit und beeinflusst. Das Gefühl ist noch ein wenig ungewohnt, aber so köstlich und berauschend, dass er davon gar nicht genug bekommen kann.
Es ist nicht so, dass ihn der Brief, den Abends er in seiner Post findet, überrascht. Er hat fest daran geglaubt, dass eine solche Zusage eines Tages kommen würde, nur nicht direkt beim ersten Versuch, zu einem so furchtbar frühen Zeitpunkt. Dem ersten Freudenschrei folgt Staunen, Irritation. Die verwechseln ihn doch sicher mit irgendjemand, oder? Er liest den Text laut. Einmal, zweimal. Scharf und klar leuchten die Buchstaben auf weißem Papier. Noch einmal starrt Lindsey auf das Firmenlogo. Die Kanzlei, die ihm das private Stipendium in Aussicht stellt, ist eine der ältesten in ganz Los Angeles. Groß und außergewöhnlich einflussreich. Am nächsten Morgen tätigt er einen kurzen Anruf im Büro des verantwortlichen Juniorpartners. Zwei Tage später sitzt er im Flugzeug.



***


Wolfram&Hart verströmt solch perfekte Eleganz, dass er erwartet hatte, an der Türe zu Holland Manners Büro auf die Grace Kelley aller Vorzimmerdamen zu treffen, makellos schön und genauso herablassend. Stattdessen begrüßt ihn ein angewelktes Mauerblümchen, ihr ist anzusehen, dass sie die Karriereleiter über Jahre hinweg gemeinsam mit ihrem Chef erklommen hat.
"Mr. Lindsey McDonald, nehme ich an?" , fragt sie und er nickt zur Bestätigung.
"Es ist noch ein wenig früh, aber ich denke, Sie können ruhig hineingehen." Über den Rand ihrer Brille zwinkert sie ihm zu, dann aktiviert sie mit einem leichten Fingerschlag das Mikrophon der Gegensprechanlage und informiert Manners.
Lindsey spürt ein Prickeln auf der Haut als er den Raum betritt, seltsam, aber nicht unangenehm. Früher, als Kind hatte er geglaubt, Orte wie dieser existierten nur in Filmen. Was Mum wohl dazu sagen würde? Ihr Sohn, hier? Seine Augen wandern entlang der Wände. Glattpoliert und schimmernd, nur die Maserung verrät, dass es sich bei dem Verkleidungsmaterial um Holz handelt. Alles strömt hin zum Schreibtisch vor der überwältigenden Glasfront. Die Gestalt im Sessel, Manners, erscheint unscharf und dunkel im Schatten des Gegenlichts.
"Beindruckend, nicht? Ich habe das Büro gerade erst neu einrichten lassen. Willkommen bei Wolfram&Hart."
Er steht auf, streckt Lindsey zur Begrüßung die Hand entgegen. Die unwiederbringlichen Sekunden des ersten Eindrucks, in denen jeder Fehler, jedes noch so kleinste Missfallen entscheidet über Leben und Tod. Dieses Stipendium ist zu wichtig, ein zu gewaltiger Schritt nach vorne, in Richtung des Ziels für das er so hart gekämpft hat. Also gibt Lindsey sein Bestes, sich die Nervosität nicht anmerken zu lassen. Er hält den Kopf hoch, die Schultern gerade, darum bemüht, den prüfenden eisgrauen Augen Stand zu halten, bevor er schließlich einbricht und den Blick zu Boden senkt.
