Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie "The Pretender" gehören nicht mir, sondern MTM, TNT, Fox und NBC Television. Ich habe sie mir nur ausgeliehen. Alle anderen Charaktere sind mein 'Eigentum'. Diese Story wurde nur zu meinem Vergnügen und dem anderer Fans geschrieben und veröffentlicht. Ich verfolge damit keinerlei finanzielle Interessen irgendeiner Art.

Spoiler: Auch der zweite Teil meiner Geschichte ist nur locker an die Ereignisse der dritten Staffel angelehnt. Trotzdem gibt es den ein oder anderen Spoiler...

Zur Story: Eine kleine "Was wäre wenn"-Geschichte. Miss Parker greift zu verzweifelten Maßnahmen, und dadurch nimmt nicht nur ihr Leben eine unerwartete Wendung... Als kleine Warnung: Dieser Teil ist ein *kleines bißchen* kitschiger geraten als Teil 1, außerdem gibt es eine Sterbeszene...

Kontakt: Missbit@web.de

Fragen, Anregungen, Kritik, Lob,... Immer her damit! Ich freue mich über jede Art von Reaktion - na ja, *fast* jede... ;o) Bitte laßt mich einfach wissen, wie Euch die Geschichte gefallen hat!

Und jetzt: Viel Spaß beim zweiten Teil!

 

 

Einsichten - Teil 2.1
Von MissBit




Miss Parkers Büro
Das Centre
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Morgen
9:23


Die Post lag ungeöffnet auf dem Schreibtisch, neben einem Stapel Akten, den Miss Parker genauso wenig beachtet hatte. Seit sie vor einer Stunde ihr Büro betreten hatte, waren ihre Gedanken meilenweit weg.

Miss Parker dachte über den letzten Abend nach. Ihr Gefühl hatte sie davor gewarnt, Jarod jetzt schon zu treffen. Dann noch die Sache mit ihrem Auto, das ohne Vorwarnung liegengeblieben war - ein abergläubischer Mensch hätte das für ein Zeichen halten können. Aber Miss Parker war nicht abergläubisch. Sie war froh, daß sie dem Treffen zugestimmt hatte, auch wenn es ihre Gefühlswelt durcheinander gebracht hatte. Vielleicht war das genau das, was sie brauchte.

Ihr Blick schweifte zum Fenster, durch das schon den ganzen Morgen die Sonne ins Zimmer schien. Alles sah danach aus, als ob heute ein schöner Tag werden würde. Mit ein wenig Glück konnte sie es sogar schaffen, aus dem Centre zu entwischen, bevor ihn jemand verdarb.

Ein Klopfen unterbrach ihre optimistische Zukunftsvision. Ihr Sekretär öffnete die Tür und betrat ihr Büro.

"Was gibt's?" erkundigte sich Miss Parker.

"Die Werkstatt hat angerufen, Miss Parker. Ihr Wagen wird morgen früh fertig sein. Offenbar hatte er einen leichten Motorschaden."

Miss Parker nickte zufrieden. Die Aussicht, ihr eigenes Auto wiederzubekommen, verbesserte ihre Laune noch weiter.

"Sonst noch etwas?"

"Ähm, ja. Draußen ist jemand, der Sie sprechen möchte."

Sie hob fragend die Brauen.

"Wer ist es?"

Wortlos reichte ihr Sekretär ihr eine Visitenkarte. Miss Parker warf einen kurzen Blick auf die japanischen Schriftzeichen, dann lächelte sie.

"Er soll reinkommen."

"Sofort, Miss Parker."

Er verließ den Raum, und Miss Parker stand auf, um ihren Besucher zu begrüßen. Tommy Tanaka kam herein, selbstbewußt wie immer und mit dem selben charmanten Lächeln, das sie damals im College so sehr beeindruckt hatte.

"Hallo, Tommy."

"Parker! Schön, dich wiederzusehen."

Tanaka zog sie kurz in seine Arme und küßte sie auf die Wange, dann grinste er breit.

"Jedesmal, wenn wir uns sehen, siehst du besser aus, Parker", sagte er dann, nachdem er sie eingehend betrachtet hatte. Sie lächelte wissend.

"Was willst du, Tommy?"

Er lachte und hob in einer abwehrenden Geste die Arme.

"Ich habe das völlig ernst gemeint. Außerdem bin ich hier, weil du etwas von mir wolltest, erinnerst du dich?"

"Deswegen bist du extra hergekommen?"

"Ja", bestätigte er. "Außerdem glaube ich, daß wir auch noch ein paar andere Dinge besprechen sollten."

Miss Parker nickte.

"Gerne, aber nicht hier. Hast du schon gefrühstückt?"

"Nein, ich bin direkt vom Flughafen hergefahren. Und du weißt ja, daß ich in Flugzeugen grundsätzlich nicht esse."

Tommy schnitt eine Grimasse, und Miss Parker lachte leise. Sie freute sich darüber, ihn wiederzusehen.

"Dann komm. Ich kenne ein gutes Café in der Nähe."

"Großartig. Laß uns gehen", sagte er, legte ihr einen Arm um die Schultern und verließ mit ihr das Büro. "Wie geht's eigentlich deinem Bruder?"

"Viel zu gut, wenn du mich fragst. Wir sollten ihm später einen kleinen Besuch abstatten. Ich bin sicher, er wird sich freuen, dich wiederzusehen", meinte Miss Parker mit einem Grinsen, das nichts Gutes für Lyle verhieß. Tanakas Lachen hallte durch den Flur.

"Gott, du hast mir wirklich gefehlt, Parker."



Suzanne's Café
Blue Cove, Delaware
10:08


Das Café war etwa zur Hälfte besetzt, und das gute Wetter würde sicher bald noch mehr Gäste anlocken. Miss Parker und Tanaka hatten einen der begehrten Plätze an einem der großen Fenster ergattert. Während Tommy mit großem Appetit frühstückte, genoß Miss Parker die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht und erzählte Tommy einiges von dem, was seit seinem letzten Besuch in Blue Cove passiert war. Er hörte ihr interessiert zu, und nachdem er mit dem Essen fertig war, griff er in eine Tasche seiner Jacke und zog einen großen, wattierten Umschlag hervor. Vorsichtig legte er ihn auf den Tisch.

"Ist es das, was ich vermute?" erkundigte sich Miss Parker, machte aber keine Anstalten, nach dem Umschlag zu greifen. Tommy nickte.

"Ja, unter anderem."

Als sie ihn fragend ansah, lehnte er sich ein wenig zurück und lächelte leicht.

"Weißt du, seit dem Desaster letztes Jahr ist mein Vater nicht mehr besonders gut auf das Centre zu sprechen. Eigentlich hat er Raines und seinen Kumpanen nie getraut. Er hält sie alle für ehrlos. Aber - er mag dich."

Miss Parker sah ihn überrascht an.

"Wie bitte?"

Tommys Lächeln verbreiterte sich etwas.

"Ich habe ihm viel von dir erzählt. Außerdem hält er viel von Eigeninitiative. Womit wir bei dem kleinen Gefallen hier wären." Er schob den Umschlag in ihre Richtung. "Sergej hat mich angerufen, Parker."

"Mhm, damit habe ich fast gerechnet", erwiderte sie ruhig. "Ihr wißt also Bescheid." Sie beugte sich zu ihm vor. "Ich werde mich nicht aufhalten lassen", stellte sie klar.

Tanaka schüttelte den Kopf.

"Niemand will dich aufhalten. Wie ich schon sagte, mein Vater mag dich. Er unterstützt dein... Vorhaben. In den letzten Jahren hat sich das Centre auf dem internationalen Parkett viele Feinde gemacht. Von außen war es nie möglich, wirklich Schaden anzurichten, aber von innen sieht die Sache ganz anders aus."

"Es gibt einige Parteien, die durchaus daran interessiert sind, daß das Centre weiterbesteht. Wenn die falschen Leute zu früh davon erfahren..."

"Sergej arbeitet hauptsächlich auf eigene Rechnung, deshalb hast du von dieser Seite keinen Widerstand zu erwarten. Sonst weiß nur noch meine Familie Bescheid. Nach Sergejs Anruf war mir klar, wofür du das hier brauchst. Ich mußte meinen Vater informieren. Du verstehst das hoffentlich. Ohne seine Zustimmung konnte ich dir nicht helfen."

"Das Risiko mußte ich eingehen. Aber ich war mir fast sicher, daß dein Vater so reagieren würde - niemand versucht ungestraft, die Tanaka-Familie reinzulegen."

"Mein Vater läßt dir ausrichten, daß er dir viel Glück wünscht. Wenn alles beendet ist, würde er dich gerne persönlich kennenlernen."

"Das sollte sich einrichten lassen", erwiderte Miss Parker lächelnd. "Eins sollte aber klar sein: Durch die Schließung des Centres gibt es für euch keine Vorteile. Alle Daten über die Projekte des Centres werden vernichtet. Allerdings werde ich dafür sorgen, daß ihr euer Geld zurückerhaltet."

Tommy seufzte.

"Das ist zwar schade, aber akzeptabel. Hier drin", er deutete auf den Umschlag, "ist alles, was du brauchst, auch das, worum du Sergej gebeten hast. Damit dürfte das Geschäftliche geklärt sein."

"Vielen Dank für deine Hilfe, Tommy. Das gilt natürlich auch für deinen Vater. Ich werde das kaum wiedergutmachen können."

Die Miene ihres Gegenübers erhellte sich.

"Oh, sag das nicht. Du könntest zum Beispiel heute abend mit mir ausgehen", schlug er vor.

"Abgemacht."



Das Centre
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Morgen
8:43


Miss Parker wanderte zielstrebig durch die langen Korridore des Centres. Sie war auf dem Weg zum Technikraum, um mit Broots zu sprechen. Seine Bedenkzeit war lang genug gewesen.

In Gedanken war sie noch beim letzten Abend, den sie sehr genossen hatte. Es hatte ihr gut getan, Tommy wiederzusehen und über die alten Zeiten zu reden. Allerdings war der Abend wohl nicht ganz so verlaufen, wie Tommy sich das gewünscht hatte. Auf dem College hatte sie nicht nur eine Freundschaft verbunden, sondern auch eine starke, gegenseitige Anziehungskraft. Sie wußte, daß sie immer auf Tommys Freundschaft zählen konnte, aber anders als er legte sie keinen Wert darauf, auch andere Aspekte ihrer Beziehung wiederaufleben zu lassen.

Tommy hatte das respektiert, was ihn aber nicht daran gehindert hatte, sie zu fragen, ob es einen besonderen Grund dafür gab. Sie hatte seine Vermutungen weder bestätigt noch abgestritten, und schließlich hatte er es aufgegeben. Später am Abend, als sie sich voneinander verabschiedet hatten, hatte er ihr viel Glück gewünscht und ihr gesagt, sie solle gut auf sich aufpassen. Diesen Rat würde sie nur zu gern beherzigen.

"Miss Parker."

Die Stimme unterbrach ihre Überlegungen abrupt. Miss Parker blieb stehen, schloß für einen kurzen Moment die Augen und drehte sich dann um.

"Brigitte."

Früher oder später hatte es zu dieser Begegnung kommen müssen. Brigitte hielt eine Akte in den Händen, und Miss Parker wußte sofort, was die ehemalige Cleanerin von ihr wollte. Brigitte kam mit langen Schritten auf sie zu, ein wütendes Funkeln in den Augen.

"Was zum Teufel soll das?" zischte sie, als sie dicht vor Miss Parker stehenblieb.

"Muß ich das wirklich erklären?"

"Für so geschmacklose Scherze habe ich nichts übrig, und Ihr Vater mit Sicherheit auch nicht!"

Miss Parker sah der anderen Frau in die Augen.

"Das ist kein Scherz", erklärte sie verärgert. "Und für meine Mutter war es das ganz bestimmt auch nicht. Daddy kennt diese Akte bereits, Sie brauchen sich also gar nicht erst die Mühe zu machen, sie ihm zu zeigen. Ich rate Ihnen sogar davon ab. Es würde ihn nur wütend machen."

"Was soll das, Miss Parker?" fragte Brigitte noch einmal.

"Betrachten Sie es als... eine Warnung. Sie haben ja keine Ahnung, worauf Sie sich einlassen. Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, aber Sie sollten wissen, daß mein Vater ausgesprochen jähzornig sein kann."

Brigittes Lippen verzogen sich zu einem spöttischen, herablassenden Lächeln.

"Ich fürchte, Sie haben es immer noch nicht verstanden, meine liebe Miss Parker. Ihr Vater und ich, wir lieben uns. Was auch immer Ihre Mutter getan - und wer auch immer ihr das angetan hat - ich bin sicher, daß sie es verdient hatte."

Ihre letzten Worte lösten heißen Zorn in Miss Parker aus. Alles in ihr schrie danach, ihre Widersacherin zu packen und ihre aufgeblasene Selbstgefälligkeit aus ihr heraus zu prügeln. Ein kleiner, rationaler Funken hielt sie zurück.

