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Disclaimer:

Zunächst einmal: Die Charaktere Mulder, Scully und Skinner gehören FOX und wer auch immer sonst noch eine rechtliche Beteiligung an den X-files hat.
Alles andere ist meiner Phantasie entsprungen und trägt daher meinen Copyright-Stempel. Kommerzielle Interessen werden nicht verfolgt, die Story soll einzig und allein unterhalten.
An dieser Stelle ein großes Dankeschön an Tina, ohne deren Unterstützung diese Story mit Sicherheit viel später fertig geworden wäre!
Zeitlich nur soviel: Das Büro ist noch nicht den Flammen zum Opfer gefallen.
Verschwörungen gibt es nicht, ebenso wenig ist es eine Shipper-Story geworden, obwohl es shipperfreundliche Szenen gibt.
So, allen, die ich bis jetzt noch nicht abgeschreckt habe, wünsche ich viel Spaß beim Lesen!

Feedback erwünscht unter hpolster@stud.uni-frankfurt.de oder tenara@hotmail.com

 

Carpe diem

von Tenara

 

Caluna, Nevada 07:00 Uhr morgens

Eigentlich war ihr dieser Montagmorgen zuwider, wie all die anderen Montagmorgende, die sie in den letzten 28 Jahren erlebt hatte. Sie haßte es schlichtweg, sich nach einem mehr oder weniger ereignisreichen Wochenende mühsam aus dem Bett zu quälen. Andererseits teilte sie diese Aversion vermutlich mit der Mehrheit ihrer Mitmenschen. Aber wen interessierten schon die anderen, wenn der eigenen Wecker dafür sorgte, daß man aufrecht im Bett saß und Sätze wie: ‘nein, die Nacht kann unmöglich so kurz gewesen sein!’ durch das ansonsten ziemlich träge Gehirn schossen.
Aber heute morgen war es irgendwie anders. Sie hatte das Gefühl, daß heute noch etwas passieren würde. Und alleine diese irrationale Aussicht trug dazu bei, daß sie sich ausnahmsweise irgendwie besser fühlte.
Während sie sich so den Weg zu dem Bürogebäude bahnte, das ihr Leben seit nunmehr fast 6 Jahren bestimmte, fiel ihr Blick auf die ersten Strahlen der Sonne, die am Horizont zu sehen waren.
Was war nur aus ihr geworden? All die Träume, die sie im College gehabt hatte, ihre Pläne, in die große weite Welt zu reisen. Niemals träge zu werden, das war ihr großer Vorsatz gewesen. Was in aller Welt war passiert? Sie lebte von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, ohne, daß es wirklich einen Unterschied zwischen einem Jahr und dem nächsten gab. Sie hatte keine Ziele mehr in ihrem Leben und das schon seit geraumer Zeit. Und das schlimmste daran war, daß sie diese Tatsache mit geduldiger Gleichgültigkeit ertrug. Tag für Tag, Jahr für Jahr.
Und selbst an Tagen wie diesem, an denen sich diese Erkenntnis in ihrem Bewußtsein ausbreitete, war sie mehr damit beschäftigt, die aufkommende Frustration niederzukämpfen, als etwas gegen die Ursachen zu unternehmen.
Energisch rief sie sich innerlich zur Ordnung, während vor ihr bereits das mehrstöckige Bürogebäude auftauchte, in dem sie die nächsten Stunden des Tages verbringen würde.
Plötzlich fiel ihr Blick auf etwas glänzendes, das vor ihr auf dem Gehsteig kurz aufblitzte. Erfreut über die willkommene Ablenkung, warf sie einen Blick auf die Stelle, an der sie den Lichtreflex gesehen hatte. Was sie dort fand, war eine Münze. Keine Währung, die sie auf den ersten Blick erkannte, aber dafür war das Metallstück so glatt poliert, daß es fast von sich aus zu strahlen schien. Das Lichtspiel, das durch die ersten Sonnenstrahlen verursacht wurde, verlieh der Münze einen wunderschönen goldenen Glanz. Lächelnd griff sie zu Boden und hob das schimmernde Geldstück auf. Ein Glücksbringer. Das war doch mal etwas erfreuliches. Interessiert betrachtete sie das Metall in ihrer Hand genauer.
Es handelte sich in der Tat um keine ihr bekannte Währung. Was sie allerdings wirklich verwunderte, war, daß die Münze keinerlei Zahlen aufwies. Abgesehen von zwei Worten, die in der Mitte des Metallstückes prankten, gab es keine weiteren Hinweise auf seine Herkunft. Keine Werteinheiten, keine Währungssymbole, keine grafischen Verschönerungen. Nur die lateinischen Worte "carpe diem" - ‘genieße den Tag’ waren auf der Oberseite zu erkennen. Neugierig drehte sie die Münze in ihrer Handfläche, in der Hoffnung, daß die Rückseite ihr Aufschluß geben könnte. Aber hier wurde sie noch mehr enttäuscht. Konnte sie in ihrer laienhaften Einschätzung bei der Vorderseite immerhin sagen, daß die Münze vermutlich aus Gold bestand, sah die Rückseite hingegen aus, als gehörte sie nicht zu dem gleichen Stück Metall, so wenig glichen die beiden Seiten sich. Statt goldenem Glanz und einer nahezu glatten Oberfläche, sah sie eine rauhe, grau-grünliche Metallfläche, die ziemlich verwittert aussah. Soweit sie es erkennen konnte, war auch hier ein Text in der Mitte zu sehen, aber abgesehen davon, daß es sich vermutlich um zwei Worte handelte, war es ihr nicht möglich, auch nur einzelne Buchstaben der Inschrift auszumachen.
Kopfschüttelnd kam sie zu dem Schluß, daß es sich bei der seltsamen Münze um eine Sonderprägung oder etwas dergleichen handeln mußte. Jedenfalls wäre das Stück bestimmt einiges Wert gewesen, wäre da nicht die Rückseite gewesen. Ein mißmutiges Lächeln zog über ihr Gesicht. Das wäre ja auch zu schön gewesen, wenn mal etwas ganz funktioniert hätte in ihrem Leben.
Seufzend schob sie die Münze in ihre Jackentasche. Den Gedanken, sie wieder wegzuwerfen, schob sie sofort wieder beiseite. Irgendwie hatte sie das absurde Gefühl, der Münze etwas schuldig zu sein. Alleine deshalb, weil sie wenigstens für einen kurzen Augenblick etwas Zerstreuung in ihr Leben gebracht hatte...
So lief sie weiter die Straße entlang, aber anstatt wie sonst völlig lustlos die große Drehtür des Bankgebäudes anzusteuern, in dem sie arbeitete, brannte sie jetzt geradezu darauf, möglichst schnell in das Gebäude zu kommen. Nachdem sie fast mit einer Frau zusammengestoßen wäre, die ebenfalls die Drehtür betreten wollte, stürmte sie auf den Aufzug zu, der sie in den 8. Stock, und damit zu ihrem Arbeitsplatz brachte.
Eigentlich haßte sie ja Großraumbüros. Null Privatsphäre. Sobald man etwas tat, bekam es jeder der 150 anderen Angestellten auf dieser Etage mit, wenn er nur wollte. Sicher, es hatte auch etwas für sich, die Telefonate und Gespräche der anderen aufzuschnappen, aber alles in allem überwogen doch die Nachteile. Man konnte sich kaum eine ruhige Minute gönnen, immer wurde man beobachtet und an wirklich interessante Privatgespräche war nicht zu denken. Andererseits, wen wollte sie schon groß anrufen.
Aber heute war alles anders. Sie spürte eine Energie in sich, wie sie sie schon lange nicht mehr gefühlt hatte. Sie war bereit, Bäume auszureißen. Freundlich grüßte sie diesen Kollegen und jene Kollegin, bis sie sich zu ihrem Arbeitsplatz durchgekämpft hatte. Umzingelt von drei Stellwänden und einem Fenster stand er schließlich vor ihr: ihr Schreibtisch und ihr PC. Sie lies sich mit einem Plumps in ihren Stuhl fallen und pfiff leise eine Melodie vor sich hin.
Plötzlich stutzte sie. Sie hatte eben tatsächlich gepfiffen. Das hatte sie schon seit Jahren nicht mehr getan. Heute war wirklich alles sehr merkwürdig.
Aber ihre urplötzlich aufgetauchte gute Laune war durch nichts mehr zu bremsen. Im Gegenteil, sie genoß ihre Unbeschwertheit von Minute zu Minute mehr.
Sie sollte endlich einmal anfangen, an sich zu denken. Wenn ihr nach Pfeifen zumute war, gut. Dann würde sie pfeifen bis sie aus Sauerstoffmangel zu Boden ging.
Und überhaupt. Diese ganzen Spießer um sie herum, einer wie der andere. Sie arbeitete in einem Unternehmen gemeinsam mit lauter kleinen Klonen. Alle waren sie gleich angezogen, hatten das gleiche freundliche, aber starre Lächeln auf dem Gesicht und taten tagein tagaus das gleiche. Wie sie. Aber das war jetzt vorbei. Sie wollte Spaß. Und am besten wäre es, wenn sie das mit einem freien Tag verbinden konnte. Genau danach stand ihr in diesem Moment der Sinn.
Sie würde diesen Laden jetzt mal gründlich aufmischen. Sie erhob sich und spähte sorgsam über die umliegenden Stellwände. Keiner in Sicht, das war genau der richtige Zeitpunkt. Mit einem hintergründigen Lächeln griff sie zum Telefonhörer und wählte die Nummer des Notrufs. "Mein Name tut nichts zur Sache. Ich habe im Gebäude der ‘Isle of Trust’-Bank eine Bombe versteckt. Sie wird in genau 30 Minuten detonieren. Nieder mit den Kapitalisten!" Mit diesen Worten legte sie auf und lehnte sich zufrieden in ihrem Stuhl zurück.
Ihr Herz schlug in freudiger Erwartung des Chaos`, das sie mit ihrer Aktion hervorrufen würde. Und die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Innerhalb der nächsten Viertelstunde heulten zahlreiche Sirenen auf, tauchten unzählige Einsatzfahrzeuge mit Blaulichtern auf und gleichzeitig erging die Weisung, das Gebäude umgehend zu evakuieren.
Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Also verließ sie gemeinsam mit der hektisch plaudernden Gruppe ihrer Kollegen das Gebäude. Im Gegensatz zu den anderen Menschen in ihrer Umgebung verspürte sie jedoch ein geradezu erhebendes Gefühl der Freude.
Zu einem gewissen Teil war es unverkennbar Schadenfreude und Genugtuung darüber, soviel Unruhe gestiftet zu haben. Ihrem Arbeitgeber Stunden von ausgefallener Arbeit zu bescheren. Und natürlich den Tagesablauf ihrer ach so netten Kollegen gründlich durcheinander gewirbelt zu haben. Nicht, daß sich einer von denen mal über einen zusätzlichen freien Tag gefreut hätte. Dazu waren die viel zu verbohrt. Aber ein weitaus größerer Teil ihrer guten Stimmung ließ sich am besten als Lebensfreude beschreiben.
Sie war wieder lebendig, aufgewacht aus einem tiefen, tiefen todesähnlichen Winterschlaf, der sie jahrelang umklammert gehalten hatte. Sie spürte, wie das Adrenalin durch ihren Körper pumpte und sie vor innerer Erregung schier zu bersten schien.
Und dann war da noch etwas weitaus Stärkeres.
Wie im Rausch nahm sie alles um sich herum hundertfach verstärkt war. Die Geräusche waren eine süße Musik, die Menschen, die sie umgaben, waren bunte Gestalten, die glücklich lachten und tanzten. Alles um sie herum schien im Einklang mit sich selbst zu sein. Ein Gefühl nie gekannter Harmonie und Ruhe durchströmte sie, während ihr Puls gleichzeitig immer schneller zu schlagen schien. Sie war eins mit der Welt und die Welt war ein Teil von ihr. Wenn das ein Traum war, wollte sie nie wieder daraus erwachen. Völlig widerstandslos gab sie sich ihrem Rausch hin.
Nach wenigen Minuten, die in ihrer Wahrnehmung einer Ewigkeit glichen, löste sie sich von der Menge der Schaulustigen, die sich vor der polizeilichen Absperrung eingefunden hatte. Und dann stand sie erst einmal nur da. Mit einem Mal wurde ihr sehr schwindelig, diesmal allerdings auf eine sehr unangenehme Art. So belebt wie sie sich noch wenige Augenblicke zuvor gefühlt hatte, so leer fühlte sie sich mit einem Mal...
Benommen lehnte sie sich an eine Hauswand. Was war nur plötzlich mit ihr los. Nicht nur, daß sie eben, ohne mit der Wimper zu zucken, dafür gesorgt hatte, daß ein komplettes Gebäude evakuiert worden war, nein sie hatte dies alles auch noch mit geradezu diabolischer Freude in die Wege geleitet.
Alleine bei dem Gedanken daran, lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Was, wenn man ihre Spur zurückverfolgen konnte? ‘Du bist ein dummer Idiot!’ schimpfte sie mit sich. Aber was sie noch mehr zum nachdenken brachte, war das Wechselbad der Gefühle, das von ihr Besitz ergriffen hatte. Momentan fühlte sie sich zwar ziemlich schlecht, aber der Schatten dieses großartigen unglaublichen Glücksgefühls, das alles übertraf, was sie jemals zuvor gefühlt hatte, hing noch in ihren Gliedern. Und es machte ihr schmerzlich den Kontrast zu ihrem jetzigen Befinden klar. Ein absolutes Tief. Als sei sie gerade sehr sehr tief gefallen. Eine so niederschmetternde Trostlosigkeit machte sich in ihr breit, daß sie am liebsten laut losgeschluchzt hätte. Aber es half nichts. Sie mußte ihren Verstand wiederfinden, die Kontrolle zurückerlangen, und zwar schleunigst, bevor noch jemand auf sie aufmerksam wurde. Im Geiste sah sie schon die Schlagzeilen vor sich: ‘Frustrierte Bankangestellte dreht durch!’
Sie mußte hier weg. Und zwar sofort. Ohne weiter nachzudenken, rannte sie einfach los. Weg von der Menge, weg von den Menschen, den Sirenen, dem Lärm und dem Chaos. Nur dem Chaos in ihrem Kopf konnte sie so nicht enkommen. Sie rannte weiter und immer weiter, als sei ihr der Teufel persönlich auf den Fersen.
Irgendwann zwangen sie ihre Lungen anzuhalten. Sie sah sich zum ersten Mal, seit sie losgelaufen war, bewußt um und glücklicherweise war sie in einer wenig belebten Seitenstraße gelandet. Erschöpft ließ sie sich auf den Boden sinken.
Sie zog die Beine an, stütze ihre Ellenbogen auf Knie und ließ den Kopf sinken. Sie keuchte vor Anstrengung. Aber immerhin war das ein eindeutiges Zeichen dafür, daß sie lebte. Und, daß das alles, kein Traum gewesen war.
Nach einigen Minuten, die sie einfach so sitzend verbrachte, erhob sie sich langsam und sah sich um. Sie fragte sich, was in aller Welt mit ihr passiert war. Verlor sie den Verstand? Litt sie unter Streß? War das alles nur Einbildung gewesen?
Unruhig lief sie auf und ab. Wie ein Tiger im Käfig. Dann verließ sie die Seitenstraße in Richtung Stadtzentrum. Als sie an eine verkehrsreiche Straße kam, hob sie den Arm und winkte ein Taxi heran.
Ohne dem Fahrer ein genaues Ziel zu geben, ließ sie ihn einfach drauflos fahren. Wenn ihr danach war, geradeaus zu fahren, teilte sie ihm das mit, wenn ihr in den Sinn kam, nach rechts zu fahren, ließ sie es ihn ebenfalls umgehend wissen. Sie wollte einfach in Bewegung sein, das alleine schien ihr Befinden schon zu bessern.
Dann hatte sie eine Eingebung. Sie befahl dem Fahrer, am nächsten Geldautomaten anzuhalten und zu warten. Sie verließ kurz das Fahrzeug und kam mit einem zufriedenen Gesicht zum Fahrzeug zurück. Nun kam der schwierige Teil ihres Plans. Nach einem sehr sehr langen Gespräch, um nicht zu sagen einer sehr heftigen Auseinandersetzung, gab ihr der Taxifahrer schließlich den Zündschlüssel und verließ seufzend sein Fahrzeug...
Glücklich setzte sie sich ans Steuer und startete das Taxi. Jetzt ging es ihr schon wieder viel besser. Nachdem sie sich in den fließenden Verkehr eingefädelt hatte, beschleunigte sie allmählich. Sie begann wahllos alle Fahrzeuge zu überholen, die ihr in den Weg kamen. Dies war nicht sonderlich schwer, da die Fahrspur inzwischen dreispurig war. Ab und zu mußte sie zwar die anderen Verkehrsteilnehmer durch gewagtere Manöver von ihren Absichten überzeugen, aber das Fahren machte ihr zunehmend mehr Spaß. Sie orientierte sich inzwischen an den Schildern, die auf den Highway außerhalb der Stadt verwiesen und gab immer mehr Gas.
Ja, das war gut. Sie öffnete das Fenster und ließ sich den Fahrtwind durchs Haar wehen. Dann drehte sie das Radio auf die lauteste Stufe und stöpselte nebenbei den Taxifunk aus. An jedem anderen Tag hätte ihr die Lautstärke das Trommelfell weggepustet, aber nicht heute. Dazu ging es ihr viel zu gut. Vergessen war ihre Verwirrung von vorhin. Was zählte, war der Augenblick. Sie drückte das Gaspedal immer mehr durch. Sie fuhr weiter und immer weiter, ließ die Zivilisation hinter sich und mit ihr alle Verpflichtungen, Sorgen und Ängste. Sie war schlicht und einfach frei!
Irgendwann fiel ihr auf, daß die Sonne bereits tief am Himmel stand.. Ein Blick auf die Uhr ergab, daß es bereits 16 Uhr war.
Unglaublich. Während der aufregenden Erlebnisse des Tages hatte sie gar nicht bemerkt, wie schnell die Stunden vergangen waren.
Aber so war das ja immer: Schöne Stunden vergingen wie im Flug. Ein kurzer Geistesblitz des Zweifels durchzuckte sie als sie diesen Satz dachte, aber er war ebenso schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war.
Zufrieden lehnte sie sich im Fahrersitz zurück. Das war noch besser, als die Sache heute morgen. Sie fühlte eine nie geahnte Stärke und Zuversicht in sich aufkommen. Sie konnte alles schaffen, wenn sie nur wollte. Wie hatte sie das nur all die Jahre übersehen können? Die Welt um sie herum war wundervoll. Der Himmel blau wie gemalt. Die staubige Landschaft, mit ihren vereinzelten grünen Flächen sah aus, als hätte noch nie ein menschliches Wesen einen Fuß in sie gesetzt. Sie lebte in einer Welt, die einzig und allein dafür gemacht war, ihr gut zu tun. Die Straße gehört ihr allein. Das war einfach perfekt. Genau das war es.
Nachdem sie eine weitere kleine Weile selbstzufrieden vor sich hin gefahren war, breitete sich wieder eine gewisse Unruhe in ihr aus. Sie wollte mehr!
Mit einem Male war die Straße nicht mehr leer. Zwar machte ihr niemand die eigenen Spur streitig, aber im Abstand von wenigen Minuten kamen ihr nun ein paar Trucks entgegen.
Sie streckte die Hand aus dem Fenster und ließ den Wind durch ihre Finger gleiten. Am Horizont machten sich bereits die ersten Vorboten der Abenddämmerung bemerkbar. Rötliche Streifen durchzogen den noch vor wenigen Minuten tiefblauen Himmel. Ein paar Wolken waren wie aus dem Nichts aufgetaucht. In ihnen brachen sich die Strahlen der untergehenden Sonne.
Mit einem Mal wußte sie, wie sie diese unglaubliche Atmosphäre steigern konnte. Behutsam lenkte sie ihren Wagen ein paar Zentimeter über die Mittellinie. Gegenverkehr war im Moment nicht in Sicht, also konnte sie das guten Gewissens wagen. Und ja, es wirkte. Mit diebischer Freude stellte sie fest, daß ihr innerer Höhenflug durch die Aussicht, etwas Verbotenes zu tun, noch eine Steigerung erfuhr. Der Highway war nun nicht mehr eben, sonder schlängelte sich in einem steten Auf und Ab bis zum Horizont. Die Welt schien endlos zu sein.
Eine Lichthupe und lautes Getröte weckten sie aus ihren Träumereien. Ein Truck kam ihr fast frontal entgegen. Erschrocken zog sie am Lenkrad und steuerte das Fahrzeug wieder auf ihre eigene Spur zurück. Ihr Herz schlug bis zum Anschlag. Und doch war das, was sie gerade getan hatte, irgendwie gut. Anstatt voll zu bremsen und das Fahrzeug anzuhalten, drosselte sie das Tempo nur ein wenig.
Die Sonne war inzwischen schon halb am Horizont versunken. Entgegen jeder Vernunft, fühlte sie sich mit einem mal noch besser. Sie senkte ihren Fuß wieder komplett auf das Pedal und gab sich erneut dem Rausch der Geschwindigkeit hin. Während die Sonne langsam weiter versank, sah sie, daß ein weiterer Truck in der Ferne auftauchte. Mit einer entschlossenen Bewegung steuerte sie ihr Auto erneut über die Mittellinie, nur diesmal stoppte sie erst mit der Lenkbewegung, als sie völlig auf der Gegenfahrbahn angelangt war.
Jetzt wollte sie es wissen. Wenn ihr vorhin schon so unbeschreiblich zumute gewesen war, wie mochte sie sich dann erst fühlen, wenn sie so lange wie möglich, auf der Gegenfahrspur blieb, um erst im allerletzten Moment das Lenkrad herumzureißen?
Ohne auch nur ein Stück von ihrer Route abzuweichen, fuhr sie weiter geradeaus, dem näherkommenden Truck entgegen. Der Fahrer des Trucks versuchte vergeblich, sie mit Lichthupen und Warngeräuschen, zur Rückkehr zu bewegen. Aber aus irgendeinem Grund schien er nicht zu glauben, was da passierte. Jedenfalls sah er sich noch nicht dazu veranlaßt, sein eigenes Tempo sicherheitshalber zu senken.
Nur noch eine Sekunde, dachte sie bei sich. Ihre Emotionen waren unbeschreiblich. Sie schien die Grenze von Raum und Zeit zu überwinden.
Als die Sonne endgültig von der Nacht verschluckt wurde, erfolgte der Aufprall...