Sie tauschen einige Höflichkeiten, Manners hält eine kleine Einführung über die Hausphilosophie der Kanzlei. Weich und monoton, gespickt mit Andeutungen nicht existenter Vertraulichkeit. Sein Aussehen hat nichts Bemerkenswertes, Größe im oberen Durchschnitt, ein graues Dutzendgesicht aus der Menge. Dennoch lässt seine Ausstrahlung erschauern. Ihr Geheimnis liegt in den Kleinigkeiten. Schmale, energische Lippen, das Zucken seiner Mundwinkel, während er spricht. Minimale Bewegungen, präzise und kontrolliert, als ob ein einziges unbedachtes Kopfnicken ausreichte, ganze Wolkenkratzer zum Einsturz zu bringen. Und obwohl ihn in Manners Gegenwart fröstelt, bewundert Lindsey die Macht, die von dem Anwalt ausgeht und welche ihn wie eine schützende Glocke umgibt, so dass Nichts und Niemand ihm etwas anhaben kann.
"Nun, was denken Sie, warum die Wahl unserer Kanzlei ausgerechnet auf Sie gefallen ist?"
Die Frage reißt Lindsey aus seinen Gedanken, er weiß nicht, was er antworten soll. Sicher, seine Noten sind ausgezeichnet, doch es gibt Leute mit besseren. Überflieger, Söhne und Töchter aus reichem Hause mit dem Startvorteil einer exklusiven Privatschulbildung. Kurz denkt er zurück an seine eigene Highschool, jener vergitterter, Graffiti-überzogener Altbau mit defekten Wasserleitungen und dem Geruch von Messerstechereien und altem Schweiß.
"Wir glauben an Sie. An Ihren Verstand, Ihr herausragendes Talent, ihren Ehrgeiz. Wolfram&Hart trifft seine Entscheidungen niemals blind. Alle diese Dinge haben Sie bereits mehr als bewiesen. Es gehört außergewöhnliche Kraft dazu, sich aus so erschütternden Verhältnissen nach oben zu arbeiten."
Mitgefühl schwingt in Manners Worten, süßlich und falsch wie der Geschmack von Diet Coke. Er hat kein Recht dazu. Nicht die geringste Ahnung, wie es war, in jenem kakerlakenverseuchten, engen Rattenloch aufzuwachsen, in dem Lindsey es tat. Manchmal scheint ihm, dass er den Tiefpunkt der Familie McDonald nur überstanden hat, weil er bereits groß genug war, um sich mit den anderen um Butterbrote aus Abfallkörben zu prügeln.
"Die Frage ist nur, ob Ihr Wille ausreicht, den ganzen Weg zu gehen", fährt Manners fort, "bis hinauf an die Spitze. Wo liegt Ihre Grenze, der Punkt an dem jeder weitere Schritt zur Qual wird, die Last Ihrer moralischen Skrupel Sie erdrückt?"
Und plötzlich begreift er. Die einzelnen sorgfältig verborgenen Andeutungen setzten sich zusammen, zu einem noch unvollständigen, doch durchaus Sinn ergebenden Schattenbild. Wolfram&Harts eigenwillige Rekrutierungspraxis. Die Tatsache, dass ihre Wahl ausgerechnet auf ihn fiel. Aufgrund seiner Vergangenheit schien er ihnen vielleicht das entscheidende Quäntchen skrupelloser. Anfälliger für die Annehmlichkeiten von Reichtum und Macht.
"Bevor ich unterschreibe...darf ich erfahren, worauf ich mich einlasse?"
Manners hebt erstaunt die Brauen. "Sie sind ein cleverer junger Mann. Doch keine Sorge, nicht auf das, was Sie jetzt wahrscheinlich annehmen. Das wirkliche Leben ist kein Grisham Roman. Wolfram&Hart nicht die Mafia."
"Ach nein?" entgegnet er, überrascht vom ruhigen, rauen Klang der eigenen Stimme.
"Nein, Lindsey. Unser Geheimnis ist besser."



