Notiz der Autorin: Ein Riesendankeschön an alle Leute, die mit ihren Kommentaren zu diesem kleinen Stück beigetragen haben. Ach, und bevor irgendjemand auf die Idee kommt zu fragen: Das an einer Textstelle erwähnte Zitat entstammt dem Roman " Miss Smilla’s Feeling for Snow" von Peter Hoeg.
DUNKLE PFADE
von Bimo
Er liegt auf der Couch, nackt, bis auf ein Paar Boxershorts, denn die Nacht ist warm. Mit geschlossenen Augen lauscht er Stimme aus dem Fernseher, die viel zu schnell und mit aufgesetzten Enthusiasmus die unzähligen Vorzüge des Roddy O’Neill Küchenmesser-Sets zu nur $78.99 anpreist.
Da! Jeden Augenblick müßte sie wieder kommen, seine "Lieblingspassage". Die Stelle, an der der Moderator einen von der Requisite bereitgestellten, ausgelatschten Lederschuh die Hand nimmt und ihn mit dem Messer kurzerhand in zwei saubere Hälften zerteilt. "Und ist es nicht wundervoll, liebes Publikum? Unser titangehärtetes Steakmesser mit dem unglaublichen Roddy O’ Neill Spezialschliff! Es ist so scharf, es scheidet sogar durch diesen Schuh hindurch, als wäre er aus Butter! Und was sagen wir dazu, Leute? Ist das nicht wundervoll? Ist das nicht großartig? Ist das nicht absolut phantastisch?" Seine Stimme überschlägt sich vor Begeisterung. Strahlend hält er die beiden Schuhhälften in die Kamera. Das Publikum klatscht. Zoom auf die Schnittkanten, dann auf das Gesicht des Moderators. Seine Augen glühen fiebrig, wie auf dem Höhepunkt religiöser Ekstase.
Mulder braucht nicht auf den Fernsehschirm zu blicken, um das Bild dieses Mannes bis ins letzte Detail vor sich zu sehen. Der Spot ist an diesem Abend schon so oft gelaufen, dass er ihn voll und ganz verinnerlicht hat. Jede Szene, jeder Dialogsatz, jeder noch so minimale Kameraschwenk hat sich so tief in sein Unterbewusstsein gebrannt, dass er zu spüren scheint, welche Sequenz als nächstes kommt. So, wie man bei einer oft gespielten Musikkassette den nächsten Song bereits zu hören glaubt, noch bevor der alte überhaupt verklungen ist.
Vielleicht sind diese endlosen Wiederhohlungsschleifen das Beste am ganzen Nachtprogramm. Sie erfüllen die Seele mit trügerischer Sicherheit. Lullen ein, betäubten. Stillen den Schmerz des vergangenen Tages und die unterschwellige Furcht vor dem, was Morgen sein wird. Der Fernseher ist dein Freund, hilft dir , endlich den ersehnten Schlaf zu finden, zuverlässiger und nebenwirkungsfreier als die ärztlich empfohlene Dosis Valium. Meistens jedenfalls...
Die Gründe, warum es heute Nacht anders ist, liegen auf der Hand:
Zu heiß. Zu laut. Zu stickig. Außerdem war der vorangegangene Tag viel zu schlecht gewesen, um ihn so einfach beiseite schieben zu können.Zwar bemüht er sich, die Gedanken an seinen aktuellen Fall zu unterdrücken, die Erinnerung an jene aufgequollene Frauenleiche, welche die Feuerwehr heute morgen aus dem kleinen See im Stadtpark fischte. Doch sein oh so beneidenswert hervorragendes Gedächtnis ist unerbittlich. Ohne daß er etwas dagegen tun kann, lässt es die Bilder in ihm aufsteigen, photographisch exakt bis ins kleinste Detail. Bitter und schwarz wie Brackwasser vertreiben sie jenes kleine Quentchen Müdigkeit, welches er sich doch so hart erkämpft hatte. Still und regungslos liegt er da, lässt die Welle aus Adrenalin und diffuser Übelkeit über seinen Körper hinwegtosen. Solange, bis sie von selbst verebbt und sein Herzschlag zu einem langsameren Rhythmus zurück findet.
Wie um Gottes Namen schafft Scully es, mit solchen Anblicken fertig zu werden? Sie, die unermüdliche Pathologin, die Toten nicht nur ansehen muß, bis sich endlich der gnädige Reißverschluß des Leichensackes über ihren Gesichtern schließt. Gesichtern, die oftmals so furchtbar entstellt sind, dass kein denkendes, fühlendes Wesen jemals die treffenden Worte finden sollte, um sie zu beschreiben.