 

FBI-Hauptgebäude Washington DC 10:00 Uhr

Special Agent Dana Scully war auf dem Weg in das Kellerbüro, das sie mit ihrem Partner teilte. Zur Zeit arbeiteten sie an keinem speziellen Fall, sondern kämpften mit den Widrigkeiten der bürokratischen Seite ihres Jobs. So sehr es ihr Partner, Special Agent Fox Mulder, auch liebte, einen ungewöhnlichen Fall nach dem anderen auszugraben, so sehr widerstrebten ihm aber die formellen Anforderungen an die sich anschließenden Berichte. Was er ihr mitunter an Notizen oder Formulierungsvorschlägen für die Abschlußberichte vortrug, hätte er guten Gewissens als Science-Fiction-Roman veröffentlichen können. Sicher, sie hatte während ihrer Zusammenarbeit mit ihrem Kollegen selbst so mancherlei Merkwürdigkeiten erlebt, für die sich auf den ersten Blick keine wissenschaftliche Erklärung fand. Aber deshalb eine noch weniger fundierte, wenn auch meist sehr phantasievolle, Erklärung zu akzeptieren, widersprach ihrer wissenschaftlichen Einstellung völlig. Also war es meistens ihr Job, einen gemeinsamen minimalen Nenner in ihren Berichten zum Ausdruck zu bringen, Mulder zu bremsen, wenn er zu sehr von seiner Phantasie geleitet wurde und das Beweisbare auch einem außenstehenden Betrachter als plausibel darzustellen.
Und gerade das fiel ihr im Laufe der Zeit immer schwerer. Mit der Folge, daß sie die Berichte inzwischen ebenfalls sehr ungern abfaßte.
Was ihr dabei zunehmend mißfiel, war die Tatsache, daß sich mittlerweile Formulierungen wie ‘unerklärbar’ ‘zweifelhaft’ ‘undefinierbar’ und ähnliche in ihren Berichten häuften und es mitunter sehr frustrierend war, eine Untersuchung abzuschließen, ohne wirklich alle Fragen beantwortet zu haben und alle Umstände völlig aufgeklärt zu haben.
Und dann war da noch die ungewöhnlich hohe Anzahl von Verdächtigen, die im Laufe der Ermittlungen irgendwie zu Tode kamen, nicht mehr ansprechbar im Krankenhaus oder der Psychiatrie landeten oder aber spurlos verschwanden, und die ohnehin spärlichen Beweise gleich mit ihnen. Unbefriedigend.
Aber seit sie in der Abteilung der X-Akten arbeitete, hatte sich ihr Horizont auch in vielerlei Hinsicht erweitert. Der schier unermüdliche Enthusiasmus ihres Partners war auf sie übersprungen. So gingen sie zwar in der Regel mit unterschiedlichen Erwartungen an die Fälle heran, doch arbeiteten sie dennoch wie zwei Gehirnhälften desselben Organismus. Nur daß die eine Hälfte manchmal zu gerne, alles, was sie sah, bereitwillig unter dem Begriff "Wahrheit" abspeicherte, dachte sie seufzend.
Heute jedenfalls waren sie dazu verdonnert worden, endlich mal wieder Ordnung in die Akten zu bringen. Eine nicht gerade unbedeutende Anzahl von Akten sollte mit Erläuterungen versehen werden, weil gewisse Aussagen anscheinend mal wieder nicht klassifizierbar waren. Sollten diese Besserwisser es doch selbst machen, wenn ihnen das, was sie schrieben, nicht gefiel oder sie zu dumm waren, es zu verstehen!
Mit einem weiteren Seufzer öffnete sie die Tür des Kellerraumes, der den Titel "Büro" eigentlich gar nicht verdient hatte.
Mulder sah kurz von einer Akte auf, in die er versunken war und nickte ihr freundlich zu. "Einen wunderschönen guten Morgen, Scully!"
"Ich wüßte nicht, was an diesem Morgen wunderschön sein sollte. Haben sie vergessen, daß wir heute zur Aktensichtung verur- äh verdonnert worden sind?"
"Sicher, sicher!" entgegnete ihr Partner, mit seiner ihm eigenen zuversichtlichen Art, die er selbst in den ausweglosesten Situationen an den Tag zu legen pflegte. Und irgendwie traf das auf ihre momentane Lage ja auch zu...
"Schauen Sie mal, was ich beim Aufräumen gefunden habe!" strahlte er sie an, während er freudig die Akte, in die er vertieft gewesen war, schwenkte.
"Mulder, wir sollten eigentlich in den Akten aufräumen, soweit ich Skinner verstanden habe...!" entgegnete sie mit einer gewissen Ahnung auf das, was gleich kommen würde.
"Scully, nun seien Sie doch nicht immer so korrekt!"
Bevor sie ihm entrüstet eine passende Antwort entgegenschleudern konnte, bemerkte sie sein schelmisches Lächeln und ihre Widerworte blieben unausgesprochen.
"Ich war gerade dabei, die Akten, die wir noch mal bearbeiten müssen, in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen" - bei diesen Worten zog er vielsagend die Augenbrauen hoch - "als ich diese Akte hier entdeckt habe. Und sehen Sie sich das an. Ungelöst- zur Ablage. Ist einfach so dazwischengeraten. Und dabei hatten wir noch nicht mal reingeschaut!" Bei diesen Worten spiegelte sich auf seinem Gesicht eine Mischung von Empörung und kindlicher Freude wider.
"Mulder, sind Sie schon mal auf die Idee gekommen, daß es seinen Grund haben könnte, daß diese Akte ‘einfach so’ zur Ablage bestimmt war? Wir können uns doch nicht um jeden Fall kümmern, bei dem andere Ermittlungen nichts weiter ergeben haben. Eine gewisse Vorauswahl werden doch auch Sie akzeptieren, oder?" Bevor sie geendet hatte, bemerkte sie bereits den sich regenden Widerstand auf dem Gesicht ihres Partners.
Und da kamen sie auch schon, die befürchteten Worte: " Ich war jedenfalls der Ansicht, daß diese Akte es Wert ist, gerettet zu werden!"
Scully hob skeptisch die rechte Augenbraue und seufzte laut. ‘Gerettet’, na das hatte er sich ja schön zurechtgelegt.
"Und außerdem," - fügte er so ganz nebenbei hinzu -"gehen ‘richtige’ Fälle der Bürokratie vor, wenn ich mich nicht irre, oder?"
Das war ein gutes Argument, dachte Scully bei sich und war mit einem Male viel offener für die Vorschläge ihres Partners. "O.K., Mulder, sie haben gewonnen. Also, worum geht es? Sie haben die Akte doch bestimmt nach ihrer glorreichen ‘Rettung’ bereits überflogen, oder?" ließ sie sich resigniert vernehmen, obwohl sie innerlich eigentlich eher zufrieden war.
"Scully, Sie sind der einzige Mensch der mich wirklich kennt!" gab er lächelnd zurück.
"Hören Sie auf, sich bei mir einzuschmeicheln, Sie haben mich doch schon überzeugt!" antwortete sie, mit einem nicht weniger breiten Lächeln.
Dann wurde Mulders Miene wieder ernst und er begann mit seinen Ausführungen.
"Vor ca. einem Monat hat eine Bankangestellte aus Nevada Selbstmord begangen, indem sie mit einem Taxi, das sie zuvor seinem Fahrer ‘entliehen’ hatte, frontal mit einem Truck zusammengestoßen ist. Sie war sofort tot. Der Truckfahrer hat überlebt und nachdem er wieder vernehmungsfähig war, gab er der Polizei zu Protokoll, daß sie wohl schon eine ganze Weile auf der falschen, nämlich seiner, Fahrspur unterwegs gewesen ist. Sie hat weder das Tempo gedrosselt noch irgendwelche Anstalten gemacht, angesichts des drohenden Aufpralls auszuweichen. Ihr Fahrstil war laut seinen Angaben auch völlig kontrolliert, keine Schlangenlinien oder dergleichen. Er selbst hat die Gefährlichkeit der Situation auch erst relativ spät wahrgenommen, aber da war es bereits geschehen. Es hat Tage gedauert, sie zu identifizieren, da das Fahrzeug beim Aufprall in Flammen aufgegangen ist!"
Scully hatte seinen Vortrag aufmerksam verfolgt, aber bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch nichts gehört, was sie besonders interessant gefunden hätte.
"Eine lebensmüde Frau, die beinahe noch jemand anderen in den Tod mitgerissen hätte. Das kommt vor.-- Leider." Fügte sie hinzu. "Aber ich sehe nichts ungewöhnliches!"
"Das kommt noch!" versprach Mulder verheißungsvoll.
"Bis zum Tag ihres Todes führte Sandra Thompson, so hieß sie übrigens, ein völlig durchschnittliches, wenn nicht sogar langweiliges Leben. Sie arbeitete seit Jahren in einer Bank, hatte ein nettes kleines Apartment, wenig Freunde und vermutlich noch weniger Abwechslung."
Scully blickte ihn noch immer fragend an.
"Und dann passieren an einem Tag in ihrem Leben sehr viele ungewöhnliche Dinge auf einmal. Die örtliche Polizei hat bei ihren Ermittlungen zunächst routinemäßig ihren Bekannten- und Kollegenkreis abgeklappert, um nach Feinden oder auch nach Gründen für einen eventuellen Selbstmord zu fragen. Aber keiner schien etwas zu wissen. Alle beschrieben Sandra als nett, aber ziemlich unauffällig. Es gab auch keinen offensichtlichen Grund, weshalb sie freiwillig aus dem Leben hätte scheiden wollen.
Und von langer Hand schien es ja auch nicht gerade geplant gewesen zu sein. Immerhin hatte sie nur aufgrund eines Zufalls an diesem Tag frei. Eine anonyme Bombendrohung, die sich im Nachhinein als Fehlalarm herausstellte, sorgte dafür, daß sie an diesem Tag frei hatte.
Und jetzt wird es seltsam. Ihre Kollegen sahen sie das letzte Mal beim Verlassen des Gebäudes. Der letzte Mensch, mit dem sie vor ihrem Tod noch längeren Kontakt hatte, war wohl ein Taxifahrer.
Seinen Angaben zufolge, hat er sie irgendwo am anderen Ende der Stadt am späten Vormittag aufgelesen und mußte sie anschließend stundenlang ziellos durch die Gegend fahren. Irgendwann hat sie dann einen beträchtlichen Betrag an einem Geldautomaten abgehoben, und ihn damit ‘überzeugt’ ihr das Taxi für den Tag zu überlassen. Das war zwar ziemlich illegal, aber, nun ja.
Dann ist sie anscheinend auf den Highway gebraust bis sie schließlich auf besagten Truck getroffen ist!"
Mulder schaute sie erwartungsvoll an.
"Gut, Mulder, das ist zugegebenermaßen kein Selbstmord, wie er jeden Tag vorkommt, aber alles in allem durchaus nicht ungewöhnlich. Wer weiß, was für Gründe eine Rolle gespielt haben mögen. Sandras Handlungen deuten ja darauf hin, daß sie wohl nicht sonderlich ausgeglichen war, was für Selbstmörder nicht untypisch ist. Sie war sich vielleicht nicht sicher, ob oder wie sie sich umbringen sollte. Und dennoch ist es nicht völlig abwegig zu denken, daß sie sich einfach eine nicht gerade alltägliche Methode für ihren Ausstieg aus dem Leben ausgesucht hat!" Gespannt blickte sie zu Mulder zurück.
"Meinen Sie das im Ernst? Wenn ich mich dazu entschließen würde, na sie wissen schon, dann würde ich bestimmt nicht ‘spontan’ ein Taxi mieten und es auf eine Begegnung mit einem Truck anlegen!"
"Nein, Mulder, sie würden sich eher ein fliegendes Fortbewegungsmittel für den Zusammenstoß aussuchen!" entgegnete sie mit einem entschuldigenden Lächeln.
"Ha, ha, sehr witzig, Scully! Aber warten sie ab. Das hier wird ihnen gefallen!"
Sie hatte es gewußt, er hatte noch einen Trumpf im Ärmel.
"Als man ihre Habseligkeiten, bzw. das, was davon übrig war, untersuchte, stellte man fest, daß ein einziger Gegenstand annähernd heil geblieben war. Eine Münze!" An dieser Stelle legte er eine siegessichere Pause ein, die Scully dazu veranlaßte, ungeduldig mit dem Kopf zu nicken. Doch er dachte nicht daran fortzufahren.
"Eine Münze. Sehr außergewöhnlich!" Scully bis sich auf die Zunge, aber manchmal konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, ihrer Rolle als Skeptikerin gerecht zu werden.
Mulder ignorierte ihre Worte und fuhr unbeirrt fort.
"Auf diese Münze werde ich gleich noch einmal zurückkommen. Auf jeden Fall wäre dieser Todesfall für sich alleine noch nicht ungewöhnlich, aber es kommt noch besser!"
"Wollen Sie damit etwas sagen, daß es noch mehr Selbstmorde gab, bei denen Leute Taxis ‘gemietet’ haben und gegen Trucks gerauscht sind?" fragte Scully neugierig.
"Nein, nicht ganz. Aber der Reihe nach: Vor 2 Wochen hat es einen weiteren Menschen erwischt. Diesmal allerdings in New Mexico!"
"Warten Sie einen Moment, Mulder, das wird jetzt aber hoffentlich keine Roswell-Story, oder?" fragte Scully besorgt.
Mulder lächelte erneut. "Nein, Scully, keine Sorge. Und Außerirdische kommen auch nicht vor!" versicherte er.
"Ich bin beruhigt." Bei diesen Worten verschränkte Scully die Arme und wartete gespannt auf die weiteren Ausführungen ihres Partners.