"Niemand, nicht einmal Sie, hat so etwas verdient", brachte sie hervor. "Das hier ist das Centre. Wenn Sie am Boden liegen, wird Ihnen niemand helfen, ganz im Gegenteil. Reden Sie nie wieder so über meine Mutter, oder ich werde Ihnen zeigen, wie tief man hier fallen kann."

Ihr Blick bohrte sich in Brigittes, und für einen kurzen Moment flackerte so etwas wie Furcht in Brigittes Augen auf. Dann nahm der Spott wieder seinen Platz ein.

"Sie sollten besser aufpassen, wem Sie hier drohen, Schätzchen. An Ihrer Stelle würde ich Daddy lieber nicht vor die Wahl stellen", meinte Brigitte, zwinkerte einmal und ließ die Akte vor Miss Parker auf den Boden fallen. Dann drehte sie sich um und ging zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Miss Parker wartete, bis sie außer Sicht war, die Hände zu Fäusten geballt. Schließlich zwang sie sich, sich zu entspannen und hob die Akte auf. Wenigstens hatte sie es versucht. Wenn Brigitte unbedingt in ihr Verderben rennen wollte - sie würde ihr dabei nicht im Weg stehen. Aber wenn alles nach Plan lief, spielte das alles ohnehin bald keine Rolle mehr.

Noch immer wütend setzte Miss Parker ihren Weg fort. Als sie den Technikraum erreichte, war der größte Teil ihrer Wut verflogen, aber die Erinnerung an den Schmerz ihrer Mutter verletzte sie noch immer. Brigitte hatte sie an ihrem wunden Punkt getroffen.

Nur mühsam gelang es ihr, ihre Aufmerksamkeit von ihrer Unterhaltung mit Brigitte abzuwenden und sich stattdessen auf Broots zu konzentrieren.

"Hallo, Miss Parker", sagte der Techniker, als er sie hereinkommen hörte. Erfreut stellte Miss Parker fest, daß er nicht ganz so eingeschüchtert wie sonst wirkte. Er musterte sie, und in seinem Blick lag fast so etwas wie... Besorgnis? "Ist alles in Ordnung mit Ihnen?"

"Ja, Broots, mir geht's gut. Ich hatte nur gerade eine kleine Unterhaltung mit Brigitte, auf die ich gerne verzichtet hätte." Broots nickte verständnisvoll. "Haben Sie über das nachgedacht, was ich bei unserem letzten Treffen gesagt habe?" fuhr Miss Parker fort.

In Broots Miene zeigte sich eine Mischung aus Unbehagen und Entschlossenheit.

"Ja, das habe ich." Er zögerte kurz. "Sie haben gesagt, daß Sie Debbie schützen können?"

Miss Parker ging zu einem Stuhl in seiner Nähe und setzte sich.

"Ja", bestätigte sie dann. "Ich will jetzt nicht näher darauf eingehen", meinte sie mit einem schnellen Blick zu einer der Überwachungskameras, "aber ich werde alles in meiner Macht Stehende tun."

"Dann bin ich dabei", sagte Broots fest, und Miss Parker lächelte sanft. Sie beugte sich vor und legte ihm eine Hand auf den Arm.

"Ich kann nicht versprechen, daß ich auch Sie beschützen kann. Es wird sehr gefährlich werden, und vielleicht kann ich nicht verhindern, daß etwas schiefgeht."

Broots schluckte, wich aber nicht von seinem Entschluß ab.

"Ich weiß. Was... Was soll ich tun?"

Miss Parker zog einen Zettel aus ihrer Tasche und gab ihn Broots, während sie aufstand.

"In einer halben Stunde", war alles, was sie sagte, bevor sie den Raum verließ.



Hydroponischer Garten
Das Centre
Blue Cove, Delaware
9:20


Als Miss Parker den Garten erreichte, wartete Broots schon ungeduldig auf sie. Erleichtert sprang er auf.

"Gott sei Dank, da sind Sie ja."

Sie lächelte.

"Natürlich. Schließlich waren wir ja hier verabredet."

"Miss Parker, ich habe über das nachgedacht, was Sie letztes Mal gesagt haben. Ich glaube nicht, daß wir das Centre einfach so schließen können. Wenn das möglich wäre, hätte Jarod es bestimmt schon versucht."

Er schien mit einer wütenden Reaktion zu rechnen, als er Jarod erwähnte, aber Miss Parker neigte nur den Kopf zur Seite.

"Vielleicht hatte Jarod nur nicht die richtigen Werkzeuge. Aber ich glaube, daß er bisher einfach nicht wollte, daß das Centre aufhört zu existieren. Er braucht das Centre - zumindest glaubt er das. Mir ist natürlich klar, daß wir das Centre nicht von heute auf morgen schließen können. Aber wir können ihm mit Sicherheit eine tödliche Wunde zufügen."

Broots sah sie skeptisch an.

"Hier habe ich etwas Unterstützung für Sie, Broots. In England habe ich viel über das Centre nachgedacht, und ich denke, ich habe einen Weg gefunden, es zumindest lahmzulegen", fuhr Miss Parker fort und reichte Broots den Umschlag, den sie von Tommy bekommen hatte. "Da drin sind zwei Computerprogramme, die mir von Freunden zur Verfügung gestellt worden sind. Eines von ihnen wird Sie bei Ihrer Arbeit unterstützen, bei dem anderen handelt es sich um ein Virus, das unsere Aktivitäten verschleiern wird."

Mit einem weiteren skeptischen Blick öffnete Broots den Umschlag und zog eine silbrig glänzende CD-ROM hervor. Langsam wurde seine Skepsis von Interesse verdrängt. Eine Weile starrte er nachdenklich ins Leere, vergaß alles um sich herum. Miss Parker wartete geduldig. Schließlich hob Broots den Kopf und sah sie an.

"Es könnte vielleicht klappen. Das ist ein großes Vielleicht, aber es könnte klappen. Sie haben mir aber noch nicht gesagt, was genau ich tun soll, Miss Parker", erinnerte er sie.

"Daran soll's bestimmt nicht scheitern", meinte sie mit einem erleichterten Lachen. "Das Wichtigste ist, daß Sie Beweise sammeln. Zerren Sie alles ans Licht, und sorgen Sie dafür, daß wir den Behörden schlagende Beweise liefern können. Je schneller Sie das schaffen, desto besser. Das Virus wird hier einige Aufregung verursachen, so daß Sie genug Zeit haben sollten. Es wurde speziell für solche Zwecke entwickelt. Die Experten werden eine Weile brauchen, bis sie es unter Kontrolle haben - besonders, da Sie zu den Experten gehören."

"Und wenn Sie von genug Zeit sprechen, meinen Sie..."

"Schwer zu sagen. Wir dürfen nicht zu schnell vorgehen, uns aber auch nicht zuviel Zeit lassen. Das Virus können wir erst in der letzten Phase einsetzen... Zwei Monate, schätze ich."

"Miss Parker, das schaffe ich nie allein! Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie viele Informationen in den Archiven des Centres gespeichert sind?"

"Ganz ruhig, Broots. Niemand hat gesagt, daß Sie allein arbeiten sollen. Syd und ich werden Ihre Aktionen decken, und was den Rest betrifft... Angelo kann Ihnen helfen. Er kennt sich hervorragend mit den Systemen des Centres aus."

Broots ließ sich auf einen großen Stein sinken.

"Und was passiert, wenn wir es nicht schaffen?" fragte er leise.

"Das muß ich Ihnen doch nicht wirklich erklären, oder?" In Miss Parkers Tonfall schwang eine unausgesprochene Entschuldigung mit.

"Nein. Nur ein Versuch, alles oder nichts."

"Sie können es sich jetzt noch anders überlegen", bot sie an, aber Broots schüttelte den Kopf.

"Ich bin dabei. Ohne mich würden Sie das doch gar nicht schaffen."

Sie versetzte ihm einen leichten Schlag auf die Schulter.

"Das ist der richtige Geist. Wir sollten noch heute anfangen. Vorher müssen wir nur noch ein paar Kleinigkeiten klären. Sie haben doch dieses Suchprogramm entwickelt, richtig?" Als er überrascht nickte, fuhr sie fort. "Gut, benutzen Sie es, um uns aus allem rauszuhalten. Löschen Sie Syds, Angelos, Ihren und meinen Namen aus allen Akten. Nichts darf uns mehr mit dem Centre in Verbindung bringen. Können Sie das schaffen?"

"Ja. Ja, ich denke schon. Wenn ich eine automatische Routine programmiere, die..."

"Schon gut, keine Einzelheiten. Fangen Sie einfach an. Wir werden Kontakt halten, aber unauffällig. Wenn irgend etwas ist, können Sie mich anrufen. Jederzeit."

Broots Gedanken waren bereits mit der Lösung des komplizierten Problems beschäftigt, deshalb nickte er nur geistesabwesend. Miss Parker musterte ihn aufmerksam, bis er sie ansah, dann lächelte sie leicht.

"Ich verlasse mich auf Sie, Broots", betonte sie freundlich. "Während Sie mit unserem Projekt beschäftigt sind, werde ich mich noch um ein paar Kleinigkeiten kümmern. Das Centre hat einige Schulden zu begleichen. Wir sehen uns heute abend im Technikraum, wenn ich mit Angelo gesprochen habe."



Angelos Raum
Das Centre
Blue Cove, Delaware
15:21


"Angelo? Bist du da?"

Miss Parker betrat Angelos Raum und sah sich suchend um. Seit Jarod ihr gesagt hatte, daß sie einen Zwillingsbruder hatte, hatte sie viel Zeit mit Angelo verbracht. Die Ergebnisse des DNA-Tests ließen zwar keinen Zweifel daran, daß Lyle ihr Bruder war, aber ihr Herz sagte etwas anderes.

Angelo hob den Kopf, als sie hereinkam.

"Miss Parker!"

"Hallo, Angelo", sagte sie sanft und ging zu ihm. Sie überließ ihm die Entscheidung, ob er sie berühren wollte oder nicht, denn damit war er ihren Gefühlen ausgesetzt. Er hockte auf dem Boden, in einem Durcheinander aus Büchern, Akten und losen Papieren. Miss Parker kniete sich vorsichtig neben ihn.

"Miss Parker war lange fort", sagte Angelo und sah sie an.

"Ich war in England", erklärte sie. Angelo berührte kurz ihre Hand.

"Antworten", sagte er dann. "Wahrheit."

Einem Impuls folgend schloß sie ihn in ihre Arme, um ihn kurz darauf wieder loszulassen. "Es ist wirklich schön, dich wiederzusehen."

Er lächelte sein scheu wirkendes Lächeln, doch dann runzelte er plötzlich die Stirn.

"Angelo kann helfen", verkündete er ernst. Sie sah ihn überrascht an, dann lachte sie leise.

"Deshalb mag ich dich so sehr", vertraute sie ihm an. "Bei dir muß ich mich nie mit langen Erklärungen aufhalten. Du verstehst mich." Nach einem kurzen Zögern fuhr sie fort. "Willst du uns denn helfen?"

"Angelo hilft."

"Das ist wirklich nett von dir", erwiderte Miss Parker in ihrem sanftesten Tonfall. Liebevoll strich sie ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht, dann erhob sie sich langsam. Auch Angelo stand auf. Er sah aus, als wollte er noch etwas sagen. "Weißt du was? Ich bleibe noch ein bißchen bei dir, in Ordnung?", schlug Miss Parker vor. In Angelos Nähe fühlte sie sich wohl, und es gelang ihr fast zu vergessen, daß sie im Centre war. Genauso, wie es früher mit Jarod war, fuhr es ihr durch den Kopf.

"Jarod ist gut für Miss Parker."

Angelos Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. Verblüfft sah sie ihn an. In seinem Blick lag etwas Schuldbewußtes, und er zog seine Hand von ihr zurück.

"Nein, ist schon gut", beruhigte sie ihn sofort, während sie über seine Äußerung nachdachte. Wahrscheinlich hatte er sogar recht. Wenn sie Jarod an sich heranließ, konnte das nur gut für sie sein. "Aber bin ich auch gut für ihn?" überlegte sie laut.

"Liebe ist gut", erklärte Angelo mit Nachdruck, und sah sie mit schiefgelegtem Kopf an. Miss Parker lehnte sich an einen nahen Tisch. Liebe. War es das, was sie für Jarod empfand? Bisher hatte sie darüber nur zögernd nachgedacht. Aber wenn Angelo es sagte, mußte etwas dran sein. Er hatte ihre Gefühle für Jarod beschrieben. Sie seufzte.

"Er fehlt dir bestimmt, hm?"

"Jarod ist nicht mehr hier", antwortete Angelo betrübt. "Aber Angelo denkt an ihn."