Es ist Scully, die diese sorgsam eingetüteten Köper aus ihrem trügerischen Frieden im Kühlfach in der Leichenhalle herausholen lässt. Scully, die nicht nur ihr Aussehen wahrnimmt, sondern auch ihren Geruch. Scully, die schließlich das Skalpell in ihre kleinen, kraftvollen Hände nimmt, die Toten aufschlitzt und in ihren Eingeweiden herumwühlt. Bis zu den Oberarmen beschmiert mit erkaltetem Blut...
Das wummernde Pochen in seinem Magen wird unerträglich. Er versucht zu schlucken, doch er kann es nicht. Mund und Hals sind so sandig und ausgetrocknet wie übriggebliebenes Weihnachtsgebäck im Februar, also tastet er mit seiner linken nach der Evian - Flasche, die sich auf dem Boden neben seiner Couch befindet.
Leer.
Er erhebt sich, wankt unsicheren Schrittes ins Badezimmer. Beinahe erschrickt er, als er bemerkt, wie kalkartig weiß seine Gesichtzüge im kühlen Licht der Neonlampe über dem Waschbeckenspiegel erscheinen. Die dunklen Schatten unter seinen Augen beachtet er erst gar nicht.
Reflexhaft greift er nach dem Zahnputzglas, füllt es mit Wasser. Mulders erste Schlucke sind gierig und überhastet, doch dann, als er bemerkt, wie angenehm der klare, saubere Geschmack sich in seiner Mundhöhle anfühlt, wie gut er ihm tut, nimmt er sich Zeit. Gurgelt, schmeckt, lässt jeden einzelnen Schluck langsam und kontrolliert die Kehle herabrinnen, als handele es sich nicht um schlichtes Leitungswasser sondern noblen, französischen Rotwein.
Als er fertig ist, fühlt er sich so wach, wirklich wach, dass jeder Versuch, sich wieder hinzulegen und zumindest in den wenigen kostbaren Stunden bis zum Morgengrauen den bitter benötigten Schlaf zu finden, ihm wie blanke Verhöhnung erscheint, denn sein Köper ist viel zu aufgeladen dafür. Berstend vor jener falschen, überschüssigen Energie, die nicht unterdrückt werden kann. Nur abgebaut durch irgendeine Form von physischer Aktivität, sei diese auch noch so sinnlos. Er tut daher das einzige das ihm vernünftig erscheint, streift sich ein T-Shirt über, seine Jeans und Schuhe, verlässt die Wohnung.
Sanft und warm umstreicht die Washingtoner Nachtluft seine nackten Arme, ein mildes, angenehmes Echo der drückenden Schwüle des vorangegangenen Tages. Der diesige Wolkenschleier über der Stadt hält die Hitze fest, verhindert, dass sie in den Raum entweichen kann, doch noch ist dieser Schleier zu leicht und fein um den erlösenden Regen zu verheißen. Ein oder zwei Nächte noch, bis die ersten Tropfen fallen werden. Das letzte große Sommergewitter und Vorbote des nahenden Herbstes.
Mulder bewegt sich durch das gelblich-trübe Zwielicht der von Laternen erhellten Straßenzüge mit traumwandlerischer Sicherheit, ganz so, als wäre er wäre er ein Teil davon. Frei, losgelöst lässt er sich einfach treiben. Unbelastet von jener seltsamen, erdrückenden Angst, die sich in der Dunkelheit wie ein schweres Tau um Hals und Brustkorb zieht, wenn man allein auf sich gestellt ist. Wenn jeder Schatten, jedes noch so kleine Geräusch ins Unermessliche wächst, anschwillt zum bedrohlich-verlockenden Konzert.
Natürlich weiß er, irgendwo versteckt in seinem Unterbewusstsein um die Leichtsinnigkeit dieses Verhaltens. Ahnt, dass wenn er sich um diese Zeit schon im Freien aufhalten muss, es unendlich viel klüger wäre, dies wenigstens in einer belebteren Gegend zu tun. An irgendeinem Ort, an dem anonyme Nachtgestalten sich durch die ihre bloße Vielzahl den gleiche Art von fragwürdigem Schutz geben, wie Hunderte winziger, zerbrechlicher Neonfischchen in einem riesigen Schwarm. Je höher die Anzahl der potentiellen Opfer, desto größer auch die Wahrscheinlichkeit, dass es jemand anderen trifft.
So ist er nicht weiter verwundert, als er bemerkt, wie sein Instinkt ihn immer näher in Richtung Zentrum treibt. Hin zu jenen Straßen, in denen sich ein Club an den anderen reiht und eine üble Bar an die nächste.