"John Franklin, ein rüstiger Rentner von 67 Jahren, lebte bis zu seinem Todestag in einem Altersheim in einer Kleinstadt namens Harmville. Er hatte keine lebenden Verwandten mehr und galt im Altersheim als ruhiger Zeitgenosse, der zwar bei klarem Verstand, körperlich aber nicht mehr sehr mobil war. Jedenfalls unternahm er ab und zu gemeinsam mit einer Pflegerin einen Ausflug in die Stadt, wobei er sich dabei bevorzugt im Rollstuhl fortbewegte, obwohl er prinzipiell schon noch in der Lage war, zu laufen.
Auf seinem letzten Ausflug hat er es irgendwie fertiggebracht, sich unbemerkt davonzumachen. Sein Rollstuhl wurde einige Stunden später mehrere Blocks entfernt von dem Park gefunden, in dem ihn die Pflegerin das letzte Mal gesehen hat. Sie hatte sich auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin für eine kurze Zeit von ihm getrennt. Laut ihrer Aussage wollte er ‘ein bißchen die Freiheit des Lebens genießen’ , so oder so ähnlich hätte er sich ausgedrückt."
"Was ist mit ihm passiert?" hakte Scully nach.
"Nun, so ganz genau läßt sich das nicht mehr rekonstruieren. Aber irgendwie hat er wohl zunächst auf abenteuerliche Weise einen - äh - Krankenwagen in sein Gewalt gebracht und..."
"Er hat waaaas?" Unterbrach in Scully mit weit aufgerissenen Augen.
"Ja er hat in einem Einkaufszentrum einen Herzinfarkt simuliert, jedenfalls vermutete das später die Polizei, und als dann der Krankenwagen kam, um ihn abzuholen, ließ er sich auf der Bahre abtransportieren. Irgendwann während der Fahrt muß er dann aufgesprungen sein und hat den Arzt und den Sanitäter, die hinten im Wagen mitfuhren, mit -ähem- zwei Fausthieben niedergestreckt.."
"Wie bitte?" Scully traute ihren Ohren kaum.
"Ich wußte, daß Sie diesen Teil mögen würden!" strahlte Mulder zuversichtlich.
"Fahren Sie fort!"
"Also, das ganze war wohl eine Mischung aus Überraschungsmoment und gezielter Kampftechnik, der gute alte Herr, war nämlich mal ein ausgezeichneter Soldat! Die beiden Opfer sind übrigens wieder wohl auf. Er wußte genau, was er tat. Schnell und effektiv!" fügte Mulder fast bewundernd hinzu. Als sei diese Erklärung völlig ausreichend, berichtete er sofort weiter.
"Der Fahrer war wohl ebenso überrascht wie Sie, obwohl er zunächst nur durch die Geräusche, die er hörte, irritiert wurde. Als er bemerkte, was wirklich vor sich ging, war es auch für ihn schon zu spät. Fragen Sie mich nicht nach den Einzelheiten, an die konnte sich der Gute nämlich auch nicht mehr erinnern - ihm geht es übrigens auch wieder gut. Der Wagen wurde jedenfalls am Abend am Rande eines großen Stausees gefunden. Die drei überwältigten Männer waren noch im Fahrzeug, von Mr. Franklin fehlte allerdings jede Spur.
Er tauchte im wahrsten Sinne des Wortes erst vor einer Woche wieder auf. Man fischte ihn aus dem großen Stausee. Der alte Herr schien irgendwie einen außerordentlich starken Drang verspürt zu haben schwimmen zu gehen!" schloß Mulder.
"Und hat einfach, statt den Bus zum nächsten Schwimmbad einen Krankenwagen zum nächsten Stausee genommen?" fragte Scully ungläubig.
"Sieht so aus. Und man könnte schon auf die Idee kommen, daß er eine gewisse Lust auf Risiko zu haben schien, immerhin sind solche Stauseen nicht gerade ungefährlich und für den Publikumsverkehr gedacht. Und wie gesagt, Mr. Franklin war auch nicht gerade eine Sportskanone. Abgesehen davon, daß er es nicht mal für nötig hielt, sich von seiner Kleidung zu trennen, bevor ins Wasser sprang. Aus diesem Grund wurde die Untersuchung mit dem Ergebnis ‘Selbstmord’ abgeschlossen. Kommt Ihnen das nicht irgendwie bekannt vor, Scully?"
"Nun ja, das ist ja immerhin irgendwie nicht ganz von der Hand zu weisen." gab sie zu bedenken.
"Und dafür, daß er plötzlich einfach durchdrehte, spricht ja wohl einiges. Wie oft kommt es vor, daß ein älterer Mensch Dinge vergißt oder sich hilflos in einer Situation wiederfindet."
"Ja, Scully, aber bedenken Sie, er war bis zu diesem Tag völlig gesund, körperlich sicher nur eingeschränkt, aber geistig war er absolut fit! Ich finde eher, man gewinnt den Eindruck, jemand betreibt hier einen internen Wettbewerb der originellsten Methoden, um aus dem Leben zu scheiden. Ob das freiwillig geschah, bleibt abzuwarten!"
"Was wollen Sie damit sagen?" widersprach Scully, obwohl sie sich im selben Moment wünschte, sie hätte diese Frage nicht gestellt.
"Darauf komme ich gleich zu sprechen: Finden Sie es nicht seltsam, daß mehrere Menschen, die von ihrer Umwelt als absolut durchschnittlich und unauffällig beschrieben werden, auf spektakuläre Weise aus ihrem Alltag ausbrechen und dieser Ausflug jeweils mit einem ‘Selbstmord’ endet?"
"Mulder. Da ist doch noch etwas?" so allmählich dämmerte es ihr, daß sie sich gehörig getäuscht hatte, als sie der Ansicht gewesen war, Mulder hätte nur noch einen Trumpf im Ärmel...
Sie atmete ein und hielt die Luft an.
"Hey, verschwinden Sie sofort aus meinem Kopf, Scully!" sagte er mit einem breiten Grinsen.
"Also" setze er genüßlich an. Er liebte Momente wie diesen. Die Spannung steigern, bis es nicht mehr ging - und sich schon einmal auf die Widerworte gefaßt machen, die ihm gleich entgegenschlagen würden. "er hatte auch eine Münze bei sich!"
Scully ließ mit einem Zischen die Luft aus ihren Lungen entweichen.
"Das ist es also? Ist das die Verbindung? Eine Münze?"
"Abgesehen von den spektakulären Todesumständen? Ja. Den ermittelnden Beamten ist diese Verbindung allerdings entgangen." fügte er mit einem stolzen Unterton hinzu.
"Die beiden Fälle landeten nur aufgrund der etwas ungewöhnlichen Todesumstände und des geringen zeitlichen Abstands zueinander in einer Akte."
"Und was genau hat es denn jetzt mit Ihrer Münze auf sich, Mulder?" fragte Scully ungeduldig.
"Ich bin noch nicht so sicher, aber es gibt gewisse Fakten, die mich aufmerksam gemacht haben.!"
Scully sah ihn erwartungsvoll an.
"Also, zunächst habe ich mir die Polizeiphotos von den Leichen und den Gegenständen angeschaut, die die Toten bei sich trugen. Bei Sandra Thompson war ja leider nicht viel übrig. Bis auf diese Münze eben." Er zog ein Photo aus der Akte und hielt es Scully hin.
Scully nahm ihm die Photographie aus der Hand und begutachtete, das, was sie darauf sah.
Normalerweise waren auf derartigen Beweisphotos die Gegenstände abgebildet, die in den Taschen und Kleidungsstücken der Toten gefunden wurden, passend zu den dazugehörigen Bestandslisten. Mangels anderer Überbleibsel zeigte dieses Bild allerdings nur einen neutralen blauen Hintergrund, auf dem eine vergrößerte goldene Münze zu sehen war.
"Seltsam, daß die Münze die Flammen so gut überstanden hat, aber ist das alles?" fragte sie zu Mulder gewannt.
Mit einer raschen Handbewegung zog Mulder ein weiteres Photo aus der Akte hervor und reichte es ihr.
Diesmal handelte es sich um ein Photo, wie Scully schon unzählige zuvor gesehen hatte, wenn sie sich Akten widmeten, bei denen sie nicht die ersten ermittelnden Beamten gewesen waren.
Auf einem neutralen weißen Untergrund lag ein ganzes Sammelsurium an Gegenständen, die Mr. Franklin bei sich getragen hatte. Eine aufgeklappte Brieftasche, neben der sorgsam ihr Inhalt ausgebreitet war. Er bestand aus ein paar ziemlich mitgenommenen Geldscheinen, einigen vergilbten und inzwischen sehr gewellten Familienphotos, diversen Notizzetteln, die nunmehr eher Pappmasche glichen und einigem Krimskrams mehr. Außerdem sah Scully einige Centstücke und die ihr bereits bekannte Münze. Zumindest sah sie genau so aus, wie die Münze auf dem anderen Photo, da mußte sie Mulder recht geben.
"O.K. ich sehe es. Aber was genau ist daran so bedeutsam? Ich meine, abgesehen davon, daß es sich wohl um eine fremde Währung oder so handelt und beide Selbstmörder eine bei sich hatten?"
"Schauen Sie sich das einmal an, Scully." Mit diesen Worten holte er eine Lupe aus einer Schreibtischschublade und wedelte damit über dem Photo mit der einzelnen Münze herum.
Neugierig verfolgte Scully seine Aktion.
"Sehen Sie das? Hier stehen die lateinischen Worte ‘carpe diem’, also ‘genieße den Tag’ und sonst gar nichts. Das ist keine Münze, die in irgendeiner Datenbank zu finden ist. Und auch mein zweiter Gedanke, daß es sich um eine Sonderprägung oder so etwas für Sammler handelte, hat sich bisher nicht bestätigen lassen." Er schaute Sie gespannt an.
"Mulder. Sagen Sie mal, wie lange beschäftigen Sie sich denn eigentlich schon mit dieser Akte?"
"Nun ja, heute Morgen schon eine ganze Weile. Sie wissen ja, wenn ich eine Eingebung habe..."
Scully seufzte. Und ob sie das wußte.
"Und die zweite Münze ist damit identisch?" fragte sie resigniert.
"Jip." Ich---- dachte, ich erleicherte uns die Arbeit und habe den Ausschnitt mit der Münze schon mal einscannen und vergrößern lassen. Gleiches Ergebnis." Und schwupps zog er ein weiteres Blatt aus der Akte hervor.
Scully fragte sich inzwischen, was noch alles kommen würde. Sie beschloß, ihn einen Teil ihres Mißmutes spüren zu lassen und fragte daher in einem entnervten Tonfall: "Jetzt mal langsam Mulder! Was genau sollte ich noch wissen?"
"Das Wesentliche wissen Sie jetzt." sagte er mit einem beschwichtigenden Lächeln, daß seine entwaffnende Wirkung im selben Augenblick entfaltet.
"Ach ja, noch eine winzige Kleinigkeit. Ich habe in der Datenbank eine Suche nach weiteren ungeklärten bzw. ungewöhnlichen ‘Selbstmorden’ in der letzten Zeit gestartet, ich schätze, daß wir bald ein Ergebnis bekommen sollten."
Wie er das Wort ‘Selbstmord’ schon wieder betont hatte. Sie schüttelte den Kopf und formulierte vorsichtig ihre nächste Frage: "Und was genau ist Ihre Theorie?"
"Ich hab noch keine richtige." gab er zu. "Allerdings gibt es da einige interessante Gesichtspunkte: Finden Sie es nicht auch seltsam, daß zwei Menschen auf spektakuläre Weise das irdische Dasein hinter sich lassen und dabei noch mal so richtig auf den Putz hauen, und dann findet man Münzen ungeklärter Herkunft bei ihnen, die das Motto tragen, daß man den Tag genießen soll?"
Scully legte die Stirn in Falten. "Mulder. Ist das Ihr ernst? Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß die Münzen in irgendeinem Zusammenhang mit den Ereignissen, die zum Tod der beiden führten stehen oder das sie sogar ursächlich dafür sein könnten?!" Obwohl ihre Worte weniger als Frage gemeint waren, sondern eher ein aussichtsloser Versuch waren, ihrem Partner die Absurdität seiner Gedanken vor Augen zu führen, beantwortete Mulder ihre Frage.
"Doch Scully, genau das war mein Gedanke!" er schaute sie unschuldig von der Seite an.
Sie wußte, daß es längst zu spät war, Mulder vom Gegenteil zu überzeugen, das konnten jetzt nur noch Fakten tun, die für sich sprachen. Also stellte Sie die einzige vernünftige Frage, die ihr in den Sinn kam: "Und wo genau, gedenken Sie mit den Ermittlungen zu beginnen?"
"Nun, falls - und ich betone falls die Datenrecherche nichts neues ergibt, schlage ich vor, mit dem, was wir haben, anzufangen, also den beiden Münzen. Ich würde sie gerne eingehend untersuchen lassen und vor allem wüßte ich gerne, was auf der Rückseite steht!"
"Und Sie haben die Beweise sicher schon geordert?" "Ja."
Bevor Scully etwas entgegnen konnte, das ihr Mißfallen zum Ausdruck bringen konnte, wurden sie durch das Klingeln des Telefons unterbrochen.
"Mulder. Ja?" Scully verfolgte aufmerksam seine Miene, während er das Gespräch entgegennahm. Mit einem Male hellte sich sein Gesicht merklich auf. "Sehr gut. Vielen Dank!"
Nachdem er das Gespräch beendet hatte, wandte er sich wieder Scully zu.
"Die Recherche hat etwas ergeben! Wir sollten sofort aufbrechen, alles weitere erkläre ich Ihnen unterwegs!" mit diesen Worten griff Mulder nach seinem Jackett und bedeutete Scully, ihm zu folgen.