Nachdenklich nickte Miss Parker. "Mir fehlt er auch", gab sie zu. Aus reiner Gewohnheit warf sie einen Blick zu der kleinen Kamera, die unauffällig unter der Decke hing. Sie wußte, daß Angelo sich nicht gerne überwachen ließ und deshalb die Kameras in seinem Reich ausgeschaltet hatte. Raines ließ ihm diesen kleinen Bereich, da er bestimmt nicht erwartete, ausgerechnet von Angelo hintergangen zu werden. Vielleicht sollte sie trotzdem vorsichtig sein mit dem, was sie hier unten sagte. Vorsicht machte sich im Centre immer bezahlt.

Miss Parker warf einen Blick auf ihre Uhr. Langsam sollte sie in ihr Büro zurückkehren, sonst kam noch jemand auf die Idee, sie zu suchen.

"Tut mir leid, Angelo, ich muß jetzt gehen. Aber heute abend komme ich noch mal vorbei."

"Angelo wartet."

Sie fuhr ihm noch einmal durchs Haar, dann kehrte sie zurück in die rauhe Wirklichkeit des Centres.



Ein Motel irgendwo in Delaware
15:47


Unschlüssig starrte Jarod an die Decke. Seit fast einer Stunde lag er schon auf dem Bett und dachte nach. Seine Gedanken kreisten um Miss Parker und um den Brief, den er von seinem Vater erhalten hatte. In dem Brief hatte ihn sein Vater gebeten, Miss Parker nicht zu drängen, aber das fiel ihm zunehmend schwerer. Er wollte sie wiedersehen, und er wollte die Situation zwischen ihnen endlich klären.

Über seine eigenen Gefühle war er sich mittlerweile klar geworden, aber er hatte keine Ahnung, ob Miss Parker sie erwiderte. Die Ungewißheit nagte an ihm, und schließlich rang er sich zu einem Entschluß durch. Jarod griff nach dem Handy, das auf dem Nachttisch lag und wählte ihre Nummer.

"Ja?" ertönte ihre Stimme schon nach dem zweiten Klingeln. Sie klang ein wenig atemlos.

"Hallo, Miss Parker. Ich hoffe, ich habe dich nicht bei irgend etwas unterbrochen."

"Jarod! Wir haben gerade über dich gesprochen."

"Wir?"

Er hörte, wie sie leise lachte.

"Angelo und ich. Ich war eben bei ihm. Du fehlst ihm."

"Er fehlt mir auch", antwortete Jarod leise. Das galt nicht nur für Angelo. "Können wir uns heute abend sehen?" fragte er unvermittelt und wartete gespannt auf ihre Antwort.

"Möchtest du über deinen Vater sprechen?" erkundigte sie sich ruhig. Jetzt oder nie, dachte Jarod.

"Ich möchte mit dir über uns reden. Und ich würde dich gerne sehen." Am anderen Ende der Leitung holte Miss Parker überrascht Luft.

"Heute abend wird es spät werden", erwiderte sie dann ausweichend. "Aber ich würde dich wirklich gerne sehen. Wir haben einiges zu bereden. Wieso kommst du nicht gegen zehn heute abend bei mir vorbei?"

Jarod schloß für einen Moment erleichtert die Augen. Sie wollte ihn also auch sehen.

"In Ordnung", stimmte er zu.

"Großartig. Dann bis heute abend, Jarod."

"Ja, bis heute abend."

Sie legten beide auf. Als Jarod das Telefon zurück auf den Nachttisch legte, fiel sein Blick auf die Akte, die Sydney ihm gegeben hatte. Er griff danach und zog eins der beiden Fotos hervor, die darin lagen. Es zeigte zwei Kinder, glückliche Kinder - Miss Parker und ihn selbst. Lange starrte er auf die Fotografie und versuchte, sich an diese Zeit zu erinnern. Nur zu gerne hätte er sich an diese Treffen mit seinem Vater erinnert, von denen er jetzt erst wieder wußte, daß sie überhaupt stattgefunden hatten, aber es gelang ihm nicht. Doch er erinnerte sich an das kleine Mädchen auf dem Foto. Die Gefühle, die er für sie hatte, waren mehr als eine bloße Erinnerung, und sie galten nicht der Vergangenheit. Sie galten der Frau, die er heute abend treffen würde - um ihr zu sagen, was er für sie empfand.



Technikraum
Das Centre
Blue Cove, Delaware
20:04


Die Korridore des Centres leerten sich langsam, so daß Angelo und Miss Parker niemandem begegneten, als sie gemeinsam zum Technikraum gingen. Abends hielt sich Miss Parker noch weniger gern im Centre auf als gewöhnlich. Irgendwie hatte sie das Gefühl, daß einige Angestellte des Centres die Nachtstunden nutzten, um noch abwegigere Experimente durchzuführen als das tagsüber der Fall war. Aber Angelos Nähe beruhigte sie und lenkte ihre Aufmerksamkeit in eine angenehmere Richtung.

Sie erreichten den Technikraum, ohne irgendwem zu begegnen. Miss Parker war durchaus dankbar dafür, denn andernfalls hätte sie vielleicht erklären müssen, warum sie mit Angelo unterwegs war. Im Technikraum hielt sich niemand außer Broots auf. Der Techniker arbeitete konzentriert am Computer und fuhr erschrocken herum, als Angelo ihn an der Schulter berührte. Als Reaktion darauf schrak auch Angelo zusammen.

"Oh, Angelo, du bist es", rief Broots erleichtert und war sichtlich bemüht, Angelo wieder zu beruhigen. Glücklicherweise galt Angelos Aufmerksamkeit schon bald dem Computer.

"Angelo hilft", erklärte er und setzte sich auf einen Stuhl neben Broots.

"Ähm, haben Sie ihm erklärt, worum es geht, Miss Parker?" erkundigte sich Broots. Sie kam auf ihn zu und stellte sich hinter ihn und Angelo.

"Er weiß Bescheid. Wenn Sie Hilfe brauchen, fragen Sie ihn einfach", erwiderte sie. "Sie können völlig frei sprechen. Angelo hat sich um die Überwachungssysteme in diesem Raum gekümmert."

"Oh, gut." Unschlüssig sah er erst auf den Bildschirm und dann wieder zu Miss Parker. Sie hob fragend die Brauen. "Wegen Debbie...", begann er.

"Machen Sie sich keine Sorgen. Sie steht unter dem Schutz des FBI."

Broots riß die Augen auf. "FBI?"

Miss Parker lächelte. "Ein paar Freunde von mir schulden mir noch den einen oder anderen Gefallen. Wenn Sie glauben, daß es für Debbie hier zu gefährlich wird, kann ich sie jederzeit an einen sicheren Ort bringen lassen. Ihr wird nichts passieren. Das würde ich nie zulassen."

"Okay. Aber ich werde mir trotzdem Sorgen machen", erklärte Broots mit einem Schulterzucken. Miss Parkers Lächeln vertiefte sich.

"Und das ist auch der Grund, warum Sie ein so guter Vater sind", sagte sie warm. "Ich fahre jetzt nach Hause. Falls nichts dazwischenkommt, sehen wir uns morgen früh. Gute Nacht, Broots. Gute Nacht, Angelo."

"Ähm, gute Nacht, Miss Parker", wünschte ihr Broots, mit derselben Mischung aus Verwirrung und Verlegenheit, die ihn immer dann erfüllte, wenn sie ihn mit einer freundlichen Bemerkung überraschte. Angelo warf ihr nur einen kurzen Blick zu, widmete seine Aufmerksamkeit dann wieder dem Bildschirm. Sie berührte in kurz an der Schulter und machte sich dann auf den Weg nach Hause.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
21:52


Das Licht des Halbmondes spiegelte sich im ruhigen Wasser des Meeres. Miss Parker saß auf ihrer Veranda und genoß die Ruhe, die sie zum ersten Mal seit Tagen umgab. Nach ihrem Gespräch mit Sydney fühlte sie sich etwas besser, auch wenn sie ihm noch immer nicht alles erzählt hatte.

Sie war froh darüber, daß die Dinge im Centre endlich ins Rollen geraten waren. Broots hatte sein anfängliches Zögern überwunden und verbrachte jetzt seine gesamte Zeit mit den beiden Programmen, die er von ihr erhalten hatte. Wenn alles gut ging, und bisher sah alles danach aus, dann würde in knapp zwei Monaten alles vorbei sein.

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie aufstand, um ins Haus zurückzugehen. Es war beinahe Zeit.

Gerade als sie die Verandatür hinter sich verschloß, klingelte es an der Haustür. Ihr Herz schlug schneller, und sie schüttelte den Kopf. Sie benahm sich wie ein verliebter Teenager. Allerdings war es ein schönes Gefühl, und warum sollte sie es nicht einfach genießen?

Mit ein paar Schritten war sie an der Tür und öffnete sie.

"Hallo, Jarod", begrüßte sie ihren Besucher.

"Guten Abend, Miss Parker", erwiderte er leise und lächelte warm. "Darf ich hereinkommen?"

"Nur zu."

Er ging an ihr vorbei ins Wohnzimmer, und sie schloß die Haustür, bevor sie ihm folgte. Während sie an seinen letzten Besuch bei ihr dachte, schlich sich völlig unbemerkt ein Lächeln auf ihre Lippen.

"Das gefällt mir", sagte Jarod mit dunkler Stimme. Als sie ihn fragend ansah, fuhr er erklärend fort. "Dein Lächeln."

Sein Kompliment erfüllte sie mit Wärme und mit einem anderen Gefühl, das sie in den letzten Jahren immer unterdrückt hatte. Doch jetzt begrüßte sie es.

"Ich bin froh, daß du hier bist, Jarod."

"Das bin ich auch."

Jarods intensiver Blick schien sie zu durchbohren, aber sie empfand dieses Gefühl nicht als unangenehm.

"Ich hatte gehofft, daß wir unsere Unterhaltung vom letzten Mal fortführen könnten", erklärte er dann. Miss Parker erwiderte den Blick seiner dunklen Augen und fragte sich, wie ernst er es wohl meinte. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob sie ihn wissen lassen sollte, wie ernst es ihr war.

Sie trat ein paar Schritte auf ihn zu.

"Ich...", begann sie, aber Jarod legte ihr einen Finger auf die Lippen. Unwillkürlich verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln, dann küßte sie ganz leicht seine Fingerspitze. Er hatte ihr gerade eine Chance gegeben, die Ereignisse der letzten Woche herunterzuspielen, aber das wollte sie gar nicht. Jarod sollte wissen, woran er war.

Entschlossen nahm sie seine Hand in ihre.

"Bitte hör mir zu, Jarod. Ich habe dich letzte Woche geküßt, weil ich mir über meine Gefühle klar werden wollte."

"Und... ist dir das gelungen?" fragte er sanft.

"Ja. Nach den Gesprächen mit deinem Vater habe ich viel über dich... über uns nachgedacht. Du hast mir gefehlt."

Ihre Stimme war weich geworden und sie drohte, sich in Jarods dunklen, verständnisvollen Augen zu verlieren. Er hob ihre Hand an seine Lippen.

"Ich habe auch oft über uns nachgedacht."


Als er ihre Finger küßte, schloß sie kurz die Augen, gab sich ganz seinen Zärtlichkeiten hin. Schließlich öffnete sie die Augen wieder und begegnete seinem forschenden Blick.

"Bleib heute nacht bei mir, Jarod", wisperte sie. Er zog sie näher an sich.

"Ich warte schon so lange darauf, daß du mich danach fragst", antwortete er mit rauher Stimme, dann neigte er den Kopf nach unten und küßte sie.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Morgen
06:23


Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch das große Schlafzimmerfenster und kündigten einen schönen Tag an. Miss Parker lag auf der Seite, den Kopf auf einen Arm gestützt, und betrachtete Jarod, der noch immer fest schlief.

Dieser Morgen war etwas Besonderes für sie. Er stellte den Beginn eines neuen Lebensabschnitts dar, eines Lebens ohne das Centre. Und so, wie es aussah, würde Jarod ein Teil dieses Lebens - ihres Lebens - sein. Ein Teil von ihr hatte sich vor dieser Nacht gefürchtet.

Jarod war nicht der erste Mann, den sie in ihr Haus und in ihr Bett eingeladen hatte, und er war auch nicht der erste, dem sie erlaubte, bis zum Morgen zu bleiben. Aber Jarod war der erste Mann, den sie morgens ansah und sich dabei wünschte, jeden Morgen neben ihm aufzuwachen.

Sie streckte eine Hand nach ihm aus, berührte ihn zärtlich an der Wange. Sofort breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus, und Miss Parker schüttelte belustigt den Kopf.

"Guten Morgen, Jarod", murmelte sie sanft. "Wie lange bist du schon wach?"

Sein Lächeln vertiefte sich noch ein wenig, aber er ließ seine Augen noch immer geschlossen.

"Nicht lange", antwortete er, ebenfalls leise und mit dunkler Stimme. Schließlich öffnete er die Augen und begegnete ihrem Blick. In seinen Augen spiegelten sich seine Empfindungen wider, und Miss Parker fühlte, wie sich als Reaktion auf seinen Blick ein warmes Gefühl in ihrem ganzen Körper ausbreitete.