Mulder hat das Appartement nicht unvorbereitet verlassen, in seiner Hosentasche befindet sich nicht nur sein Schlüsselbund, sondern auch ein kleines, dunkles Lederportemonnaie, gefüllt mit ein paar Dollarnoten. Unschlüssig starrt er einige Sekunden lang auf die mit Stecknadeln auf feuchtglänzenden, roten Samt gepinnten Reklamephotos im Aushangskasten eines ansässigen Kinos, nur um sich im letzten Augenblick dagegen zu entscheiden. Er mag seine Filmchen lieber auf dem kleinen Schirm. Alleine auf seiner Couch, oder im Büro, spät Abends wenn Scully längst nach Hause gefahren ist, oder Überstunden in der Pathologie schiebt. Im Prinzip sind Brüste und Schenkel für ihn nicht anders als die Verkaufsshows aus dem Teleshopping-Kanal. Genau wie die Spots wiederholen diese Videos sich ständig, folgen einer exakt festgelegten Dramaturgie aus kurzem Vorspiel und immer stärkerem Anheizen bis zu den Gipfeln ekstatischer Verzückung, dem Höhepunkt des Aktes.
Auch wenn er es sich eigentlich nicht eingestehen möchte, er braucht diese Rituale. Braucht Bilder und Geräusche wie ein kleiner Junge, der vor dem Einschlafen immer und immer wieder von seiner Mutter ein und dasselbe Märchen erzählt haben will, auch wenn er den gesamten Text längst auswendig mitsprechen kann. Und in jeder einzelnen Minute ist ihm dabei vollkommen klar, was für ein emotionales Armutszeugnis es in den Augen anderer Menschen bedeuten muß, dass er, Fox William Mulder, in seinem Leben den warmen Klang einer realen, weiblichen Stimme ersetzt hat durch einen Fernseher.
Er wirft den fleischgewordenen, silikonverstärkten Männerphantasien des Aushangkastens noch einen kurzen, wehmütigen Blick zu, dann wendet er sich ab, will weiter. Die hochgewachsene, dunkle Frauengestalt, die einige Schritte von ihm entfernt im Schatten eines Hausseinganges steht, bemerkt er erst in der Sekunde des Umdrehens.
"Und für einen Moment habe ich doch geglaubt, dass Du da tatsächlich hinein wolltest."
Ihre Stimme ist kühles Schnurren. Ironisch, tief, überlegen. Eine Aufforderung zum Spielen.
"Dabei wirkst Du gar nicht so, als ob Du so etwas nötig hättest. Nicht bei Deinem Aussehen, mein Junge. Keine hübsche Freundin, ein niedliches kleines Frauchen, das zu Hause sehnsüchtig auf Dich wartet? Oder vielleicht ein netter One Night Stand?"
Mit einem eleganten, katzenhaften Schritt tritt sie aus dem Schatten des Hauseinganges. Sie scheint mondäne Auftritte gewöhnt zu sein. Als das bläuliche Licht der Neonreklamen auf sie fällt, so dass Mulder die Einzelheiten von Gesicht und Körper besser erkennen kann, kommen ihm unwillkürlich einige Worte aus einem Buch in den Sinn, das er vor längerer Zeit einmal gelesen hat: An Elfmaiden turned Stripper.
Sehr schlank und grazil, mit klaren, präzise definierten Gesichtsknochen. Große, weit auseinander stehende Augen, Farbe vermutlich dunkelblau, soweit sich so etwas bei den herrschenden Lichtverhältnissen überhaupt beurteilen lässt. Die helle, makellose Haut, einer Porzellanfigur gleich. Dennoch hat ihre Ausstrahlung nichts zerbrechliches, beschützenswertes an sich. Dazu ist ihr Auftreten viel zu kalt, zu souverän. Hochmütig.
Sie tritt auf ihn zu, jeder einzelne Schritt ihrer Stilettos ein leises, hallendes Knacken auf dem grauen Beton des Bürgersteigs. Mit geneigtem Kopf mustert sie ihn abwägend von oben bis unten, kommt ihm dabei so nahe, dass er glaubt, den Geruch ihres Parfüms wahrzunehmen. Der Duft ist seltsam erdig und trocken. Subtil, vielschichtig. Mit Sicherheit kein billiger Fusel aus dem Versandhauskatalog.
Dann ein dunkles, spottendes Lachen. Sie weicht zurück. " Du bist hübsch. Schade, dass Du nicht so aussiehst, als ob Du dir eine Nacht mit mir leisten könntest. Mein heutiger Kunde ist im allerletzten Moment abgesprungen. Kalte Füße. Eine von diesen ängstlichen, kleinkarierten Manager-Pfeifen." Sie zögert einen kurzen Augenblick. Lächelt. Dieses Mal jedoch aufrichtiger. "Entschuldige meine Neugier, es wird dir seltsam vorkommen, dass ich frage, aber darf man erfahren, was Du beruflich machst?"