 

Hartshield, Pennsylvania 18 Uhr

Scully lehnte sich seufzend im Beifahrersitz des Mietwagens zurück, mit dem die beiden Agenten den letzten Teil ihrer Reise zurückgelegt hatten. Inzwischen hatte sie Mulder über die Ergebnisse des Datenabgleichs informiert. Es gab tatsächlich einen weiteren Todesfall, der den beiden anderen in gewisser Weise ziemlich ähnelte. Und es war erst vor zwei Tagen passiert, so daß die Spuren vermutlich noch relativ frisch sein würden.
Während es draußen bereits ziemlich dunkel wurde, steuerte Mulder das Fahrzeug auf den Parkplatz des kleinen Motels, das sie sich für die Übernachtung ausgesucht hatten. Heute würden Sie lediglich ein wenig Vorarbeit leisten müssen. Vernehmungen und dergleichen standen erst am nächsten Tag auf dem Programm, wenn die Wahrscheinlichkeit, die Zeugen auch zu erreichen, wieder größer war. Außerdem fielen Tatortbesichtigungen bei Tageslicht im Allgemeinen leichter, dachte sie bei sich.
Nachdem sie die Schlüssel für ihre Zimmer abgeholt hatten und sich ein wenig frisch gemacht hatten, trafen sie sich wie vereinbart in Mulders Zimmer, um ihre weitere Vorgehensweise zu besprechen.
"Also" setzte Scully an, die die Ermittlungen trotz ihrer anfänglichen Zweifel inzwischen aus professioneller Sicht betrachtet, "was wissen wir über den dritten Toten?"
"Philip Jones, Alter 42, seit 15 Jahren verheiratet, keine Kinder. Beruf: Versicherungsvertreter. Hat laut Aussage seiner Frau vorgestern Morgen das Haus wie gewöhnlich gegen 10 Uhr verlassen, ist aber bei den Kunden, mit denen er Termine vereinbart hatte, nicht aufgetaucht.
Statt dessen hat er wohl beschlossen, mal so richtig einen drauf zu machen." kommentierte Mulder die Angaben, die er der Kopie des Polizeiberichts entnahm, den sie sich besorgt hatten.
"Er ist auf jeden Fall in einer eher zweifelhaften - ähem - ‘Bar’ gelandet und hat dort kräftig auf den Putz gehauen!" Er blickte kurz zu Scully auf, die gerade die Augenbrauen hochzog.
"Das Geld für seine Unternehmungen hatte er aus dem Erlös seine Autos. Das hatte er nämlich im Laufe des Vormittags verkauft. Und dann wird die Sache seltsam. Gegen Mittag wurde er von der Polizei aufgegriffen, als er gerade versuchte, auf einen Baukran zu klettern."
"Was wollte er denn auf einem Baukran?"
"Gute Frage, Scully. Die Beamten ließen ihn jedenfalls nach ein paar Stunden wieder laufen, weil er ja eigentlich keinen Schaden angerichtet hatte. Außerdem war er dabei, eine gewisse Unruhe unter seinen Mitgefangenen zu verbreiteten, weil er wohl einen Song nach dem anderen anstimmte..."
"Er hat gesungen?" Scully schüttelte irritiert den Kopf. "Stand er vielleicht unter Drogen?"
"Laut Autopsiebericht jedenfalls nicht. Aber vielleicht war die Wirkung zum Zeitpunkt seines Todes schon verflogen?" Entgegnete Mulder, nachdem er die entsprechende Passage in der Akte gefunden hatte.
"Rein medizinisch zumindest denkbar" war Scullys Antwort.
"Als er wieder auf freiem Fuß war - entlassen wurde er gegen 17 Uhr - nahm er den Bus aus der Stadt hinaus, ein Auto hatte er ja nicht mehr." Mulder konnte sich an dieser Stelle ein sarkastisches Grinsen nicht verkneifen.
"An der ‘Rising-Bridge’, einer lokalen Sehenswürdigkeit, stieg er aus. Diese Brücke liegt etwas außerhalb und führt direkt über ein ziemlich tiefes Tal. Und in dieses ist Jones dann satte 200 m tief gesprungen, wenn man dem Polizeibericht glauben schenken darf."
"Wow, ein ganz schön tiefer Fall." kommentierte Scully das gehörte.
"Hatte er auch eine Münze bei sich?" Mulder durchforstete die Akte nach weiteren Beweisphotos, aber abgesehen von einigen sehr unschönen Aufnahmen der Leiche konnte er keine finden. Dann stieß er zumindest auf eine Inventarliste.
"Hier steht es!" rief er triumphierend "Bargeld im Wert von 15 Dollar und 75 Cent, außerdem eine goldene Münze mit Inschrift."
"Na, wenn das kein Glücksfall ist." erwiderte Scully in einem ironischen Tonfall.
"Scully, ein bißchen mehr Begeisterung, wenn ich bitten darf! Die dritte ‘Todesmünze’ bei der dritten Leiche. Wenn das kein merkwürdiger Zufall ist!"
"Ich bin nur der Ansicht, daß Sie vielleicht nicht so voreilig sein sollten. Sie haben die dritte Münze noch nicht einmal gesehen. Die anderen beiden im Übrigen auch noch nicht!"
"Stimmt. Und daher schlage ich vor, daß wir uns morgen neben den Zeugen und dem Tatort auch die Münze vornehmen, die sich laut Akte, zusammen mit den anderen persönlichen Gegenständen, noch auf dem Polizeirevier befindet! Und außerdem werde ich mal ein paar Hebel in Bewegung setzen, damit wir die anderen beiden Münzen auch so schnell wie möglich zu Gesicht bekommen! Oder haben Sie einen besseren Vorschlag?"
"Nein, Mulder, ich bin ganz Ihrer Meinung!" Sie lächelte ihn versöhnlich an.
"Gut, dann sollten wir uns jetzt noch ein bißchen ausruhen, der morgige Tag könnte anstrengend werden!"