Gleichzeitig tauchte noch eine andere Empfindung auf. Plötzlich spürte sie einen Stich völlig irrationaler Angst. Sie senkte den Blick.

Jarod spürte die Veränderung in ihrer Stimmung sofort und legte eine Hand unter ihr Kinn, zwang sie ganz sanft, ihn wieder anzusehen.

"Was ist los?" fragte er mit einer Sanftheit, die ihre Angst sofort schmelzen ließ. "Bereust du die letzte Nacht?"

"Nein", sagte sie mit Überzeugung. Das einzige, was sie an dieser Nacht vielleicht bedauerte, war, daß sie nicht schon viel früher stattgefunden hatte. "Jarod, ich..."

Mit einem Seufzen brach sie ab und ließ sich rückwärts auf ihr Kissen fallen. Für einen kurzen Moment schloß sie die Augen, versuchte, sich zu sammeln. Sie wollte, daß er sie verstand. Es war so wichtig für sie. Er war so wichtig für sie. Als sie die Augen wieder öffnete, begegnete sie seinem besorgten Blick.

"Du mußt mich doch hassen", brachte sie leise hervor. Jarods Augen weiteten sich überrascht, als er verstand, worauf sie hinaus wollte.

"Marine, wie kannst du so etwas auch nur denken? Die letzte Nacht sollte dir bewiesen haben, wie ich für dich empfinde." Der warme Klang seiner Stimme begann, ihre Zweifel auszulöschen. "Ich liebe dich." Mit einer Hand berührte er ihre Wange, die andere griff nach ihrer Hand. "Marine, ich liebe dich", wiederholte er und sah tief in ihre Augen.

In ihrem Innersten schien etwas zu zerbersten, und plötzlich fühlte sie sich frei. Jarod liebte sie, er verzieh ihr.

"Oh Gott, Jarod", wisperte sie, und eine Träne lief über ihre Wange. Er wischte sie vorsichtig fort. "Ich liebe dich auch. Aus tiefstem Herzen." Sie schluckte. "Es tut mir so schrecklich leid. Alles, was ich dir angetan habe..." Weitere Tränen folgten der ersten.

"Marine, nein. Du mußt dich nicht entschuldigen, für nichts. Es stimmt, wir haben uns gegenseitig verletzt, aber das ist jetzt vorbei. Was auch immer zwischen uns passiert ist, es ändert nichts an den Gefühlen, die wir füreinander haben. Ich habe dich geliebt, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe, und ich werde dich immer lieben. Wir gehören zusammen", betonte er, und auch in seinen Augen standen Tränen. Er nahm ihr Gesicht sanft in beide Hände und küßte alle Tränen fort. Dann zog er sie in seine Arme und hielt sie einfach nur fest. Miss Parker schlang ihre Arme um ihn und genoß das Gefühl, im so nahe zu sein.

"Danke", murmelte sie gegen seine Schulter. Überrascht sah er auf.

"Wofür?" Sie lächelte.

"Dafür, daß du hier bist. Dafür, daß du mir verzeihst. Und dafür, daß du mich liebst."

Jarod schüttelte den Kopf und suchte ihren Blick.

"Du mußt mir auch nicht danken. Nirgendwo möchte ich lieber sein als hier, bei dir. Es gibt nichts, was ich dir verzeihen müßte. Und daß ich dich liebe, ist ein großes Geschenk für mich. Du bist etwas ganz Besonderes, ein Teil meines Lebens, das ohne dich sinnlos wäre. Wenn ich dich ansehe, dann habe ich das Gefühl, eine Familie zu haben, ein Zuhause."

Seine Worte lösten ein allumfassendes Glücksgefühl in ihr aus.

"Ich wünschte, du wüßtest, wie glücklich du mich machst, Jarod", sagte sie ernst.

"Ich weiß es, Marine. Glaub mir, ich weiß es", antwortete er. Er zog sie näher an sich und küßte sie zärtlich auf die Lippen. Sie erwiderte den Kuß, dann lehnte sie sich an ihn, bis ihre Stirn seine berührte.

"Mhm, und was fangen wir jetzt mit dem angebrochenen Morgen an?" fragte Jarod mit dunkler, sinnlicher Stimme und einem völlig unschuldigen Gesichtsausdruck. Sie lachte leise und lehnte sich wieder ein Stück zurück, um ihn betrachten zu können. Er schaffte es mühelos, seine Unerfahrenheit zu überspielen. Ein sinnliches Lächeln umspielte ihre Lippen.

"Ich glaube, mir fällt da etwas ein", sagte sie leise, verschränkte ihre Hände in seinem Nacken und zog ihn wieder an sich.

"Mal sehen, ob wir an das Gleiche gedacht haben", erwiderte Jarod mit einem Lächeln, das ihr für einen Moment den Atem raubte. Dann küßte er sie, und sie vergaß alles andere.



Das Centre
Blue Cove, Delaware
10:17


Sydney ging gedankenverloren durch die Eingangshalle des Centres. Er befand sich auf dem Rückweg von Miss Parkers Büro, wo er sie vergeblich gesucht hatte. Vorsichtige Nachfragen hatten ergeben, daß noch niemand sie heute im Centre gesehen hatte. Unruhe regte sich in ihm. Zu deutlich erinnerte er sich noch an ihr plötzliches Verschwinden vor ein paar Wochen. Wenn er zurück in seinem Büro war, würde er versuchen, sie zu Hause zu erreichen. Hoffentlich war mit ihr alles in Ordnung...

"Guten Morgen, Sydney", sagte plötzlich jemand neben ihm. Als er den Kopf drehte, sah er, daß Miss Parker neben ihm ging.

"Miss Parker, schleichen Sie sich doch nicht so an mich heran", mahnte er, um einen Teil seiner Überraschung zu verbergen.

"Tut mir leid", sagte sie sofort und legte kurz ihre Hand auf seinen Arm.

"Oh, schon gut", brummte Sydney besänftigt. "Sie sind spät dran, Miss Parker", fügte er wie beiläufig hinzu.

"Wirklich?"

Sie klang amüsiert, und Sydney registrierte überrascht, daß sie ausgesprochen gute Laune hatte. In ihren Augen lag ein Ausdruck, den er seit vielen Jahren nicht mehr bei ihr gesehen hatte, und sie strahlte eine tiefe Zufriedenheit aus.

"Mhm", bestätigte er. "Außerdem machen Sie einen fast fröhlichen Eindruck auf mich."

"Sydney, jetzt übertreiben Sie's nicht", erwiderte sie, konnte aber nicht verhindern, daß ihre Lippen sich zu einem sanften Lächeln verzogen. Kein Zweifel, Miss Parker war glücklich.

Sydney griff nach ihrem Arm und zog sie sanft mit sich, zurück zur Eingangshalle und nach draußen. "Kommen Sie, lassen Sie uns einen Spaziergang machen. Wer weiß, wie lange sich das gute Wetter noch hält." Miss Parker warf ihm einen amüsierten Blick zu, folgte ihm aber wortlos. Als sie das Centre verlassen hatten, gingen sie eine Weile schweigend nebeneinander her, dann ergriff Sydney das Wort.

"Also, wie ist sein Name?"

Miss Parker blieb stehen. Sie schüttelte den Kopf, musterte ihn, und dann lachte sie leise. "Sydney, Sie sind neugierig."

"Nein. Das ist rein berufliches Interesse", versicherte ihr Sydney mit einem leichten Lächeln.

"Ja, genau. Und wie kommt es, daß Sie jedesmal, wenn ich gute Laune habe, sofort vermuten, daß ein Mann dahintersteckt, hm?"

"Was, tue ich das?"

Ihre Antwort bestand aus einem wissenden Blick, dann neigte sie den Kopf leicht zur Seite. "In diesem besonderen Fall haben Sie allerdings recht", gab sie zu.

"Ach?"

"Hören Sie schon auf, Syd."

Er hob abwehrend die Hände und grinste dabei. "Wie Sie wollen, Miss Parker. Möchten Sie vielleicht darüber reden?"

Sie ließ ihren Atem geräuschvoll entweichen. "Was soll man von einem Psychiater auch anderes erwarten?" Miss Parker wurde wieder ernst. "Nein, im Ernst, Syd, ich glaube nicht, daß ich schon darüber sprechen kann. Nicht mal mit Ihnen. Aber ich würde es gern", betonte sie. "Geben Sie mir noch ein wenig Zeit." Ihre Worte wurden von einem warmen Lächeln begleitet, das Sydney völlig in seinen Bann zog.

"Wenn Sie reden möchten... Ich bin immer für Sie da."

"Es tut gut, das zu wissen." Sie warf einen Blick zurück zum Hauptgebäude des Centres. "Haben Sie heute nachmittag schon was vor?" fragte sie dann unvermittelt. Sydney hob überrascht die Brauen.

"Außer meiner Arbeit, meinen Sie?"

"Nehmen Sie sich frei. Ich muß über etwas sehr Wichtiges mit Ihnen sprechen, aber hier im Centre wäre das unklug." Miss Parker überlegte einen Augenblick, dann war sie es, die ihn mit sich zog. "Ich habe eine Idee. Statten wir Broots doch einen kleinen Besuch ab."



Broots Haus
Blue Cove, Delaware
14:51


Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt bereits überschritten, als Broots nach Hause kam. Miss Parker saß im Garten seines Hauses, entspannt und beinahe völlig zufrieden. Eigentlich fehlte nur noch einer, um ihr Glück perfekt zu machen. Beim Gedanken an Jarod konnte sie gar nicht anders, als zu lächeln. Sie lehnte sich weit zurück, spürte die Sonne auf ihrem Gesicht, versuchte sich genau an Jarods Zärtlichkeiten zu erinnern. Die Berührung seiner sanften Hände, der liebevolle Blick seiner dunklen Augen, in denen sie sich verlieren wollte... Aus der Ferne hörte sie, wie Debbie ihren Vater begrüßte. Direkt neben ihr erklang plötzlich Sydneys Stimme.

"Und Sie wollen wirklich nicht über ihn reden?" erkundigte er sich leise. Miss Parker schloß kurz die Augen.

"Sie sind doch neugierig", stellte sie fest, noch immer lächelnd. Bevor er etwas erwidern konnte, kam Broots hinaus in den Garten.

"Hallo, Miss Parker. Hi, Syd. Danke, daß Sie Debbie von der Schule abgeholt haben."

"Oh, gern geschehen", erwiderte Sydney. Er warf Miss Parker einen fragenden Blick zu, den sie mit einem kurzen Nicken beantwortete. Es war Zeit, ihn in alles einzuweihen. Broots hatte zugestimmt, daß sie sich hier trafen - auch wenn ihn ihre Bitte offenbar einigermaßen überrascht hatte
. Sie suchte seinen Blick, und einen Augenblick später reagierte er.

"Uhm, wieso gehen wir beide nicht für eine Weile ins Haus, Debbie?" wandte er sich an seine Tochter. "Ich könnte dir bei deinen Aufgaben helfen."

"Ach, Dad. Die kann ich doch heute abend noch machen", widersprach Debbie, die sich über den unerwarteten Besuch sehr zu freuen schien.

"Na komm schon, dann hast du es hinter dir", beharrte Broots und führte sie mit sich fort. Miss Parker wartete, bis die beiden außer Hörweite waren. Sydney setzte sich auf einen der Gartenstühle neben ihr und sah sie erwartungsvoll an.

"Also, Miss Parker, was ist nun so wichtig, daß Sie im Centre nicht darüber reden wollten?"

Sie erwiderte seinen Blick voller Ruhe, fragte sich aber, wo sie beginnen sollte. Und wie soll ich das alles erst Jarod erklären? schoß es ihr durch den Kopf. Mit ihm steht mir dieses Gespräch auch noch bevor.

"Wir konnten nicht im Centre darüber sprechen, weil es um das Centre geht", fing sie schließlich an. "Haben Sie sich eigentlich je gefragt, was Sie machen werden, wenn Sie das Centre verlassen?"



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
19:20


Es war noch hell, als Miss Parker langsam die Auffahrt zu ihrem Haus entlangfuhr. Von außen machte ihr Haus einen verlassenen Eindruck. Einen bangen Moment lang fragte sie sich, ob das auch für das Innere zutraf, dann schüttelte sie den Kopf über sich selbst. Natürlich wünschte sie sich, daß Jarod bei ihr war, aber wenn er jetzt nicht da war, hatte das noch lange nichts zu bedeuten.

Sie parkte ihren Wagen, ging zur Haustür und schloß auf. Sobald sie die Tür öffnete, zerstoben all ihre Zweifel. Ein köstlicher Duft wehte ihr aus Richtung der Küche entgegen.

"Jarod?" rief sie leise, nachdem sie die Tür geschlossen hatte.