Mulder überlegt was er ihr darauf antworten soll, entscheidet sich dann aber dafür, bei der Wahrheit zu bleiben. Sie verzieht das Gesicht zu einer Grimasse gespielten Ekels, scheint jedoch keineswegs überrascht zu sein. "Aha. FBI also."
"Du hast so etwas geahnt, oder?"
"Hhm, fast. Sagen wir einfach, ich habe einen besonderen Blick für verlorene Pfadfinderseelen." Für die Dauer eines einzigen Atemzugs gewinnen ihre unnahbaren Elfenaugen an Wärme. "Ich bin hocherfreut, Dich kennen zu lernen, mein tapferer Special Agent."
Wieder legt sie den Kopf schräg, streicht sich mit ihren langen, schlanken Fingern eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. Bei dem Gedanken daran, dass auch er es hätte sein können, der diese seidig schwarze Locke aus ihrem Gesicht streicht, durchfährt ihn ein elektrisierender Schauer. Jede einzelne Faser seines Verstandes schreit ihm zu, wie verkehrt es ist auf dieses Spielchen einzugehen, dennoch kann er nicht anders, als sich darauf einzulassen.
"Warum tust du das?"
"Dich antörnen? Weil es mir Spaß macht."
"Das meinte ich nicht."
"Was dann? Doch nicht etwa, warum ich mir diesen Job antue, oder? Na komm schon, mein Kleiner. Du bist nicht mehr naiv genug, um die Antwort darauf nicht selber zu kennen. Macht, Geldgier, die unheimliche Befriedigung, dass andere Menschen so besessen von dir sind, dass sie sich allein deinetwegen sehenden Auges ins Verderben stürzen. Soll ich noch weitere Gründe aufzählen?"
Dieses Mal ist es an Mulder, zu lachen. Ein trockenes, bitter-fremdartiges Geräusch welches ihm auf halbem Wege in der Kehle stecken zu bleiben scheint.
"Gib es zu, Du stehst auf Frauen, die dir wehtun, oder? Sonst hätte ich doch gar nicht diese Wirkung auf dich."
Kurz denkt er an Phoebe. An Diana. Nickt.
"Autsch, da habe ich wohl aus Versehen meinen Finger genau in die Wunde gelegt. Mein aufrichtiges Beileid."
"Sieht man mir das so stark an?"
"Nicht unbedingt, höchstens in deinen Augen. Aber mit euch verdammten Pfadfindern ist es immer das Gleiche."
"Aufrechte Pfadfinder sind dein heimliches Hobby, oder?"
Treffer.
Die Fassade bröckelt, in ihre Wangen steigt ein leiser Hauch verlegener, beinahe schulmädchenhafter Röte. "Wählen wir nicht alle dann und wann haargenau diejenigen Menschen oder Dinge für uns aus, die am wenigsten gut für uns sind, nur um uns zu quälen?"
Sie geht auf ihn zu, kommt ihm so nahe, dass er ihren Duft dieses Mal in seiner Gänze wahrnehmen kann, den süßen Hauch ihres Atems. Als sie sein Gesicht in beide Hände nimmt und ihm einen zarten, fast schwesterlich anmutenden Kuss auf die Wange gibt, flattert sein Herz, als wäre es nicht aus einfachem Muskelgewebe, sondern ein aufs heftigste mit den Flügeln schlagender, in seinem Brustkorb eingesperrter Kolibri.
"Sieh zu, dass Hexen wie ich nicht zur dauerhaften Angewohnheit werden. Du bist zu hübsch und zu nett um das deiner Seele auf Dauer anzutun."
Sie wendet sich ab, und bevor er irgendetwas auf ihre Worte erwidern kann, macht sie auf dem Absatz kehrt, und taucht unter in die gleiche Dunkelheit, aus der sie gekommen ist.
Das einzige, das ihm von ihr bleibt, ist der Geruch ihres Parfums, das leise Klacken sich immer weiter von ihm entfernender Stiletto-Schritte auf nacktem Beton. Mulder sieht ihrem Schatten nach, solange bis dieser gänzlich hinter dem nächsten Häuservorsprung verschunden ist. Dann verlässt auch er den Ort dieser seltsamen Begegnung. Ziellos streift er weiter durch die Straßen. Er hält erst inne, als der Himmel im Osten bereits erhellt wird von ersten Sonnestrahlen des kommenden Tages.