 

 

Hartshield, Pennsylvania 9 Uhr

Nach einem kurzen Frühstück machten sich Mulder und Scully zunächst auf den Weg zum örtlichen Polizeipräsidium. Ein freundlicher, ziemlich junger Beamter begleitete sie ohne zu zögern in ein Hinterzimmer, nachdem Mulder sich mit seiner Dienstmarke als Bundesagent ausgewiesen hatte und mit einigen knappen Ausführungen den Grund ihres Hierseins erklärt hatte.
Im Hinterzimmer verschwand der Beamte kurz hinter einem Aktenschrank, um wenige Augenblicke später mit einem großen Umschlag, auf dem einige Zahlen und Buchstaben notiert waren, wieder aufzutauchen.
Scully öffnete den Umschlag und leerte ihn auf einem Tisch aus. Nach kurzem Stöbern hielt sie eine goldene Münze in der Hand. "Sieht so aus, als hätten Sie mal wieder recht gehabt!" gab sie Mulder anerkennend zu verstehen und reichte ihm das Metallstück. Mulder zog einen kleinen Plastikbeutel aus seiner Manteltasche und ließ die Münze nach einer kurzen Begutachtung zuerst in dem Beutel und dann beides in seinem Mantel verschwinden. Währenddessen quittierte Scully den Empfang der Münze auf einem Formular.
"Die anderen persönlichen Gegenstände können Sie, wenn Sie damit fertig sind, an die Witwe zurückschicken. Wir haben, was wir brauchen, Officer" - sie blickte auf sein Namensschild - "Welmer!"
Dieser nickte nur und wollte sie schon wieder zur Tür begleiten, als Mulder sich abermals an ihn wandte: "Sagen Sie, hatten Sie gestern Dienst, als Mr. Jones vorübergehend inhaftiert wurde?"
"Ja, Sir. Das war schon was. Der Zellentrakt ist gleich nebenan" - dabei deutete er mit der Hand in Richtung auf den rückwärtigen Gebäudeteil -" und wir konnten ihn bis ins Büro vorne hören. Fing einfach irgendwann an zu singen. Alles mögliche, was ihm gerade einfiel. Und dann hat er rumgebrüllt, wie diese Laienprediger. Von wegen jeder Tag könnte der letzte sein und so weiter. Handgreiflich ist er aber nicht geworden. Der Chef war der Meinung, wir könnten ihn ruhig laufen lassen, der Typ sei harmlos. Wenn ich da ein Wörtchen hätte mitreden können, aber na ja... Wenigstens kann er jetzt keinem mehr schaden!" beendete er seinen Bericht.
Scully warf Mulder einen vielsagenden Blick zu und hakte nach: "Wurde ihm Blut entnommen? Immerhin war er dabei, auf einen Baukran zu klettern und auch die Singerei..."
"Nein, Mam, aber nach Alkohol gestunken hat nicht, wenn Sie das meinen!"
"Danke Officer, wir werden uns melden, falls wir noch etwas benötigen!"
Wieder im Wagen entfuhr Scully ein Seufzer. "Na, Scully, wäre das hier nicht ein schönes Plätzchen für uns, falls die uns in Washington nicht mehr brauchen?"
Scully erwiderte sein Lächeln und ließ sich in den Sitz zurückfallen. "Also, dann lassen Sie uns die Münze mal genauer anschauen!" Forderte sie ihn auf.
Er zog den Beutel hervor und hielt ihn so, daß sie beide einen Blick auf die Münze werfen konnten. Die eine Seite war wie die Münzen auf den Photos golden und hatte die gleiche lateinische Inschrift, die Rückseite aber war stark verschmutzt und fast schwarz.
"Ich schätze, wir müssen sie erst reinigen lassen, bevor wir erfahren, was auf der Rückseite zu sehen ist."
"Ja, das sehe ich auch so Scully. Irgendwelche Vorschläge?"
"Bis wir die Münze ans Labor geschickt haben und sie wieder hier ist, könnten Tage vergehen, also würde ich sagen, wir versuchen es mal in der Stadt. Vielleicht gibt es dort ein Münzgeschäft!"
"Also dann!" Mulder startete den Motor.
In dem Moment legte ihm Scully die Hand auf den Arm. "Warten Sie!"
Und dann sah er auch den Grund dafür. Officer Welmer kam mit großen Schritten aus dem Gebäude gerannt. In der rechten Hand hielt er einen kleinen Karton und mit der linken fuchtelte er wild in der Luft herum.
Scully betätigte den automatischen Fensterheber und ließ die Scheibe herunter.
"Bin ich froh, Sie noch zu erwischen. Diese Schachtel ist vorhin für sie angekommen, ich hätte es fast vergessen!"
Statt sich noch auf ein weiteres Gespräch mit dem Beamten einzulassen, bedankte sich Scully freundlich, schloß kurzerhand das Fenster und Mulder trat in völliger Übereinstimmung mit ihrer Entscheidung das Gaspedal durch.
Während er das Fahrzeug in Richtung auf das belebte Zentrum lenkte, öffnete Scully die Schachtel, die als Absender die FBI-Zentrale in Washington auswies.
Zum Vorschein kamen zwei Plastiktütchen mit den beiden angeforderten Münzen. Neugierig drehte sie die Folien in ihren Händen, um kurz darauf enttäuscht festzustellen, daß bei beiden zwar die eine Seite ebenfalls golden glänzte, die anderen Seiten jeweils aber grünlich-schwärzlich- schmuddelig waren. "Selsam. Die beiden anderen Münzen sehen genauso aus, wie die, die wir schon haben. Eine Seite wie poliert mit dem ‘carpe diem’ - Spruch und die andere Seite sieht bei beiden Münzen so aus, als hätte jemand versucht, das Metall zu verbrennen, es anschließend in Wasser eingelegt und dann ein paar Jahrhunderte vergessen...!"
"Wir sollten schleunigst jemanden finden, der sich mit der Restaurierung zerstörter Münzoberflächen auskennt!" Sein Blick wanderte suchend an den Ladenzeilen entlang, die die Straße, die sie entlang fuhren, säumte. "Kein Münzgeschäft in Sicht. Aber das wäre wohl auch zuviel verlangt. Vielleicht hätten wir diesen netten Beamten doch nicht so einfach stehen lassen sollen, sondern ihn um ein paar nützliche Touristentips bitten sollen!"
Selbst aus dem Augenwinkel konnte er Scullys ablehnenden Gesichtsausdruck erkennen und mußte innerlich lächeln.
"Einen Moment mal! Ich glaube, ich habe etwas entdeckt. Mit der Münze der ersten Toten kann man ein bißchen mehr anfangen glaube ich. Hier waren - soweit ich das erkennen kann, zumindest mal zwei Worte zu lesen. Aber fragen Sie mich nicht nach Einzelheiten. Mehr kann ich beim besten Willen nicht entziffern."
"Das ist doch schon mal ein Fortschritt!" erwiderte Mulder anerkennend.
Plötzlich forderte Scully Mulder auf, rechts ran zufahren. Er tat, was sie sagte und auf seinen fragenden Blick hin, deutete sie auf die Geschäftsreklame eines Juweliers, direkt am Straßenrand. Mulders Miene hellte sich auf.
Als sie den Laden betraten, konnten sie zunächst nichts erkennen, weil die Beleuchtung im Inneren des Geschäftes sehr spärlich war. An der Decke waren nur eine wenige Lampen angebracht, die bestimmte Teile des Raumes beleuchteten, während der Rest im Schatten blieb.
An der Beleuchtung der zahlreichen Vitrinen war allerdings weniger gespart worden. Die Glaskästen leuchteten wie Schatztruhen und luden zum Betrachten der funkelnden und glitzernden Schmuckstücke ein. Aufgrund der außergewöhnlichen Akzentuierung der Beleuchtung war den wertvollen Objekten so die Aufmerksamkeit jedes Kunden gesichert, der den Laden betrat. Fasziniert blickte sich Mulder um, während Scully sich bemühte, im Halbdunkel einen Verkäufer auszumachen. Ganz allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die ungewöhnlichen Lichtverhältnisse. "Erinnern Sie mich daran, den Besitzer nach seinem Innenausstatter und Beleuchter zu fragen, den könnten wir noch mal brauchen." flüsterte er Scully zu, die nur die Augen verdrehte.
Und dann regte sich auf einmal etwas im hinteren Teil des Ladens und die Umrisse eines älteren Herren tauchten vor ihnen auf.
"Kann ich etwas für Sie tun? Ich bin der Eigentümer."
"Guten Tag. Mein Name ist Agent Mulder und das ist Agent Scully, wir sind vom FBI." Mulder und Scully zückten ihre Ausweise und warteten ab, bis der Mann diese Information verarbeitet hatte.
Als sich seine Miene nicht änderte, ergriff Scully das Wort: "Wir möchten Sie bitten, diese drei Münzen wieder herzurichten, wenn Sie das können!" Sie hielt dem alten Herrn die Tüten mit den Beweisstücken unter die Nase. Er nahm sie entgegen und studierte sie prüfend unter einer Arbeitslampe. "Darf ich sie herausnehmen?"
"Ja, selbstverständlich." Scully nahm die leeren Hüllen entgegen.
"Und?" mischte sich Mulder ungeduldig ein.
"Im Prinzip bin ich ja nicht gerade ein Spezialist, was Münzen angeht, aber den Umgang mit sensiblen Gegenständen bin ich ja wenigstens gewohnt. Also, die beiden hier" - er hob zwei der Münzen hoch - "sind glaube ich kaum zu retten. Wo haben Sie die her? Und was mich noch mehr interessiert, was haben Sie mit denen gemacht?" Er blickte Mulder fragend an.
"Tut mir leid Sir, die Herkunft der Stücke ist leider unbekannt. Sie sind Teil einer Untersuchung, mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen."
"Und die dritte Münze?" fragte Scully hoffnungsvoll.
"Na ja, geben Sie mir ein paar Stunden, und ich sehe, was ich tun kann. Immerhin sind hier noch Reste von Buchstaben sichtbar."
"Gut, können Sie sich bitte bei uns melden, sobald Sie etwas herausgefunden haben?"
"Ja, geht in Ordnung" Er nahm Scullys Visitenkarte entgegen und nickte zum Abschied.
Als Mulder und Scully wieder im Auto saßen, fischte Scully die beiden Tütchen wieder aus ihrer Manteltasche und reichte sie Mulder, der die beiden Münzen in der Hand hielt. Er machte eine abweisende Handbewegung. "Was?" "Hier nehmen Sie!" Er streckte ihr eine der Münzen entgegen und ließ die andere in seiner Manteltasche verschwinden.
"Mulder, Sie können doch nicht einfach ein Beweisstück lose mit sich herum tragen Das ist gegen die Vorschriften! "
"Wenn es nach den Vorschriften ginge, hätten wir die andere Münze eben auch nicht weggeben dürfen. Nun nehmen Sie sie schon. Vielleicht bringt es Glück!"
"Moment mal. Vorhin waren es noch Todesboten und jetzt wollen Sie mir auch noch eine andrehen?"
"Scully." Er kam ihr ein Stück auf dem Sitz entgegen und blickte ihr tief in die Augen.
"Wir brechen den Bann! Nun nehmen Sie sie endlich!--- Und außerdem glauben Sie doch eh nicht an so etwas."
Mit einem tiefen Seufzer, sie hatte irgendwann während dieser Ermittlung aufgehört sie zu zählen, gab sie sich geschlagen und steckte die Münze in die rechte Tasche ihres Kostüms.
Zufrieden ließ Mulder den Motor an. Der Tag entwickelte sich langsam zu seinem Positiven.
Scully lehnte sich währenddessen im Sitz zurück und genoß es, dem aufheulenden Motorengeräusch zuzuhören. Was dieser Schlitten wohl hergab?