***



Manners führt ihn tief ins Innere des Gebäudes, zu einem weiten dämmrigen Raum, leer, bis auf zwei der allgegenwärtigen Wachmänner und eine mannshohe Kiste aus schimmerndem Stahl. Mehrere Sekunden liegt wattige Stille über ihnen. Die letzte Gnadenfrist, vor dem, was immer jetzt auch kommen mag. Nur zu deutlich verspürt Lindsey den schnellen, starken Schlag seines Herzens, als Holland ihm einen vergewissernden Blick zuwirft.
"Wie rührend, die Kleine schläft. Kein Wunder am helllichten Nachmittag. Aber ich denke, allmählich sollten wir sie aufwecken."
Wecken? Wen? Was? Der größere der Sicherheitsposten setzt sich in Bewegung, stapft in Richtung der Kiste. Er nimmt seinem Schlagstock vom Gürtel, holt aus zu einen kräftigen Hieb gegen das Metall. Zunächst widersteht Lindsey dem Instinkt, sich angesichts des drohenden Schalls die Hände über die Ohren zu legen, doch das schrille Kreischen, welches dem Scheppern folgt, dringt bis aufs Mark. Sein Klang ist weder menschlich noch tierisch, nur krank und wild und voller Zorn. Gebannt hält er den Atem, während die Wachen in einigen Metern Entfernung vor dem Käfig Position beziehen. In ihren Händen halten sie die bis zum Anschlag gespannten HighTech-Varianten einer mittelalterlichen Armbrust.
"Fertig?" fragt Manners, mehr an die beiden Männer als an Lindsey gerichtet. "Dann los!" In den Augen des Anwalts glimmt kaltes Lächeln.
Der Rest verwischt in Geschwindigkeit und Irrsinn. Eine Bestie. Ein Schuss. Eine Wolke pudrigen Staubs.



***



Entscheidend ist, dass man Neulinge in ihrem Schock niemals allein lässt. Sie beruhigt, alles erklärt. Manche Kollegen unternehmen zu diesem Zweck ausgedehnte Spaziergänge. Holland Manners favorisierte Methode besteht aus Kaffee und belegten Sandwiches. Vertraute Alltagsrituale, spontane Erfüllung normalster Grundbedürfnisse. Die Situation entspannt, gibt ihren Händen und Mündern etwas zu tun, überbrückt das hilflose Schweigen nach der Begegnung mit ihrem ersten Vampir.
Blass und ein wenig verstört, zunächst nur aus reiner Höflichkeit greift Lindsey McDonald nach dem angebotenen Schnittchen. Holland beobachtet die allmähliche Rückkehr der Farbe in seine Wangen aufmerksam. Sie erfolgt schneller als bei den meisten, was bedeutet, der Junge verfügt entweder über ein recht strapazierfähiges Nervenkostüm, oder er hat gelernt, die eigenen Gefühle gut zu verbergen.
In der Tat scheint er eine hervorragende Wahl. Körpersprache und Rede zwar ungeschliffen, aber ausdrucksstark. Bei allem Verstand greift er instinktiv zu den schlichten Worten. Diejenigen, die im Gedächtnis haften bleiben, direkt ans Herz gehen. Ein strahlender "Golden Boy" für Jury und Kameras, nicht für Hollands eigenes Spiel, die Mauschelei hinter verschlossenen Türen.
Forschend durchsucht er die Züge des talentierten Gossenkinds nach dem Mann, der er in wenigen Jahren einmal sein wird. Gereifter, stärker, vor allem in einem anständigen Anzug und mit gefestigten Umgangsformen. Gott, die Geschworenen werden ihm aus der Hand fressen.
"Sir, was geschieht jetzt?"
"Das liegt ganz in Ihrem Ermessen." Holland legt die Hände in den Schoß und senkt leicht den Kopf. Er liebt diese Geste, denn sie verleiht ihm die Aura priesterlicher Weisheit und Güte. "Lindsey, was wir Ihnen zu Füßen legen ist die Welt. Alles, was sich ein ehrgeiziger junger Mann nur wünschen kann. Doch glauben sie mir", seine Stimme senkt sich zu einem eindringlichen Flüstern, "sie hat einen Preis. Vergeuden Sie diese Chance nicht, und wägen Sie sorgfältig ab. Es ist Ihre einzige und letzte Möglichkeit zur Wahl."
Lindsey McDonalds Lippen beben, als ob er etwas antworten wolle, doch sein Blick gleitet nur stumm durch den Raum. Die grau-blauen Augen sind groß und schimmernd, nur zu deutlich spiegeln sie den Kampf, der in ihnen tobt.
Im letzten Moment zögern sie alle. Das ist nur natürlich, man verkauft seine Seele schließlich nicht wie ein altes Fernsehgerät. Holland hätte bloß nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet dieser hier sich den Handel so schwer macht. In seinen Ohren hallt das Kichern der Seherin.
Seine Fehler finden Sie heraus, wenn es soweit ist.