"Augenblick", erklang die gedämpfte Antwort aus der Küche. Kurz darauf kam ihr Jarod lächelnd entgegen. Miss Parker überbrückte die letzten Schritte und schloß ihn in ihre Arme. Erst jetzt, als sie ihn berührte, fühlte sie sich zu Hause.

"Du hast mir gefehlt", sagte sie sanft. Jarod schob sie ein Stück von sich weg, musterte sie eingehend, dann neigte er den Kopf, um sie zu küssen. "Ich habe dich auch vermißt", erwiderte er dann ebenso sanft. "Du warst nicht sicher, ob ich hier sein würde, habe ich recht?" erkundigte er sich dann mit einer Mischung aus Besorgnis und Verständnis. Sie seufzte.

"Ich weiß, daß es dumm ist, aber..."

"Marine." Er nahm ihr Gesicht in seine Hände. "Ich war immer für dich da, und daran wird sich niemals etwas ändern. Und jetzt, wo ich endlich bei dir sein kann, werde ich dich bestimmt nicht verlassen. Dafür mußte ich viel zu lange auf dich warten."

Ein zögerliches Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus.

"Ich schätze, das wußte ich bereits. Aber es tut trotzdem gut, es zu hören", erwiderte sie, und ihr Lächeln vertiefte sich. "Du hast gekocht?"

Jarod entspannte sich sichtlich, als er sah, daß sie ihm vertraute. "Ja. Ich dachte mir, daß du nach einem langen Tag im Centre vielleicht hungrig bist."

"Hungrig, hm? Ja, ich glaube, ich bin tatsächlich hungrig." Sie begegnete seinem Blick, und für einen langen Moment sahen sie einander nur an. Dann beugte sich Jarod zu ihr vor, bis seine Lippen beinahe ihr Ohr berührten. "Im Wohnzimmer", wisperte er dann. Miss Parker hob erwartungsvoll die Brauen. "Ich komme gleich nach", fügte Jarod hinzu. Sie küßte ihn auf die Wange und wollte ins Wohnzimmer gehen, aber er hielt sie fest, zog sie an sich und küßte sie. Leidenschaft mochte der Auslöser für den Kuß gewesen sein, aber jetzt spiegelte er etwas Tieferes wider, das sie beide atemlos zurückließ. In seinen Augen las sie die selben tiefen Gefühle, die auch sie bewegten. Plötzlich fiel es ihr nicht mehr schwer, seine Liebe für sie zu spüren. Sie schien sie einzuhüllen und auszufüllen, löschte alle Ängste und Zweifel aus.

Miss Parker hob die Hand und berührte Jarod zärtlich an der Wange. "Ich liebe dich", ließ sie ihn wissen und genoß seinen liebevollen Blick, der ihre Worte beantwortete. "Bis gleich." Diesmal ließ er sie gehen, sah ihr nur nach. Sie legte den kurzen Weg bis ins Wohnzimmer zurück, neugierig, was sie dort finden würde. In der Tür blieb sie überrascht stehen.

Dutzende von Kerzen erhellten das Zimmer. Im Kamin knisterte ein Feuer leise vor sich hin, und überall standen Vasen, manche mit einzelnen Rosen, andere mit ganzen Sträußen. Im Hintergrund war leise Musik zu hören.

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als Miss Parker langsam zum festlich gedeckten Tisch ging. Wie aus dem Nichts tauchte Jarod hinter ihr auf, zog den Stuhl für sie zurecht. Sie schüttelte den Kopf.

"Was ist los?" erkundigte sich Jarod. "Stimmt etwas nicht?"

"Oh, nein", erwiderte sie sofort. "Es ist wundervoll." Miss Parker lachte leise. "Es ist nur, daß ich mir so etwas lange Zeit nicht vorstellen konnte."

"Ich verstehe, was du meinst", sagte Jarod leise. "Mir ging es ähnlich. Das heißt aber nicht, daß ich nicht davon geträumt hätte." Sein Lächeln vertiefte sich, und seine dunklen Augen funkelten. Sie erwiderte seinen Blick, erlaubte sich für einen Moment, sich in seinen Augen zu verlieren. Es war beinahe wie früher, als sie noch Kinder gewesen waren. Damals hatte er ihr immer das Gefühl vermittelt, daß früher oder später alles in Ordnung kommen würde. Doch jetzt gab es noch mehr zwischen ihnen, etwas, das sie nicht benennen konnte, das sie mit einem verloren geglaubten Glücksgefühl erfüllte.

Jarod setzte sich ebenfalls, dann griff er nach ihrer Hand. "Ich dachte, du hast Hunger?" neckte er sie leise.

"Ja, richtig." Einen Augenblick später galt ihre volle Aufmerksamkeit wieder der Gegenwart. Und Jarod, der ihr gegenüber saß, der endlich wieder in ihrer Nähe war. "Also, was gibt es?" fragte sie erwartungsvoll.

Er stand auf. "Bin sofort wieder da", versicherte er und deutete eine Verbeugung an. Als er aus der Küche zurückkam, trug er zwei Suppentassen auf einem Tablett. Eine der Tassen stellte er vor ihr ab, die andere an seinem Platz. Miss Parker warf einen neugierigen Blick in ihre Tasse. "Japanisch!" rief sie überrascht. "Laß mich raten", fuhr sie mit einem sanften Lächeln fort, "du hast eine Weile in einem japanischen Restaurant gearbeitet."

"Eigentlich", antwortete er mit einem leisen Lachen, "habe ich nur ein paar japanische Kochbücher gelesen. Aber ich bin bisher noch nicht dazu gekommen, mein Wissen in die Praxis umzusetzen."

"Das kommt mir irgendwie bekannt vor", murmelte Miss Parker und warf noch einen Blick auf die Suppe, bevor sie zu Jarod aufsah. "Wenn du nur halb so gut kochst wie dein Vater, sollte das hier hervorragend schmecken", erklärte sie dann voller Wärme.

"Er hat auch für dich gekocht?" fragte Jarod erstaunt. Sein Blick verriet ihr, wie sehr er sich wünschte, mehr über seinen Vater zu erfahren.

"Allerdings", bestätigte sie. "Als ich ihn in England ausfindig gemacht hatte, hat er mich zum Abendessen eingeladen. Wir haben zusammen gegessen, und dann hat er mir von meiner Mutter erzählt."

"Wie ist er? Ich meine, was für ein Mensch ist er?" In seiner Stimme hörte sie eine Mischung aus Sehnsucht und Zögern. Er wollte mehr über seinen Vater wissen, aber er hatte auch Angst vor dem, was er erfahren könnte. Diesmal war sie es, die nach seiner Hand griff.

"Ihr seid euch sehr ähnlich", erzählte sie. "Und ich bin fest davon überzeugt, daß er meine Mutter nicht getötet hat. Er ist... großzügig und verständnisvoll, außerdem hilfsbereit. Meine Mutter hätte sich keinen besseren Freund wünschen können. Ich bin sehr froh, daß ich ihn kennengelernt habe." Ihr entging nicht, daß ihre Worte sowohl Freude als auch Traurigkeit bei Jarod auslösten. Sie drückte seine Hand. "Du fehlst ihm sehr. Er ist so stolz auf dich. Bestimmt wird er alles tun, um dich so bald wie möglich selbst zu treffen. Es gibt nichts, was er sich mehr wünscht." Jarod schloß für einen Moment die Augen, dann sah er sie wieder an. Langsam hob er ihre Finger an seine Lippen und küßte sie.

"Danke", wisperte er. Miss Parker schüttelte leicht ihren Kopf.

"Wofür denn? Wir haben schließlich eine Abmachung, was Informationen über unsere Eltern angeht", erinnerte sie ihn mit einem sanften Lächeln. "Und jetzt möchte ich endlich meine Suppe probieren, bevor ich hier verhungere." Er lachte, doch in seinem Blick lag noch immer tiefe Dankbarkeit, außerdem eine intensive Wärme, die beinahe fühlbar für sie war. "Guten Appetit", wünschte er ihr. "Laß es dir schmecken."

"Gleichfalls", erwiderte sie, bevor sie die Suppe probierte. Der Geschmack erinnerte sie an ihren letzten Besuch in Japan - sie konnte keinen Unterschied zum 'echten' japanischen Aroma feststellen. "Mhmm", machte sie anerkennend. "Wie machst du das bloß? Ich wette, du könntest sogar einen alten japanischen Küchenmeister beschämen."

"So etwas würde ich nie tun", wehrte er ab.

"Nein, wenigstens nicht mit Absicht", erwiderte sie, bemüht, ein Lächeln zu unterdrücken. Es fiel ihr schwer, sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal in Gesellschaft so entspannt gewesen war. Angelo hatte recht gehabt. Jarod tat ihr wirklich gut.

Plötzlich fiel ihr etwas ein.

"Sag mal, diese Kochbücher, von denen du gesprochen hast... Eins davon hast du nicht zufällig in meiner Küche gefunden?"

"Doch, warum?"

"Oh, bitte sag mir, daß du die Sushi-Rezepte ausprobiert hast", bat sie ihn. Während ihrer Besuche in Japan hatte sie eine Vorliebe für einige japanische Gerichte entwickelt, aber bisher hatte sie hier niemanden gefunden, der auch nur in die Nähe guter japanischer Kochkunst kam. Jarods Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Lächeln.

"Du hast Glück. Ich wußte gar nicht, daß du rohen Fisch magst."

"Er ist köstlich", versicherte sie ihm. "Das Problem ist nur, daß es außerhalb von Japan schwer ist, gutes Sushi zu bekommen."

Etwas später lehnte sich Miss Parker zufrieden zurück. Ein glückliches Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie Jarod dabei zusah, wie er sich mit einigen japanischen Spezialitäten vertraut machte. Es dauerte nicht lange, bis er zu ihr aufsah.

"Amüsierst du dich?" erkundigte er sich, ein belustigtes Funkeln in den Augen.

"Mhm. Sehr sogar", gab sie zurück. Mittlerweile war es draußen dunkel geworden, und die blasse Sichel des Mondes schob sich langsam über den Horizont. Jarod erhob sich.

"Gut", erwiderte er in einem Tonfall, der ihre Aufmerksamkeit erregte. "Dann wird dir das Dessert bestimmt auch gefallen." Miss Parker musterte ihn erwartungsvoll.

"Hast du etwas Bestimmtes geplant?" erkundigte sie sich möglichst beiläufig.

"Mhm", murmelte er, die Stimme dunkel und weich wie Samt. Er trat von hinten an sie heran, legte die Arme um sie und küßte sie auf den Nacken. Sie lehnte sich ganz leicht gegen ihn. Seine Hände glitten zu ihren Schultern, übten sanften Druck aus, dann zog er sich etwas zurück. "Bin sofort wieder da", wisperte er in ihr Ohr. Sie sah ihm ein wenig erstaunt nach.

"Jarod!"

Er drehte sich halb zu ihr um. "Vertrau mir."

Miss Parker verspürte eine seltsam prickelnde Mischung aus Verwunderung und Erwartung. Typisch Jarod. Es gelang ihm ohne Mühe, eigentlich Belangloses in eine aufregende Erfahrung zu verwandeln. Als wäre er selbst nicht schon aufregend genug... Sie grinste über sich selbst. Langsam fing sie wirklich an, sich wieder wie ein Teenager zu fühlen. Aber es machte ihr Spaß, also warum nicht?

Als Jarod diesmal ins Wohnzimmer zurückkehrte, trug er einen einzelnen Teller. Miss Parker konnte nicht erkennen, was sich darauf befand; sie mußte sich gedulden, bis er den Teller vor ihr abstellte. Gespannt betrachtete sie den Nachttisch. Soweit sie das feststellen konnte, handelte es sich um irgend etwas, das in Teig gebacken worden war.

"Was ist das?" fragte sie nach einem Blick in Jarods erwartungsvolle Miene. Er trat wieder hinter sie und griff an ihr vorbei nach einem der Teiggebilde.

"Das sind in Teig gebackene Rosenblüten", verriet er ihr leise. Sein Tonfall sorgte dafür, daß sich die Wärme in ihrem Inneren in Hitze verwandelte.

"Rosenblüten?" wiederholte sie und sah dabei wie hypnotisiert auf seine Hand.

"Mhm", bestätigte er. "Weißt du, was man darüber sagt?"

"Nein, was?" Etwas in seiner Stimme faszinierte sie zutiefst. Die Hitze verwandelte sich langsam in ein alles verzehrendes Feuer.

"Es heißt", sagte er, die Lippen wieder ganz nah an ihrem Ohr, "es heißt, daß sie eine stimulierende Wirkung haben."

"Ach ja?" Ihre Lippen verzogen sich zu einem sanften Lächeln. "Ich finde, daß wir diese Behauptung unbedingt überprüfen sollten, was meinst du?"

"Das liegt ganz in meinem Sinn", erwiderte er. Seine Stimme hatte einen rauhen Klang gewonnen. Er ging neben ihr in die Hocke, die Rosenblüte noch immer in der Hand. "Hungrig?"

"Sehr." Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.