Vor der Wohnungstür der Eheleute Jones im 3. Stock eines etwas heruntergekommenen Hauses warteten die beiden Agenten darauf, daß jemand auf ihr erstes Anklopfen reagierte. Als sich nach einer Weile immer noch nichts hinter der Tür geregt hatte, hob Mulder erneut die Hand und pochte diesmal mit etwas mehr Nachdruck an die Tür. "Wenn Sie da sind, machen Sie bitte auf, Mrs. Jones! Wir sind vom FBI und würden Ihnen gerne ein paar Fragen stellen!"
Plötzlich waren ein paar Geräusche von der anderen Seite der Tür her zu hören und einen Augenblick später wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet.
"Sie sind vom FBI?" fragte eine mißtrauische Stimme von der anderen Seite, während sich ein Augenpaar auf Mulder und Scully richtete.
"Ja. Mein Name ist Agent Mulder und das ist Agent Scully!" erklärte Mulder mit seiner freundlichsten Stimme und klappte seine Dienstmarke auf, während Scully das gleiche tat.
Die Tür schwang auf. "Kommen Sie herein." Sie folgten Mrs. Jones durch den kleinen Flur ins Wohnzimmer.
"Danke. Wir möchten Ihnen zunächst mitteilen, daß wir den Tod Ihres Mannes bedauern, Mrs. Jones!" ergriff Scully das Wort.
Sie blickte mitfühlend auf die Frau, die vor ihr stand. Sie war um einiges größer als Scully, hatte lange dunkelbraune Haare und machte alles in allem einen sehr gefaßten Eindruck.
"Wir müssen Ihnen aber leider noch ein paar Fragen stellen, bevor die Ermittlungen abgeschlossen werden können!"
Mulder blickte sich währenddessen in dem Wohnzimmer um. Alles war ordentlich aufgeräumt und seiner Meinung nach viel zu steril. Er haßte Wohnungen mit Museumscharakter. Aber wenn es Menschen gab, die sich in so etwas wohl fühlten, sollte ihm das recht sein.
"Ist Ihnen an dem Morgen, an dem Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen haben, irgend etwas besonderes an ihm aufgefallen. Hat er sich anders verhalten als sonst?" begann Scully ihre Befragung.
"Nein, eigentlich nicht. Er war verschlossen wir immer. Sie müssen wissen, wir hatten uns nicht mehr viel zu sagen. Er ging zur Arbeit und lebte sein Leben, ich blieb hier und lebte mein eigenes Leben. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe ihn geliebt, aber im Laufe der Jahre wurde das eher ein Leben nebeneinander als miteinander. Ich denke, wir haben uns gegenseitig dafür verantwortlich gemacht, daß es so war. Wir haben uns nicht gestritten oder so, aber viel gesprochen haben wir auch nicht miteinander." Nachdenklich blickte sie im Zimmer umher, als suchte sie dort nach Bestätigung.
"Mmm." Scully nickte bedauernd.
"Hat Ihr Mann gerne gesungen?" stieg Mulder in das Gespräch ein.
"Gesungen? Niemals. Wie kommen Sie denn darauf?"
"Nun ja, Ihr Mann scheint an seinem Todestag so einiges getan zu haben, was er sonst nicht tat." An dieser Stelle beschloß Mulder, daß es unnötig war, auf nähere Einzelheiten einzugehen. Diese Frau hatte schon genug mit ihrem Leben zu schaffen.
"Neigte er in der Vergangenheit zu spontanem Verhalten?" Scully versuchte, das Gespräch wieder in eine andere Richtung zu lenken.
"Nein, spontan war er nun wirklich nicht. Eher ein absoluter Gewohnheitsmensch. Das letzte Mal, das er irgend etwas Spontanes getan hat, war glaube ich, als er damals um meine Hand anhielt." Ein Lächeln tauchte auf Mrs. Jones’ Gesicht auf, verschwand aber gleich wieder.
"Kann ich noch etwas für Sie tun?"
"Neigte Ihr Mann zu Depressionen, Mrs. Jones?" Diese sah Scully entgeistert an.
"Nein."
"Hat er in der Vergangenheit irgendwelche Drogen genommen oder neigte er zu übermäßigem Alkoholgenuß?" Scully wurde zunehmend unbehaglicher zumute.
"Nein. Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?" Mrs. Jones blickte Scully verständnislos an.
Scully holte tief Luft. Jetzt kam etwas richtig Unangenehmes. "Halten Sie es für möglich, daß Ihr Mann Selbstmord begangen hat, so wie es die Polizei vermutet?"
Ein fassungsloser Blick begegnete Scully. "Sie denken, daß er...? Niemals! Er hätte keinen Grund dafür gehabt. Das war ein dummer Unfall! --- Wie können Sie es wagen zu behaupten...."
"Mrs. Jones, bitte! Wir müssen Ihnen diese Fragen stellen, verstehen Sie doch!" eilte Mulder Scully zu Hilfe.
Die beschwichtigenden Worte prallten jedoch an der wenige Momente zuvor noch völlig gefaßten Frau ab. "Ich denke, unser Gespräch ist hiermit beendet! Wenn ich Sie nun bitten dürfte zu gehen!"
Mulder und Scully tauschten einen Blick aus und beschlossen, der Aufforderung folge zu leisten.
"Sie steht noch unter Schock." stellte Scully fest, als sie wieder im Wagen saßen. "Die ganze Sache scheint sie tiefer getroffen haben, als sie zugeben möchte. – Das ist allerdings nicht ungewöhnlich."
"Lassen Sie uns mal resümieren, Scully: Da gibt es drei spektakuläre Todesfälle innerhalb eines Monats, bei denen jeweils eine alte Münze unbekannter Herkunft auftaucht. Die ‘Opfer’ leben ein ganz durchschnittliches, biederes Leben und an ihrem Todestag brechen sie urplötzlich aus dem Alltag aus. Passenderweise tragen besagte Münzen das Motto : ‘Genieße den Tag’. Ist das nicht sogar für Ihren Geschmack ein bißchen viel des Zufalls?"
Scully blickte ihn fragend an. "Und Ihre Theorie wäre? -- Das diese Münze die Leute irgendwie dazu verleitet hat, ihr bisheriges Leben wegzuschmeißen, um den Tag zu genießen, und sie nach diesen Erlebnissen irgendwie in den Tod getrieben hat? Das ist nicht Ihr ernst, oder?"
Mulder schaute sie zuversichtlich an. "Haben Sie eine bessere Theorie?"
"Vielleicht hat die Münze wirklich etwas mit den Verhaltensänderungen der Menschen zu tun, aber wenn, dann handelt es sich sicher nicht um übernatürliche Beeinflussung. Haben Sie schon mal etwas vom Placebo-Effekt gehört? Geben Sie Patienten völlig neutrale Tabletten und sagen Sie ihnen, es seien Medikamente. Die Ergebnisse sind erstaunlich. Und das nur, weil die Menschen an die Wirkung glauben. Was, wenn die drei ‘Opfer’ diese Münzen irgendwo gekauft oder gefunden haben und - inspiriert durch den Spruch - schlicht und einfach mal ein bißchen Abwechslung in ihr Leben bringen wollten.
Unterschätzen Sie nicht die Macht der Suggestion. Vielleicht haben sie es dann halt einfach übertrieben. Vielleicht aber hatten sie auch einfach keine Lust mehr auf ihr bisheriges Leben und beschlossen daraufhin, dem ein Ende zu setzen!" Sie schaute ihn erwartungsvoll an.
"Kommen Sie schon Scully. Das klingt ja noch abenteuerlicher als meine Version!" er strahlte sie amüsiert an.
"Vielleicht sollten wir einfach weiter die Fakten analysieren. Früher oder später werden wir schon eine Erklärung finden." lenkte Scully ein.
Mulder nickte zustimmend und ließ das Fahrzeug an. "Also, auf zum Autohändler?" Scully blätterte bereits in ihren Unterlagen und nannte ihm die Adresse.

Wenige Minuten später fuhren sie auf den Parkplatz von "Kenny’s Cars", dem größten Gebrauchtwagenhändler der Stadt. Kaum hatten sie das Fahrzeug abgestellt, kam auch schon ein ungefähr 30jähriger Mann mit dynamischen Schritten und einem breiten Lächeln auf dem Gesicht auf sie zu.
"Sieht so aus, als wittert da jemand Kundschaft..." Mulder warf seiner Partnerin einen verschmitzten Blick zu.
Sie folgte ihm quer über den Parkplatz, dem offensichtlich äußerst geschäftstüchtigen Verkäufer entgegen.
Dieser verlor keine Zeit: "Guten Tag die Herrschaften. Willkommen bei ‘Kenny’s Cars’. Ich bin Kenny!" Bei diesen Worten wurde sein breites Lächeln zu einem noch breiteren Grinsen.
Scully setzte an: "Wir sind---" Aber Kenny gab ihr nicht die Gelegenheit, den Satz zu beenden. "Ich weiß, Sie sind auf der Suche nach einem schicken Gebrauchtwagen. Das sehe ich sofort. Und Sie tun gut daran, Ihr Fahrzeug zu wechseln." Dabei warf er ihrem Mietwagen einen mißbilligenden Blick zu. "Und wie es der Zufall will, habe ich einige Topmodelle gerade neu hereinbekommen!" Sein Grinsen wurde noch breiter und Scully fragte sich inzwischen, ob der Mann überhaupt Luft holen mußte zwischen seinen Sätzen.
"Für jeden Geschmack ist etwas dabei, kann ich Ihnen versichern. Etwas Schnelles oder auch etwas Praktisches, ganz wie Sie wollen. Vom Sportwagen bis zum Kombi, alles vorhanden. Noch dazu bestens in Schuß und durchaus erschwinglich!" Scully spielte einen Moment lang mit dem Gedanken, ihm ihre Faust in sein fest gefrorenes widerwärtiges Grinsegesicht zu schlagen, rief sich aber sofort wieder zur Ordnung.
Bevor sie weitere gewalttätige Gefühle entwickeln konnte, ergriff Mulder das Wort: "Na, dann lassen Sie mal sehen, was Sie haben!"
Scully konnte kaum glauben, was sie gerade gehört hatte. Was in aller Welt trieb ihr Partner da? Aber statt einzugreifen, ließ sie ihn weitermachen. Und was noch viel beunruhigender war: es gefiel ihr gar nicht so schlecht, diesem Grinse-Kenny eins auszuwischen.
"Etwas Sportliches wäre nicht schlecht!" Scully fragte sich gerade, ob sie das eben gesagt hatte, als Kenny die beiden Agenten schon zufrieden nickend auf die andere Seite des Parkplatzes führte.
Nachdem ihnen Kenny ungefähr 5 Sportwagen 3 Kombis gezeigt hatte und Mulder und Scully ihn abwechselnd mit Fragen bombadiert hatten, die ausgefallener nicht hätten sein können, wirkte das Grinsen auf Kennys Gesicht inzwischen ziemlich gequält.
Dann fand Mulder, daß es so langsam an der Zeit war, sich wieder dem eigentlichen Zweck ihres Besuchs zuzuwenden. Während er beobachtete, wie der ausgesprochen ausdauernde Autohändler gerade dabei war, Scully von der Vorzügen eines knallroten Cabriolets zu überzeugen, hatte er plötzlich den Eindruck, daß seine sonst eher reservierte Partnerin unmittelbar vor dem Abschluß eines Kaufvertrages stand.
Also griff er ein, bevor die Sache eskalierte. "Kenny, warten Sie mal einen Moment!"
Zum ersten Mal in der letzten dreiviertel Stunde verschwand das Grinsen aus Kennys Gesicht und machte einem gespannten Gesichtsausdruck Platz.
"Ich muß Ihnen etwas gestehen. Wir sind eigentlich gar nicht an einem Autokauf interessiert. Wir sind eigentlich hier, um etwas über einen gewissen Philip Jones in Erfahrung zu bringen, der hier vor ein paar Tagen seinen Wagen verkauft hat. Können Sie sich an ihn erinnern?"
Bei diesen Worten hielt er Kenny seine Dienstmarke vors Gesicht.
Angesichts dieses Geständnisses war Kenny zum ersten Mal in seinem Leben so richtig sprachlos. Sein Gesicht wechselte im Sekundentakt die Farbe. Erst wurde er aschfahl und innerhalb kürzester Zeit stieg ihm die Zornesröte ins Gesicht. Immer noch nach Worten suchend rang er sichtlich um Fassung. "Was glauben Sie eigentlich?--- Sind Sie völlig--- Das gibt es doch gar nicht---!" Dabei schnappte er wild nach Luft.
Scully, die sich immer noch nicht so recht von dem angepriesenen Fahrzeug lösen konnte, beschloß, daß es besser wäre zu schweigen, statt den Mann noch mehr in Rage zu versetzen.
"Ja, der Typ war hier. Wollte seine Kiste so schnell wie möglich loswerden, sonst kann ich Ihnen nichts sagen!" Kenny hatte offensichtlich beschlossen, daß es trotz dem Erlebten besser war, mit den Bundesagenten zu kooperieren. Seine Miene glich jedoch mittlerweile einer steinernen Maske. Und auch Mulder wurde klar, daß es vielleicht doch nicht so geschickt gewesen war, so mit einem potentiellen Zeugen umzugehen. Andererseits, jetzt war es ohnehin zu spät. Und immerhin - sie hatten ihren Spaß gehabt.
Mit einem Lächeln, das er beim besten Willen nicht länger zurückhalten konnte, bedankte er sich knapp und steuerte mit Scully, die sich inzwischen offenbar nicht mehr allzu wohl in ihrer Haut fühlte, den Mietwagen an.
Sie fuhren schweigend vom Parkplatz, um kurz darauf am Straßenrand wieder anzuhalten.
Mulder schaute in Scullys Gesicht und prustete laut los. Sekunden später fiel auch Scullys Selbstbeherrschung in sich zusammen. "Was in aller Welt haben wir eben getan, Mulder?" Er zuckte nur mit den Schultern "Haben Sie sein Gesicht gesehen, als Sie ihn gefragt haben, ob man den Kombi auch zum Cabrio umfunktionieren kann? Fast wäre ihm sein Grinsen aus dem Gesicht gefallen..." Sie schüttelte den Kopf, als sie wieder von einer Lachsalve geschüttelt wurde. "Skinner hätte uns angesichts der Spesenrechnung eigenhändig umgebracht, wenn Sie mich nicht gestoppt hätten!" Ihr Gesicht wurde ernst. "--- Mulder, was ist nur mit uns los?" "Gar nichts!" entgegnete ihr Partner, "wo steht denn geschrieben, daß FBI-Agenten keinen Spaß haben dürfen...." Innerlich zweifelte er allerdings im gleichen Moment an seinen Worten.
"O.k., dann lassen Sie uns mal zu dieser ‘Bar’ fahren, die Sie erwähnt haben!" schlug Scully vor, um die aufkommenden Verlegenheit zu überspielen.
Unter Einhaltung der unausgesprochenen Übereinkunft, über das soeben Erlebte besser kein Wort mehr zu verlieren, standen Mulder und Scully einige Minuten später vor einem Etablissement namens ‘Red Owl’, das sich im Vergnügungsviertel der Stadt befand. Über der Tür verkündete eine Leuchtreklame, daß die Bar 24 Stunden täglich geöffnet hatte. Der eindrucksvoll gebaute Türsteher ließ die beiden Agenten nach einigen warmen Worten und einem Wink mit den Dienstmarken ohne weiteren Widerstand eintreten.
Im Eingangsbereich blieben Mulder und Scully erst einmal eine Weile stehen, um sich in dem schummrig beleuchteten Raum umzusehen.
Soweit Scully erkennen konnte, gab es an die 20 Tische, um die jeweils eine gemütliche Sitzgruppe plaziert war. Die dominierende Farbe im Raum war zweifellos rot. Das mußte wohl so sein, dachte sie bei sich. An den Wänden und an Teilen der Decke hingen überall Spiegel, die es schwer machten, die Größe des Raumes richtig einzuschätzen. Scully hatte inzwischen weitere Tische im hinteren Bereich des Raumes entdeckt, die teilweise durch Vorhänge abgetrennt waren. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine Art Bühne, von der aus sich ein Laufsteg quer durch die Bar schlängelte. Und dann gab es da noch eine Theke, hinter der ein Barkeeper damit beschäftigt war, Gläser zu reinigen.
Im Hintergrund lief zur Zeit ein ziemlich einschläfernder Song, während ein Reklameaufsteller auf der Bühne darauf hinwies, daß die nächste Showdance-Einlage jeweils zur vollen Stunde beginnen würde.
Der Tageszeit entsprechend, waren nur wenige Gäste in der Bar. Scully konnte drei ‘Serviererinnen’, deren Bekleidung sich am besten mit ‘Stoffetzen’ beschreiben ließ, ausmachen.
Als sie Mulders interessierten Blick bemerkte, hob sie die Augenbraue.
"Wir sollten jemanden von der Geschäftsleitung auftreiben!" schlug sie ihm mit einem argwöhnischen Blick auf die Serviererin, die Mulder immer noch nicht aus den Augen ließ, vor.
"Ja, Scully." Als er bemerkte, daß dies vor allem eine Aufforderung an ihn gewesen war, machte er eilig ein paar Schritte in Richtung auf die Bar zu, während sie ihm folgte.
Bevor die Situation wieder eskalieren konnte, klappten die beiden Agenten ein bißchen schneller als gewöhnlich ihre Marken auf und stellten sich dem Barkeeper vor.
"Soso, FBI. Was verschafft mir die Ehre?" verkündete dieser in dem gelassenen Ton einer Person, die häufiger mit den Hütern des Gesetzes Gespräche führte.
"Sie könnten uns zum Beispiel sagen, wer vorgestern tagsüber hier Dienst hatte. Hinter der Bar und auch Bedienungen und so weiter. Falls nötig, fragen Sie Ihren Chef, der hat bestimmt einen Dienstplan oder so etwas." Andererseits wird der sowieso gleich hier auftauchen, wenn der Türsteher etwas von seinem Job versteht - fügte Mulder in Gedanken hinzu.
"Also, vorgestern. Mmm?" Der Barkeeper setzte ein nachdenkliches Gesicht auf.
Der Versuch, Zeit zu schinden, dauerte glücklicherweise kürzer als erwartet. Einen Augenblick später verkündete ein strahlendes Gesicht: "Sie haben Glück. Ich hatte Dienst. Von 10 Uhr morgens bis gegen 18 Uhr abends. Was wollen Sie wissen?"
In diesem Moment wurde Mulder plötzlich bewußt, daß er vergessen hatte, ein Photo von Mr. Jones einzustecken. Wo war er nur wieder mit seinen Gedanken gewesen?
"Haben Sie diesen Mann vorgestern hier gesehen oder sogar bedient?" Scully hielt dem Barmann ein Photo unter die Nase.
Mulder starrte sie verblüfft an, was ihr nicht entging. Sie hob die Augenbrauen und konnte sich ein geflüstertes: "Was würden Sie nur ohne mich tun..." nicht verkneifen.
"Ja, klar." kam es ohne Verzögerung von der anderen Seite der Theke. "Der Kerl hat hier ganz schön Aufmerksamkeit erregt! Sie müssen wissen, normalerweise kommen hier die Typen eher verklemmt rein und tauen erst mit steigendem Alkoholspiegel langsam auf." Er warf Scully einen vielsagenden Blick zu, den sie ignorierte.
"Der war allerdings irgendwie anders drauf. Hat gleich zu Beginn dafür gesorgt, daß er nicht alleine in seiner Ecke saß...."
Er rollte wissend mit den Augen.
Scully, die genug von den Anspielungen hatte, hakte nach: Was genau hat er getan?"
"Er hat sich drei Ladys an den Tisch kommen lassen, Champagner geordert und dafür gesorgt, daß die nächste Vorstellung auf der Stelle begann. Mit dem nötigen Kleingeld ist alles möglich." Scully war angesichts der Blicke, die sie immer wieder trafen, inzwischen fest davon überzeugt, daß der Barkeeper sie gnadenlos anbaggerte und bemühte sich darum, ihren nächsten Satz möglichst scharf zu formulieren: "Ist es dabei geblieben oder gibt es hier noch andere Räumlichkeiten?"
Dem Angestellten hinter der Theke entwich ein Lächeln, das allerdings sofort wieder verschwand, als er sich Mulders drohendem Blick bewußt wurde.
Bevor er jedoch die Frage beantworten konnte, tauchte ein ungefähr 50jähriger Mann neben Mulder und Scully auf, der den Barkeeper mit einer scharfen Geste zum schweigen brachte.
"Guten Tag, die Herrschaften. Mein Name ist Grant Springer, ich bin der Eigentümer dieses Lokals. Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen?"
Mulder und Scully wandten sich Mr. Springer zu, erklärten ihm, warum sie hier waren, zeigten ihm das Photo und Scully wiederholte ihre letzte Frage.
Gutmütig lächelnd antwortete Mr. Springer: "Hier ist der Gast König, Sie verstehen? Wir sind in erster Linie ein Unterhaltungsbetrieb. Musik, ein bißchen Tanz und Show. Die Leute trinken etwas, fühlen sich wohl. Und in seltenen Fällen entwickelt sich vielleicht ein bißchen mehr zwischen den Mädchen und den Gästen. Aber das ist wirklich die absolute Ausnahme!" versicherte er.
"War Mr. Jones ein solch seltener Fall?" wollte Scully wissen. "Immerhin schien er ja ziemlich mit Geld um sich zu werfen."
"Meine Gäste bauen auf meine absolute Diskretion. Das bleibt unter uns, ja?" er schaute die beiden Agenten verschwörerisch an. "Ja, er hatte das Bedürfnis, sich ein bißchen mehr zu entspannen, als es hier unten möglich ist."
Er schaute zuerst zu Scully, dann zu Mulder, als schien er abzuwägen, ob er ihnen trauen konnte. Dann fuhr er fort: "Ich stelle meinen Kunden für solche außergewöhnlichen Gelegenheiten manchmal Räumlichkeiten im ersten Stock zur Verfügung.
"Ist es möglich, daß wir mit seiner Begleitung sprechen und einen Blick auf die Räumlichkeiten werfen können?" wollte Mulder wissen.
Scully fragte sich zwar, warum es nötig war, die Räumlichkeiten zu inspizieren, ließ Mulder aber gewähren.
"Mr. -äh- Jones hatte den Wunsch, nicht nur von einer Dame begleitet zu werden, sondern" - er räusperte sich - "von vieren." Er schaute Scully entschuldigend an.
Diese schüttelte nur den Kopf und fragte sich gerade, was in Mulder wohl vorgehen mochte, der eine Miene aufgesetzt hatte, die wie eine Mischung aus Verwunderung und Neugier aussah.
"Lassen Sie mich mal überlegen... Patty, Julie und Gil kommen erst heute Abend, aber Cloe müßte demnächst eintrudeln. Wenn Sie einen Moment Geduld haben, können Sie mit ihr sprechen. Wenn Sie möchten, lasse ich Ihnen inzwischen das Zimmer zeigen? Jack!" er wandte sich an den Barkeeper - "Laß eine Flasche der Hausmarke auf Nummer 3 bringen! Betrachten Sie sich als eingeladen!" er blickte wieder zu den beiden Agenten.
Mulder und Scully schauten sich zweifelnd an und folgten einem herbeigewunkenen Angestellten durch eine Tür und dann die Hintertreppe hinauf, die in den ersten Stock führte.
In Zimmer Nummer 3 angekommen, stellte eine weitere Bedienung einen Kübel mit Eis, in dem der Champagner stand, und zwei langstielige Gläser auf einen kleinen Beistelltisch, schloß diskret die Tür, bevor einer der beiden Agenten protestieren konnte, und mit einem Mal fanden sich Mulder und Scully alleine in dem Raum wieder.
Das Zimmer war größer als Scully erwartet hatte, und entsprach um einiges weniger dem Klischee, das die Einrichtung der Bar unten unweigerlich in ihrem Kopf hatte entstehen lassen.
Weder dominierte hier dieser obligatorische rote Farbton, noch gab es irgendwelche rosa-kitschigen Lampen oder dergleichen. Im Gegenteil. Das Ambiente war wirklich sehr angenehm.
Neben einem überdimensionierten Bett, über dem zu Scullys Verwunderung nicht einmal ein Spiegel hing, befanden sich noch ein kleiner Tisch, auf dem jetzt der Champagner stand, und einige Stühle im Zimmer. Die beiden Fenster waren mit schweren Vorhängen verdunkelt. Statt mit Tageslicht wurde der Raum von mehreren kleinen modischen Lampen beleuchtet, die das Zimmer in ein angenehmes Licht tauchten.
Scully ließ sich auf einen Stuhl fallen, während Mulder sich mit einem Satz auf das Bett plumpsen ließ.
"Fühlen Sie sich wie zu Hause." kommentierte sie das Verhalten ihres Partners spöttisch.
"Kommen Sie, Scully. Ob wir nun unten warten oder es uns hier ein bißchen gemütlich machen, ist doch egal, oder?" er zwinkerte ihr beschwichtigend zu.
Scully runzelte die Stirn und versuchte, einen klaren Gedanke zu fassen.
"Was halten Sie davon, wenn Sie es sich hier auf dem Bett gemütlich machen, während ich die Flasche öffne?" Bei diesen Worten sprang er auf und schnappte sich die Flasche.
Als Scully sich immer noch nicht bewegte, sondern ihn nur fragend anstarrte, legte er ihr eine Hand auf die Schulter und übte sanften Druck auf sie aus.
Seufzend erhob sich Scully und setzte sich vorsichtig auf eine Bettkante. "Mulder, was genau, tun wir hier eigentlich?" nahm sie einen weiteren Anlauf.
"Wir machen eine kleine Ermittlungspause." Der Korken schnalzte mit einem lauten Knall aus der Flasche und Mulder begann zufrieden damit, die Gläser zu füllen.
"Ah, ja." Scully schaute sich verwirrt in dem Raum um und hielt inne. Irgend etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Wenn sie nur Ordnung in ihre wirren Gedanken hätte bringen können.
Mulder unterbrach ihre Überlegungen, indem er ihr ein Glas reichte.
"Worauf wollen wir anstoßen?" fragte er.
"Wie wäre es mit uns?" schlug Scully vor.
"Na, Sie sind ja heute besonders originell! Von mir aus." kam es eher weniger begeistert zurück.
"Also, auf uns." Mit diesen Worten stieß er sachte an Scully Glas. Diese hob das Glas zögernd an die Lippen und trank erst einen kleinen und dann mehrere große Schlucke.
Ja, das tat wirklich gut. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie verspannt sie gewesen war. Mit einem Male bemerkte sie, daß es in dem Zimmer ganz schön warm geworden war und beschloß, ihren Mantel abzulegen.
Mulder verfolgte diese Aktion interessiert und nippte wiederholt an seinem Glas.
"Wissen Sie was, Mulder?" Sie ließ sich nach hinten auf das Bett fallen.
"Was?" kam es interessiert vom Stuhl, auf dem Mulder inzwischen Platz genommen hatte.
"Das FBI sollte einen Masseur beschäftigen!"
Er verdrehte die Augen, angesichts des sachlichen Tonfalls, den seine Partnerin bei dieser Bemerkung angeschlagen hatte. "Ist das Ihr Ernst?"
"Ja doch. Sehen Sie, wir rennen uns tagtäglich die Hacken ab, sitzen stundenlang in Flugzeugen und noch mehr Stunden in irgendwelchen Autos. Das ist der pure Horror für die Muskeln--- aus rein medizinischer Sicht natürlich." fügte sie mit einem Lächeln hinzu.
"Selbstverständlich." stimmte Mulder zu.
"Wie wäre es mit einer kleinen Massage, Partner?" fragte Mulder unvermittelt.
"Sie wollen mich massieren?" kam es ungläubig vom Bett.
"Für Sie tue ich doch alles, Scully," versicherte eine Stimme, die nun von der Bettkante kam.
"Also los, Partner!" womit Scully sich ohne zu Zögern auf den Bauch rollte.
"Eine Sekunde noch!" Mulder blickte suchend im Zimmer umher, bis er fand, was er suchte, und wenige Augenblicke später ertönte leise Musik aus mehreren im Zimmer verborgenen Boxen.
"Das ist gut." ließ Scully ihn wissen.
"Warten Sie ab, es wird noch besser!" Mulder lächelte.
Dann legte er seiner Partnerin die Hände auf die Schultern "Oh--- den Blazer sollten Sie vielleicht auch besser ausziehen!"
In diesem Moment klopfte es leise an der Tür.
Erschrocken fuhr Scully vom Bett auf und Mulder machte einen Satz Richtung Tür.
Als Mulder öffnete, stand eine stark geschminkte junge Frau vor ihm. Ihre langen blonden Haare hatte sie sorgfältig hochgesteckt, während ihr einige Fransen rechts und links ins Gesicht hingen.
Sie schaute ein bißchen Verlegen, aber nachdem Mulder ihr nachdrücklich versichert hatte, daß sie keineswegs gestört habe, hellte sich ihre Miene auf. Mulder warf noch schnell einen Blick hinter sich ins Zimmer, und sah gerade noch, wie Scully die beiden Gläser samt Flasche hinter dem Bett verstaute. Dann bat er Cloe herein.
Cloe betrat das Zimmer und grüßte Scully, die inzwischen wieder auf einem der Stühle Platz genommen und ein dienstliches Gesicht aufgesetzt hatte.
Mulder bot Cloe ebenfalls einen Stuhl an.
"Ich vermute, Mr. Springer hat Ihnen bereits erklärt, worum es geht?" begann er das Gespräch.
"Ja, um diesen Typen von neulich. Oh man, das war einer. Rein äußerlich wirkte er ja ziemlich normal, aber die sind ja meistens die Schlimmsten."
Scully musterte die Frau, die sie auf maximal 21 Jahre schätzte. Vermutlich war sie noch um einiges jünger.
Mulder überlegte gerade, wie er die nächste Frage möglichst taktvoll formulieren könnte, als Cloe fortfuhr: " Jedenfalls waren ihm zwei von uns wohl nicht genug, er wollte mit vier Mädchen aufs Zimmer.---- So was ist ziemlich selten. Leute, die auf solche Sachen stehen, gehen eigentlich eher in andere Clubs, aber na ja. Wenn der Typ die Kohle hat, bitte. Meinetwegen. Auf jeden Fall war er ansonsten ganz in Ordnung, wenn Sie verstehen, was ich meine. Keine Gewalt oder sonstige Abartigkeiten. Im Gegenteil. Er war ausgesprochen gut drauf. Sehr zuvorkommend. Wollte ständig wissen, ob wir noch was zu trinken wollen und so." Damit beendete sie ihre Ausführungen.
"Hat er irgendwelche Drogen zu sich genommen?"
Cloe schüttelte den Kopf. "Er hat nicht mal übermäßig viel getrunken. Das meiste hat er für uns bestellt."
Scully blickte zu Mulder und ihr Blick sagte ihm, daß sie genug erfahren hatten. Er nickte kaum merklich, bedankte sich bei dem Mädchen und gemeinsam gingen sie wieder nach unten.
Zurück im Fahrzeug diskutierten sie das Gehörte. "Also ergiebig war das ja nicht gerade. Daß Jones sich an seinem Todestag ziemlich ungewöhnlich benommen hat, wußten wir ja schon." resümierte Scully. "Dann sollten wir uns jetzt vielleicht mal dem Tatort widmen, was meinen Sie, Scully?"
"Gut, lassen Sie uns losfahren."
Während Scully mit einer Straßenkarte hantierte, um Mulder zur "Rising-Bridge" zu dirigieren, merkte sie, daß ihr der Champagner doch etwas mehr als erwartet zu Kopf gestiegen war. Mulder schien ähnliche Probleme zu haben, denn mit einem Male schlug er vor, eine kleine Pause zu machen. Er fuhr in einen Waldweg und brachte das Fahrzeug zum stehen.
Scully warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, daß es inzwischen bereits 16:50 Uhr war. Die Ermittlungen des Tages hatten doch irgendwie mehr Zeit in Anspruch genommen, als sie eingeplant hatten. Sie öffnete die Beifahrertür und verließ das Fahrzeug, froh, ein bißchen frische Luft in ihre Lungen zu bekommen. Mulder tat es ihr gleich.
So allmählich ließ das leichte Schwindelgefühl wieder nach. "Mulder, wissen Sie, was mir gerade aufgefallen ist?"
"Nein, Scully, schießen Sie los!" Er lehnte sich gegen die Motorhaube.
"Finden Sie es nicht auch etwas seltsam, daß das FBI seine Schießübungen immer nur in nüchternem Zustand durchführen läßt?" sie blickte ihn interessiert an.
"Wie kommen Sie denn darauf? Ja, stimmt. Aber das liegt vermutlich daran, daß FBI-Agenten eigentlich im Dienst immer nüchtern sind --- oder zumindest sein sollten." fügte er grinsend hinzu.
"Zuuuu spät." gab Scully zurück.
"Wie wäre es, wenn wir diese elementare Lücke schließen? Sehen Sie den Baum da hinten?" Sie deutete in die Richtung einer Lichtung in ungefähr 100 m Entfernung. "Wetten, ich treffe ihn eher als sie?" Sie blickte ihn herausfordernd an.
"Das können Sie haben!" Mulder griff nach seiner Dienstwaffe und wartete geduldig, bis Scully es ihm gleichtat.
Nachdem die Magazine der beiden Dienstwaffen völlig leer gefeuert waren, machten sich zwei mehr oder weniger zufriedene FBI-Agenten wieder auf den Weg zur "Rising-Bridge".