"Hier." Er bot ihr die Blüte an, und sie biß vorsichtig ab. Ein interessanter Geschmack entfaltete sich in ihrem Mund, aber im Moment war das völlig nebensächlich für sie. Ohne den Blickkontakt zu Jarod auch nur für eine Sekunde zu unterbrechen, griff sie ebenfalls nach einer Blüte und hielt sie ihm hin. Jarod nahm einen Bissen, und ein sinnliches Lächeln umspielte seine Lippen.

"Ich glaube..." Er sah tief in ihre Augen und brach ab, um kurz darauf von neuem zu beginnen. "Ich glaube, die Behauptung ist richtig." Miss Parker lachte leise. "Durchaus möglich", räumte sie ein, während sie ihn langsam zu sich heranzog, um ihn zu küssen. Ihre Sinne schienen zu explodieren, als seine Lippen sich auf ihre preßten. Sie verlor sich in seiner Nähe, genoß die Zärtlichkeit seiner Berührung, spürte das Verlangen in seinen Küssen, ebenso stark wie ihr eigenes. Die Welt um sie herum schrumpfte, bis sie nur noch Jarod und sie selbst enthielt.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Morgen
7:11


Das Haus war völlig still, aber trotzdem machte es keinen einsamen Eindruck auf Miss Parker. Sie stand in der Küche, eine Tasse Kaffee in der Hand, und dachte über Jarod nach. Als sie aufgestanden war, hatte er noch tief und fest geschlafen, also hatte sie beschlossen, ihn nicht zu wecken. Es war erst die zweite Nacht, die er hier verbracht hatte, und doch fühlte es sich so an, als hätten sie bereits ein ganzes Leben miteinander geteilt. Miss Parker lächelte. In gewissem Sinne hatten sie das ja sogar.

Aber je mehr Zeit verging, desto klarer wurde ihr, daß es einige Dinge gab, über die sie unbedingt reden mußten. Ihr Blick glitt zum Fenster. Es sah nicht danach aus, als ob heute ein schöner Tag werden würde. Nicht die Art von Tag, um sich frei zu nehmen. Doch dann fiel ihr ein Ort ein, der erst bei diesem Wetter richtig zur Geltung kam. In ihre Gedanken versunken, bemerkte sie nicht, wie Jarod die Küche betrat. Leise trat er an sie heran und schloß sie von hinten in die Arme.

"Jarod!"

"Guten Morgen. Entschuldige, habe ich dich erschreckt?"

Miss Parker stellte ihre Kaffeetasse ab, dann drehte sie sich in Jarods Armen, um ihn anzusehen. "Laß es mich so ausdrücken: Hätte ich mich nicht so gut unter Kontrolle, dann hättest du nähere Bekanntschaft mit meinem heißen Kaffee gemacht", sagte sie mit einem belustigten Lächeln. Jarod hob eine Braue.

"Autsch", war sein einziger Kommentar, bevor er sie leicht auf die Lippen küßte. Dann küßte er sie noch einmal, und diesmal nutzte sie die Gelegenheit, um den Kuß zu erwidern.

"Hast du gut geschlafen?" erkundigte sie sich leise und lehnte sich leicht zurück.

"Mhm", machte er, "wenn auch nicht sehr viel." Seine letzten Worte wurden von einem vielsagenden Lächeln begleitet. Sie lachte leise, während sie die Hände in seinem Nacken verschränkte.

"Ich hoffe, du bist nicht zu müde für einen kleinen Ausflug?"

"Ausflug?" Er sah sie interessiert an. Miss Parker nickte.

"Weißt du, ich habe viel über uns nachgedacht, und es gibt einiges, über das ich mit dir sprechen möchte. Es gibt da einen ganz speziellen Ort, den ich dir gerne zeigen würde. Außerdem", fügte sie hinzu, "habe ich heute absolut keine Lust zu arbeiten."

Jarod zog sie noch näher an sich. "Gib mir fünf Minuten, dann können wir aufbrechen."



Catherine's Bay
Delaware
8:03


Hellgraue Wolken zogen über den Himmel. Der Wind peitschte das Wasser auf, ließ kräftige Wellen an den Strand schlagen. Jarod sah sich begeistert um. Die kleine Bucht, zu der Marine ihn mitgenommen hatte, war einfach wundervoll. Das schlechte Wetter nahm ihr nichts von ihrer Schönheit, sondern schien sie sogar noch zu unterstreichen.

"Es ist wunderschön hier", sagte er zu Marine, die neben ihm stand, den Blick unverwandt auf die offene See gerichtet. Als er sie ansprach, wandte sie sich ihm zu. In ihren Augen lag ein leicht trauriger Ausdruck, der aber schnell wieder verflog.

"Die Bucht gehörte meiner Mutter", erklärte sie ihm mit einem zögernden Lächeln. "Sie liebte diesen Ort sehr. Als ich noch sehr klein war, nahm sie mich mit hierher und erzählte mir, daß außer ihr und mir niemand diesen Ort kannte. Er gehörte nur uns. Seit ihrem Tod war ich nur wenige Male hier - immer allein."

Jarod legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Er konnte gut verstehen, was ihr dieser Ort bedeutete.

"Glaubst du, daß dein Vater hiervon weiß?" fragte er leise. Sie schüttelte den Kopf.

"Ich glaube nicht. Das hier war ganz allein ihr Ort, ihre Zuflucht. Abgesehen von Maine dürfte es ihr liebster Platz gewesen sein."

Marine lehnte sich an ihn. Ihr Vertrauen und ihre Nähe erfüllten ihn mit einer einzigartigen Wärme. Ebenso wie sie hatte auch er über ihre Beziehung nachgedacht. Es gab wirklich viel, über das sie reden mußten. Doch im Moment hatte er das Gefühl, daß es etwas ganz Bestimmtes gab, das sie belastete.

"Komm." Sie griff nach seiner Hand und zog ihn mit sich, bis sie einige Felsen erreichten, die dicht am Wasser standen. Die Flut kam bis auf etwa einen Meter an die Felsen heran, so daß sie einen trockenen Aussichtspunkt boten. Jarod setzte sich auf einen der großen Steine, und Marine ließ sich direkt vor ihm nieder. Er schloß sie in die Arme, legte sein Kinn ganz leicht auf ihre Schulter. Marine seufzte leise.

"Früher habe ich stundenlang hier gesessen und das Meer beobachtet. Sogar wenn es stürmisch war, hat mich der Anblick immer beruhigt. Wenn ich die Augen schließe, kann ich beinahe Mom vor mir sehen, wie sie am Wasser steht und die Möwen beobachtet."

"Ich bin sehr froh, daß du mir diesen Ort gezeigt hast, Marine", wisperte Jarod in Ohr. "Wenn du willst, können wir den ganzen Tag einfach nur hier sitzen."

Sie lehnte sich stärker gegen ihn, legte ihr Hände auf seine.

"Das würde ich wirklich gerne", erwiderte sie sanft, dann drehte sie sich halb um, um ihn anzusehen. "In meinem Leben hat sich einiges verändert, besonders in letzter Zeit. Du bist natürlich ein wichtiger Teil dieser Veränderungen", sagte sie mit einem liebevollen Lächeln. Jarod erwiderte ihren Blick und wartete. Er ahnte, daß sie ihm etwas Wichtiges sagen wollte.

"Ich habe lange überlegt, wie ich dir alles erklären soll und wo ich am besten anfange", fuhr sie fort. "Hat Sydney dir von Ruth Stiller erzählt?"

Nach kurzem Überlegen schüttelte Jarod den Kopf. Der Name sagte ihm nichts. "Nein. Wer ist sie?"

"War", korrigierte sie ihn. "Sie ist schon lange tot." Marine zögerte kurz. "Bevor ich nach England aufgebrochen bin, ist etwas passiert. Die Dinge im Centre sind nicht besonders gut gelaufen, und irgendwie hatte ich das Gefühl, daß ich etwas unternehmen sollte. Also habe ich Sydney gebeten, mir zu helfen. Ich wollte... eine Simulation machen." Sie schwieg, und Jarod sah sie überrascht an. Wieso hatte Sydney ihm nichts davon erzählt?

"Und dabei ging es um Ruth Stiller?" vermutete er.

"Ja."

"Hat es funktioniert? Ich meine, bist du..." Er vollendete den Satz nicht, sondern sah sie forschend an. Es fiel ihr offensichtlich nicht leicht, darüber zu reden, deshalb versuchte er, sie so gut er konnte zu unterstützen.

"Ich konnte ihre Erinnerungen sehen", erzählte sie. Ihr Blick reichte für einen Moment ins Leere, bevor sie ihn wieder ansah. Ein ganz leichtes Lächeln spielte um ihre Lippen. "Ich bin nicht wie du oder Angelo, aber auf meine Weise bin ich auch in der Lage, mich in andere Personen zu versetzen."

"Du bist ein Pretender", sagte Jarod staunend. Er mußte an all die Möglichkeiten denken, die sich dadurch eröffneten - für Marine, für sie beide. "Wenn du das früher herausgefunden hättest, wärst du in der Lage gewesen, mich zu fangen", fügte er nachdenklich hinzu. Marine schüttelte nachdrücklich den Kopf.

"Nein. Dann hätte ich das Centre mit Sicherheit verlassen. Oder ich wäre in Raines Horrorkabinett geendet."

Jarod strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. "Das hätte ich nie zugelassen", versicherte er ihr. "Wie kommst du damit zurecht?"

Sie seufzte noch einmal. "Ich gewöhne mich langsam daran. Aber..." Mitten im Satz hörte sie auf, sah zu Boden.

"Aber was?" hakte er sanft nach. Marine sah ihn wieder an. In ihrem Blick lag eine Verletzlichkeit, die ihn an das kleinen Mädchen erinnerte, das er vor so vielen Jahren in sein Herz geschlossen hatte.

"Aber ich habe dadurch Dinge erfahren, die ich lieber nicht gewußt hätte. In England bin ich durch Zufall auf eine junge Frau gestoßen, Luca Capristi. Durch mein Talent habe ich herausgefunden, daß Lyle ihr Schlimmes angetan hat. Ich habe Luca mit in die USA genommen, damit Syd sich um sie kümmern konnte."

Jarod nickte. Er erinnerte sich an die junge Frau, die er zusammen mit Sydney in Marines Haus gesehen hatte, kurz nach ihrer Rückkehr aus England. Das mußte Luca gewesen sein. Plötzlich spürte er, wie Marine zitterte. Besorgnis regte sich in ihm.

"Marine?"

"In Lucas Erinnerung habe ich etwas gesehen. Etwas, das von Lyle stammte", berichtete sie stockend. Auch ihre Stimme zitterte leicht. "Ich konnte nicht einmal mit Syd darüber reden."

"Du mußt nicht darüber sprechen, wenn es dich so sehr quält", sagte Jarod und zog sie näher an sich. Er spürte ihren Seufzer mehr, als daß er ihn hörte.

"Ich muß endlich mit jemandem darüber reden, Jarod. Und du bist der einzige, dem ich genug vertraue."

Sie schloß die Augen. Jarod hielt sie einfach fest, wünschte sich, ihren Schmerz zu lindern. "Ich liebe dich, Marine." Er küßte sie auf die Stirn. "Wenn ich dir irgendwie helfen kann, dich besser zu fühlen, sag es mir einfach, und ich werde es tun."

Marine setzte sich auf, sah ihn lange an. Sanft nahm sie sein Gesicht in beide Hände und küßte ihn ganz leicht auf die Lippen. "Ich weiß nicht, ob ich die richtigen Worte finden kann, um alles zu erklären. Es ist so kompliziert. Ich möchte einfach, daß du weißt, was ich empfinde."

"Das klingt beinahe wie eine Einladung in deinen Kopf", sagte er scherzhaft, aber sie blieb ernst.

"Es ist eine", stellte sie ruhig fest. "Es gibt Dinge, die ich niemals aussprechen würde, aber ich kann sie dir zeigen."

Jarod zögerte. Sie glaubte, daß sie sich besser fühlen würde, wenn er in sie hineinsah, und er war mehr als bereit, ihr zu helfen. Aber er hatte auch Angst. Angst davor, sie zu verletzen. Marine schien seine Zweifel zu erahnen.

"Es ist in Ordnung, Jarod. Ich vertraue dir. Aber wenn du es nicht tun willst, werde ich versuchen, es auf die herkömmliche Weise zu erklären."

"Ich möchte, daß du mir sofort sagst, wenn du dich dabei unwohl fühlst", sagte er entschlossen.

"Ist gut."

Sie lehnte sich wieder an ihn. Ihr Kopf ruhte an seiner Brust, und er spürte, wie sie sich entspannte. Jarod begann, sich auf Marine zu konzentrieren. Er hatte sich früher schon in sie hineinversetzt, meistens, um ihre Beziehung zu ihrer Mutter besser verstehen zu können. Jetzt fiel es ihm noch leichter, einen Zugang zu ihr zu finden.

Seine eigenen Gedanken und Emotionen rückten in den Hintergrund, als er sich völlig auf Marine einließ, zu ihr wurde. Zuerst begann er, die Ausmaße ihres neuen Talentes zu erfassen, bis er verstand, wozu sie jetzt in der Lage war. Er durchlebte einzelne Momente ihrer Zeit in England, sah seinen Vater durch ihre Augen. Dann die Begegnung mit Luca, und als nächstes... Lyle. Er sollte nicht hier sein. Seine Empfindungen waren stark, beunruhigend, beängstigend. Sie waren falsch.

Marine wünschte verzweifelt, sie könnte diese Erinnerungen verbannen, aber es war unmöglich. Sie waren jetzt ein Teil von ihr - Lyle war auf diese Weise ein Teil von ihr. Die Erinnerung an ihre Erfahrung war noch immer sehr belastend, aber das Wissen, daß Jarod nun davon wußte, tröstete sie. Er war für sie da, und ihre Liebe zu ihm half ihr, alles durchzustehen.

Ihre Gedanken wanderten weiter. Das Centre rückte ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Sie dachte an ihren Plan und ihre feste Überzeugung, daß er gelingen würde. Wenn das Centre nicht mehr existierte, war sie frei, ebenso wie Jarod. Dann mußte sie sich nie wieder Sorgen um Lyle machen.

Ein ungutes Gefühl durchzuckte sie, als sie wieder an ihren Bruder dachte. Sein krankes Verlangen quälte sie. Hatte sie ihn irgendwie ermutigt? Gott, Lucas Erinnerungen waren so real gewesen. Fast so, als sei sie diejenige gewesen, die Lyle...

"Marine, nicht!"

Jarod riß die Augen auf. Er schloß sie fest in seine Arme und redete leise auf sie ein.

"Du darfst niemals, niemals denken, daß Lyles Verhalten deine Schuld ist. Er ist krank. Du hast ihn nicht ermutigt. Gott, es tut mir so leid. Ich weiß, wie schlimm das für dich gewesen ist. Ich wünschte, ich hätte für dich da sein können. Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen. Aber das geht nicht. Doch ich bin jetzt für dich da. Mach dir bitte keine Selbstvorwürfe. Nichts von allem, was passiert ist, war deine Schuld. Das mußt du mir glauben."

Im Moment zählte für ihn nur, sie zu beruhigen. Seinen Zorn auf Lyle schob er fort. Damit würde er sich später befassen. Er spürte, wie Marine den Kopf hob. Sie sah blaß aus, wirkte aber gefaßt. Besorgt musterte er sie.

"Jarod, ich..." Es dauerte einen Moment, bis sie weitersprach. "Auf einer rationalen Ebene weiß ich, daß du recht hast, aber... Es fühlt sich einfach nicht danach an. Jedenfalls bin ich froh, daß du jetzt Bescheid weißt."

"Du kannst mir alles sagen, ganz besonders, wenn du dich dadurch besser fühlst. Ich werde dir immer zuhören."

Marine lächelte ganz leicht.

"Danke, Jarod", sagte sie ernst, während sie sanft seine Wange berührte. Er nahm ihre Hand und küßte ihre Finger, einen nach dem anderen.

"Ich liebe dich, Marine."

Eine ganze Weile saßen sie schweigend da, völlig versunken in die Nähe des anderen. Marines Blick ging aufs Meer hinaus, während Jarod sie betrachtete und versuchte, sich jedes Detail ihrer Schönheit einzuprägen. Erst nach einer ganzen Zeit wandte sie sich wieder zu ihm um. Diesmal haftete ihrem Lächeln nicht die geringste Traurigkeit an.

"Und, was hältst du von dem Gedanken, das Centre aus dem Verkehr zu ziehen?" erkundigte sie sich neugierig. Jarod blinzelte und löste seine Aufmerksamkeit von ihrem faszinierenden Profil.

"Ehrlich gesagt, habe ich darüber noch gar nicht nachgedacht", gestand er. "Ich bin sehr stolz auf dich", fügte er dann hinzu. Sie sah ihn verständnislos an. Er lächelte zärtlich. "Die Art, wie du dich deinen Dämonen stellst, ist bewundernswert. Jemand anders wäre vermutlich davongelaufen. Aber du versuchst, damit fertig zu werden. Ich finde das bemerkenswert", erklärte er sanft.

"Ohne dich würde ich das nicht schaffen, Jarod. Der Gedanke an dich hilft mir, alles durchzustehen." Sie drückte ihn an sich. "Ich liebe dich", murmelte sie an seiner Brust.

Jarod wünschte sich, er könnte diesen Moment für immer festhalten. Hier war alles so einfach. Es gab nur sie beide und nichts, das zwischen ihnen stand. Sie waren beide glücklich.

"Ich wünschte, wir könnten ewig so sitzen", seufzte Marine und sah auf, als Jarod leise lachte.

"Genau dasselbe habe ich auch gerade gedacht", erklärte er grinsend.

"Dann laß uns einfach hierbleiben. Zumindest für eine Weile." Sie drehte sich ganz um, bis sie ihm gegenüber saß. "Glaubst du, daß es funktionieren wird? Das Centre unschädlich zu machen, meine ich."

Er zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht, aber ich möchte es gerne glauben. Für uns, und für alle anderen, denen das Centre geschadet hat. He, wieso läßt du mich nicht helfen? Ich bin sicher, ich könnte einen nützlichen Beitrag leisten."

Der Gedanke, etwas gegen das Centre zu unternehmen, war mehr als aufregend. In Gedanken simulierte er bereits verschiedene Ausgangsmöglichkeiten für Marines Plan, und das Ergebnis sah ziemlich vielversprechend aus. "Es könnte klappen", sagte er nachdenklich. "Ja, das könnte es wirklich."

Marine betrachtete ihn mit einem amüsierten Lächeln. "Ich bin sicher, daß es an meinem Plan noch das eine oder andere zu verbessern gibt", meinte sie, "und ich wäre sehr dankbar für deine Hilfe. Broots hätte gegen deine Unterstützung garantiert auch nichts einzuwenden." Sie schlang die Arme um seinen Hals. "Aber das hat auch noch bis morgen Zeit."

Jarod erwiderte ihr Lächeln. "Ja, das hat es", bestätigte er leise. Er zog sie näher an sich, und ließ das Centre für den Augenblick das Centre sein.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Morgen
2:22


Die Nacht war mondlos. Dicke Wolken verdeckten den Himmel, und nur hin und wieder war ein einzelner Stern zwischen den Wolkenlücken zu entdecken. Jarod lag wach, betrachtete Marine beim Schlafen. Er dachte über das nach, was er in der Bucht erfahren hatte. Lyle. Das Centre.

Er nahm sich vor, persönlich dafür zu sorgen, daß Lyle bis an sein Lebensende hinter Gittern saß. Nicht nur, daß Lyle für den Tod von Kyle verantwortlich war, er quälte auch noch Marine. Aber wenn das Centre erst einmal unschädlich gemacht worden war, würde Lyle für alles bezahlen.

Jarod zwang seine Gedanken in eine angenehmere Richtung. Zärtlich berührte er Marines Gesicht. Sie bedeutete ihm so viel. Ohne sie konnte er sich sein Leben nicht mehr vorstellen. Noch vor wenigen Wochen hätte er es nie für möglich gehalten, daß er ihr so schnell wieder so nahe kommen würde. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie jemanden so sehr geliebt wie sie.

Er erinnerte sich an die vielen Male, als sie ihn im Centre besucht hatte, damals, als sie beide noch Kinder gewesen waren. Sie war für lange Zeit sein einziger Lichtblick gewesen. Und noch heute war sie der einzige Mensch, der ihn wirklich verstand.

"Jarod?"

Ihre verschlafene Stimme riß ihn aus seinen Gedanken.

"Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken", sagte er leise. In ihren Augen sah er eine Mischung aus Verständnis und Mitgefühl.

"Du grübelst schon wieder, Jarod", erwiderte sie. "Das hast du schon gemacht, als wir beide noch Kinder waren. Ich kenne diesen Gesichtsausdruck genau." Sie setzte sich auf und betrachtete ihn mit einem wissenden Blick. "Heute, in der Bucht, hast du mir sehr geholfen. Vielleicht kann ich dir jetzt ein bißchen davon zurückgeben."

Mit ihren Fingerspitzen strich sie zärtlich über seine Stirn, dann weiter durch sein Haar. "Du hast mir so oft gesagt, daß du nicht weißt, wer du bist. Mir ging es ganz ähnlich, also habe ich viel darüber nachgedacht, was einen Menschen eigentlich ausmacht." Jarod sah sie fasziniert an. Ihr Blick schien bis in die Tiefen seiner Seele zu reichen.

"Du hoffst, daß du mehr über dich selbst herausfindest, wenn du deine Eltern findest. Das mag durchaus sein - aber wichtig ist vor allem, wer dich großgezogen hat. Sieh mich an. Ich möchte gerne glauben, daß ich so wie meine Mutter bin, aber ich kann mich nicht einmal richtig an sie erinnern. Was meinen Vater angeht... Vielleicht ist Ben mein leiblicher Vater, aber das bedeutet nicht, daß ich ihm in irgendeiner Weise ähnlich sein muß. Der Mann, den ich immer als meinen Vater gekannt habe, ist mir bei weitem nicht so ähnlich, wie ich gedacht habe. Wenn man die Sache aus dem richtigen Abstand betrachtet, dann ist Sydney mir immer von allen Menschen am meisten ein Vater gewesen." Sie lächelte voller Wärme, als sie Jarods Mentor erwähnte, und er wartete gespannt, was sie noch zu sagen hatte.

"All diese Beziehungen machen mich aus, aber sie sind nicht das, was ich bin", fuhr sie fort. "Sie sind nur ein kleiner Teil von mir. Für dich ist es natürlich schwieriger. Durch die vielen Simulationen hattest du nie eine Chance, eine Beziehung zu dir selbst zu entwickeln. Du weißt nicht, wo du herkommst. Worauf ich hinaus will, ist folgendes: Es spielt keine Rolle, wie wenig du über deine Vergangenheit weißt. Du bist Jarod, der ehrlichste, liebevollste und großzügigste Mann, den ich kenne. Wenn du auf dein Leben zurückblickst, dann wirst du bestimmte Konstanten entdecken, die immer da waren, die dich ausmachen. Sydney ist eine davon. Die Namen deiner Eltern sind für deine Identität nicht wichtig, nicht einmal dein eigener Name. Du weißt, wer du bist, Jarod. Vertrau mir. Denn wenn du es nicht wüßtest, dann könnte ich es auch nicht wissen. Und wenn du jetzt noch Zweifel hast: Du bist der Mann, den ich liebe, mehr als alles andere auf der Welt."

"Marine...", wisperte er bewegt. Manchmal verstand sie ihn besser als er selbst - so wie jetzt. Bisher hatte er das Problem seiner Identität noch nie auf diese Weise betrachtet. Er erinnerte sich an das quälende Gefühl, das ihn durch sein ganzes Leben begleitet hatte - nicht zu wissen, wer er eigentlich war. Es stimmte, Sydney hatte ihn großgezogen, und in gewissen Dingen war er ihm ähnlich. Aber es gab vieles, das einzigartig für ihn war, das nicht von anderen, sondern aus ihm selbst kam. In den letzten drei Jahren hatte er begonnen, sich selbst besser kennenzulernen. Ihm wurde klar, daß Marine tatsächlich recht hatte. Tief drinnen wußte er, wer er war.

Jarod schüttelte staunend den Kopf. Voller Wärme betrachtete er die Frau, die er liebte, mit der ihn mehr verband, als er jemals ausdrücken konnte.

"Ich habe keine Ahnung, wie du das machst", sagte er bewundernd, "aber du findest immer die richtigen Worte, um mich aufzumuntern."

Sie lächelte zärtlich, dann drückte sie ihn sanft nach hinten in sein Kissen. "Schlaf jetzt, Jarod", sagte sie leise. "Und hör auf zu grübeln."

Er grinste breit, als sie ihn schon wieder durchschaute. "Jawohl, Ma'am", erwiderte er mit einem leisen Lachen. Dann zog er sie an sich, schloß sie in seine Arme. "Ich liebe dich, Marine", sagte er ernst.

"Mhm, und ich liebe dich." Ihre Stimme klang bereits wieder schläfrig. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. Wenn es nach ihm ginge, dann würden sie von nun an jede Nacht so verbringen. Nun, vielleicht nicht ganz so, dachte er, lächelte bei diesem Gedanken, und schlief dann ein.



Technikraum
Das Centre
Blue Cove, Delaware
7:29


In den Korridoren des Centres herrschte bereits hektische Betriebsamkeit, als Miss Parker die Eingangshalle betrat. Niemand schenkte ihr große Beachtung, so daß sie ungestört den Technikraum erreichte. Broots war noch nicht da, aber Angelo saß vor einem der Computer und schien ganz versunken in seine Arbeit zu sein.

"Guten Morgen, Angelo", begrüßte ihn Miss Parker voller Wärme. "Warst du etwa die ganze Nacht hier oben?"

Erst jetzt drehte er sich zu ihr um.

"Angelo hat viel zu tun", erklärte er ernst, dann blitzte kurz sein scheues Lächeln auf. Sie ging zu ihm und strich ihm liebevoll über den Kopf.

"Du solltest eine Pause machen", schlug sie ihm vor. Angelo sah sie mit großen Augen an.

"Miss Parker ist sehr glücklich", sagte er. In seiner Stimme schwang ein zufriedener Tonfall mit. Miss Parker lächelte.

"Ja, das bin ich. Aber", fügte sie hinzu, "das ist ein Geheimnis. Niemand darf das wissen."

Angelo nickte. "Jarod ist ein Geheimnis. Miss Parkers Geheimnis."

"Jetzt ist er unser Geheimnis, Angelo", erwiderte sie sanft. Über seine Schulter warf sie einen Blick auf den Bildschirm, vor dem er saß. Offenbar beschäftigte er sich mit den Personaldateien. Gerade, als sie ihn fragen wollte, wie weit er schon gekommen war, hörte sie Schritte hinter sich. Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf Broots, der eben zur Tür hereinkam.

"Guten Morgen, Miss Parker. Hallo, Angelo."

"Broots, guten Morgen."

Sie musterte ihn. Er wirkte verschlafen, aber nicht ganz so nervös, wie sie erwartet hatte. "Haben Sie gut geschlafen?" erkundigte sie sich. Broots blinzelte überrascht, bevor er antwortete.

"Ähm, ja, nur nicht sehr viel. Es ist gestern abend ziemlich spät geworden."

Er ging an ihr vorbei und setzte sich neben Angelo.

"Wie weit sind Sie gekommen?" wollte Miss Parker wissen.

"Nun, wir stehen natürlich noch ganz am Anfang, aber wir haben schon einige Fortschritte gemacht", erklärte Broots in dem professionellen Tonfall, den er immer anschlug, wenn er über sein Fachgebiet sprach. "Das meiste liegt noch vor uns."

"Gab es irgendwelche Schwierigkeiten?"

Broots schüttelte den Kopf. "Nein. Das Programm, das Sie mir gegeben haben, arbeitet äußerst zuverlässig und hinterläßt so gut wie keine Spuren. So lange niemand weiß, wonach er suchen muß, sind wir sicher."

Miss Parker nickte zufrieden. "Bevor ich es vergesse... Es hat sich ein Freiwilliger gemeldet, der uns helfen möchte."

"Gegen zusätzliche Hilfe habe ich bestimmt nichts einzuwenden", versicherte Broots mit Nachdruck. "Wer ist es?"

"Jarod", sagte sie und lächelte amüsiert, als sie seinen überraschten Gesichtsausdruck sah. Sie zuckte mit den Schultern. "Er hat noch die eine oder andere Rechnung mit dem Centre zu begleichen."

"Aber... Wir haben die ganze Zeit versucht, ihn zurückzubringen!"

Miss Parker legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Diese Zeiten sind endgültig vorbei, Broots. Finden Sie sich damit ab. Außerdem hätte es jetzt kaum noch Sinn, ihn zu fangen, oder?"

Sie bedachte ihn mit einem aufmunternden Lächeln, dann ging sie zur Tür. Auf halbem Weg blieb sie noch einmal stehen. "Wenn Sie irgend etwas brauchen, lassen Sie es mich einfach wissen", sagte sie, dann verließ sie den Technikraum. Nur noch ein paar Wochen, und alles würde vorbei sein.



Fünf Wochen später
Praxis von Dr. Simmerson
Blue Cove, Delaware
08:49


Die Wände des Untersuchungszimmers strahlten in einem hellen Blau, das wohl beruhigend wirken sollte. Miss Parker fühlte sich alles andere als ruhig. Eine unerklärliche Unruhe hatte sie erfaßt, und irgendwo in ihr keimte eine bestimmte Ahnung. Sie weigerte sich, zu diesem Zeitpunkt auch nur darüber nachzudenken.

Dr. Simmerson war jetzt schon fast zehn Minuten fort. Ihre Unruhe wuchs. Seit beinahe drei Wochen fühlte sie sich... unwohl. Dafür gab es natürlich jede Menge Erklärungsmöglichkeiten. Und es wäre nicht das erste Mal, das ihre Periode überfällig war...

Die Tür ging auf, und Dr. Simmerson kehrte zurück. Er war ein älterer Mann, der eine beruhigende Mischung aus Fürsorge und Freundlichkeit ausstrahlte. Sein gutmütiges Gesicht wirkte für gewöhnlich sehr offen, aber im Moment fiel es Miss Parker schwer, den Ausdruck darauf zu deuten. Dr. Simmerson ging zu seinem Schreibtisch, setzte sich dahinter und schlug die Akte mit Miss Parkers Untersuchungsergebnissen auf. Miss Parker sah ihn besorgt an. Normalerweise gab er sich nicht so geheimnisvoll.

Schließlich sah er auf. Seine braunen Augen leuchteten freundlich, als er ihr endlich das Ergebnis der Untersuchung mitteilte.

"Herzlichen Glückwunsch, Miss Parker", verkündete er strahlend. "Sie sind schwanger."

Sie ließ ihren Atem entweichen. Ihr war überhaupt nicht bewußt gewesen, daß sie ihn angehalten hatte. Schwanger.

"Schwanger?" wiederholte sie laut.

"Ja. Daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen. Sie sind in der fünften Woche."

Miss Parker starrte ihn ungläubig an. Es war keineswegs so, daß sie es nicht schon selbst vermutet hatte, aber die Gewißheit war etwas ganz anderes. Sie erwartete ein Kind. Ihr Kind. Jarods Kind. Als sie nichts sagte, fuhr Dr. Simmerson fort. "Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, aber bisher sieht alles hervorragend aus."

Erst jetzt nahm sie ihn wieder bewußt wahr.

"Ist das Kind gesund?" erkundigte sie sich.

"Ja, das ist es", versicherte ihr der Arzt lächelnd. Als er ihr Zögern bemerkte, wurde er ernst und beugte sich ein wenig nach vorn. "Eine solche Nachricht ist für viele meiner Patientinnen ein ziemlicher Schock. Sie wissen natürlich, daß es jetzt verschiedene Möglichkeiten für Sie gibt..."

Sie sah ihn überrascht an.

"Dieses Kind ist nicht unerwünscht", erklärte sie mit Nachdruck. "Es ist nur unerwartet, das ist alles." Ihr Blick glitt zu ihrem flachen Bauch, der noch keinerlei Anzeichen einer Schwangerschaft aufwies. Vorsichtig legte sie eine Hand darüber. Schwanger. Miss Parker versuchte, sich Jarods Reaktion vorzustellen. Ein Kind bedeutete eine so große Verantwortung, und bisher hatten sie nicht einmal über die Möglichkeit gesprochen. Vielleicht wollte er gar keine Kinder...

"Möchten Sie das Geschlecht wissen?" unterbrach Dr. Simmerson ihren Gedankengang.

"Ist das jetzt schon möglich?" fragte sie erstaunt. Dr. Simmersons Lächeln kehrte zurück.

"Nun, nicht sofort, aber wenn Sie es möchten, kann ich es Ihnen in ein paar Tagen sagen."

Miss Parker nickte geistesabwesend. "Ja, gut."

Ein völlig neues Gefühl breitete sich in ihr aus. Ihre Gedanken galten ganz allein dem neuen Leben, von dem sie jetzt wußte, daß es in ihr heranwuchs. Ein Kind. Liebe zu ihrem Kind durchströmte sie, erfüllte sie mit Glück und Freude. Sie sah auf und begegnete dem Blick ihres Arztes.

"Danke, Dr. Simmerson. Vielen Dank."

"Aber wofür denn, Miss Parker?" entgegnete er warm. "Lassen Sie uns gleich einen Termin für nächste Woche vereinbaren."

"In Ordnung."

Miss Parker stand auf. Dr. Simmerson erhob sich ebenfalls.

"Passen Sie gut auf sich auf, Miss Parker", sagte er zum Abschied.

"Das werde ich", erwiderte sie. Ich werde immer auf dich aufpassen, versprach sie ihrem ungeborenen Kind.



Auf dem Nachhauseweg kreisten ihre Gedanken unaufhörlich um Jarod. Unsicherheit erfüllte sie. Wie würde er reagieren? Sie wußte, daß er sie liebte. Aber bisher hatten sie eine Beziehung ohne jede Verpflichtung geführt. Natürlich hatten sie hin und wieder über die Zukunft gesprochen, aber dabei war es vor allem um das Centre gegangen und nie darum, eine Familie zu gründen.

Vielleicht würde er dieses Kind als einen Versuch von ihr betrachten, ihn an sich zu binden. Was, wenn er sie jetzt als eine Belastung empfand? Dieser Gedanke war unerträglich, und sie versuchte ihn zu verdrängen, aber er blieb hartnäckig am Rande ihrer Aufmerksamkeit.

Langsam reifte ein Entschluß in ihr. Sie würde Jarod nichts von ihrer Schwangerschaft sagen - zunächst, bis sie Gelegenheit gehabt hatte, herauszufinden, was er darüber dachte.

Etwas in ihr flüsterte, daß sie sich albern verhielt, daß es überhaupt keinen Grund gab, sich vor seiner Reaktion zu fürchten. Aber ihre Unruhe verhinderte, daß sie auf die Stimme ihrer Vernunft hörte.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
9:25


Miss Parker schloß die Haustür auf. Noch bevor sie ihr Haus betreten hatte, hörte sie Jarods Stimme.

"Marine?" Er klang überrascht. Sie ging ins Wohnzimmer und fand ihn dort vor seinem Laptop, beschäftigt mit der Lösung eines Problems, um die ihn Broots gebeten hatte. Jarod sah zu ihr auf.

"Hast du etwas vergessen?" erkundigte er sich, nur den Hauch von Belustigung in seinem Blick.

"Nein, ich..." Miss Parker spürte, wie ihr Entschluß ins Wanken geriet. Sie wollte es ihm sagen - aber sie traute sich nicht. Für einen kurzen Moment flackerte Panik in ihr auf, aber sie unterdrückte diese Regung sofort und zwang sich zu einem Lächeln. Mit etwas Glück war es gut genug, um ihn zu täuschen. "Weißt du, auf dem Weg zur Arbeit habe ich über Angelo nachgedacht", antwortete sie ausweichend.

Er sah sie aufmerksam an, schien aber nicht mißtrauisch zu sein.

"Ich glaube, es macht ihm Spaß, uns zu helfen", sagte er. Miss Parker nickte.

"Das macht es bestimmt, aber... ich habe über seine Zukunft nachgedacht." Verdammt, wieso war sie überhaupt nach Hause gefahren? Sie hätte direkt an die Arbeit fahren sollen. Allerdings belog sie Jarod nicht. In den letzten Wochen hatte sie sich wirklich einige Gedanken über Angelo gemacht. "Ich meine, was soll aus ihm werden, wenn das Centre zusammenbricht? Dort kann er nicht mehr bleiben."

Jarod nickte nachdenklich. "Ja, du hast recht. Ich habe auch schon darüber nachgedacht. Hattest du etwas Bestimmtes im Sinn?"

"Ich dachte, du könntest vielleicht nach einer Unterbringungsmöglichkeit für ihn suchen. Ich würde es ja selbst tun, aber gerade im Moment kann ich nicht für längere Zeit aus dem Centre verschwinden."

"Du weißt doch, daß du auf mich zählen kannst", erwiderte Jarod. Er stand auf und kam zu ihr. Sanft zog er sie in seine Arme. "Wenn ich dir und Angelo damit helfen kann, tue ich es gerne", versicherte er ihr. Sie lehnte sich an ihn, schöpfte Kraft aus seiner Nähe. Jarod schob sie ein wenig von sich fort und musterte sie besorgt.

"Hey, was ist denn?" erkundigte er sich, während er sanft eine Hand unter ihr Kinn legte. "Ist alles in Ordnung mit dir?"

Miss Parker schloß kurz die Augen, dann nickte sie.

"Ich hatte in den letzten Tagen nur ein bißchen viel um die Ohren, das ist alles", sagte sie leise. "Wirklich, Jarod, es geht mir gut."

"Hm, na gut. Wie wär's, wenn ich dich heute abend ein wenig verwöhne? Morgen kann ich dann anfangen, mich nach etwas Geeignetem für Angelo umzusehen."

"Das klingt wirklich gut", antwortete Miss Parker. "Abgesehen von dem Teil, wo du fortgehst, natürlich."

Er lachte leise. "Ich bin so schnell wie möglich wieder bei dir", versprach er. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und küßte ihn.

"Ich nehme dich beim Wort", ließ sie ihn wissen.

 

 

 

Zu Teil 2.2