Es dämmerte bereits, als sie schließlich an der Brücke ankamen. Sie parkten den Mietwagen zunächst auf einem nahegelegenen Parkplatz und machten sich dann zu Fuß auf, um die Stelle zu besichtigen, an der Philip Jones von der Brücke gefallen oder gesprungen war.
Gerade, als sie die Brücke betreten wollten, klingelte plötzlich Scullys Handy. Sie nahm das Gespräch entgegen und brüllte kurz darauf in den Hörer: "WAAAAAS? Ich kann Sie sehr schlecht verstehen. MOMENT, bitte!!!" Sie gab Mulder ein Zeichen, daß er schon mal vorgehen sollte und bemühte sich darum den Empfang zu verbessern, indem sie wieder ein paar Schritte zurück in Richtung auf den Parkplatz ging.
Mulder nickte und betrat die Brücke. Er lief eng am Geländer entlang und genoß die Aussicht. Die Umgebung war einfach phantastisch. Das Grün der Natur und das Grau der Felsen boten einen atemberaubenden Kontrast. Und dann noch die Farben, die die untergehende Sonne am Himmel hinterließ... Er lehnte sich weit über das Geländer und schaute nach unten. Wow. Das war wirklich verdammt tief. Er ging ein paar Meter weiter bis zu einer Stelle, an der ein gelbes Polizeiabsperrungsband um einen Geländerpfosten geknotet war. Hier war es also passiert. Er lehnte sich erneut über das Geländer und blickte nach unten.
Das war schon faszinierend. Wie lange es wohl dauerte, bis der Aufprall erfolgte? Neugierig lehnte er sich noch ein winziges Stück weiter hinaus. Sein Herz begann ein bißchen schneller zu schlagen. Einfach alles hinter sich lassen, frei sein wie ein Adler in der Luft. Das mußte ein gutes Gefühl sein. Wenn man den Wind auf der Haut spüren konnte. Die Schwerelosigkeit, die den eigenen Körper von der Last des Gewichts befreite...
Und plötzlich wußte er, daß alles machbar war, wenn er es nur stark genug wollte. Er konnte fliegen!
Scully rannte los. Sie wußte nicht, wieviel Zeit sie noch hatte, aber es war sicher nicht mehr viel. Sie spürte wie ihre Lungen zu bersten drohten, als sie die Brücke erreichte. Sie rief so laut sie konnte nach ihrem Partner, aber dieser schien sie nicht hören zu können.
Kurz bevor es ihm gelang, daß zweite Bein über die Brüstung zu schwingen, hatte sie ihn erreicht.
Sie riß ihn grob an seiner Schulter zurück, während sie auf ihn einredete. Dann gelang es ihr irgendwie, in seine Manteltasche zu greifen und die Münze herauszufischen. Mit einem Arm hielt sie Mulder noch immer umklammert während sie mit dem anderen weit ausholte und die Münze gemeinsam mit ihrer eigenen in hohem Bogen von der Brücke warf.

Während die letzten Strahlen der Sonne der Nacht wichen, hielt Scully Mulder immer noch fest umklammert und sprach beruhigend auf ihn ein. Ein paar Sekunden später schaute Mulder sie verständnislos an. Was in aller Welt trieb er hier?
"Mulder. Ist alles in Ordnung mit Ihnen?"
"Ja, ich denke schon." Vorsichtig kletterte er wieder ganz auf die Brücke zurück, so daß er festen Boden unter den Füßen hatte.
"Was ist passiert?"
"Das kann ich Ihnen nicht so genau sagen, Mulder. Der Anruf eben kam vom Juwelier. Er hat die Analyse der Münze beendet. Es ist ihm gelungen, die Worte auf der Rückseite der Münze zu entziffern. Dort stehen die Worte ‘fuge noctem’, was so viel wie ‘meide die Nacht!’ bedeutet." Sie schwieg.
"Soll das etwa heißen, daß jemand, der in Besitz der Münze ist, zwar einerseits einen außergewöhnlichen Tag erlebt, aber sterben muß, falls er sich noch im Freien aufhält wenn es dunkel wird?" wollte Mulder wissen.
"Ich weiß es nicht, Mulder. Aber so wie ich das sehe, hatten Sie gerade vor, den Absprung zu wagen, oder sehe ich das falsch?" Mulder schwieg.
"Und indem sie die Münzen weggeworfen haben, habe Sie mich oder uns gerettet." fügte er nachdenklich hinzu.
"Scully?"
"Ja?"
"Sie glauben doch gar nicht an die übernatürlichen Kräfte dieser Münzen."
"Sicher ist sicher!" verkündete Scully, während sie ihm Geiste schon wieder mit Unbehagen an einen Abschlußbericht dachte, der vielen Leuten Kopfzerbrechen bereiten würde...

In Hartshield stellte unterdessen ein alternder Juwelier fest, daß er sich heute ausgesprochen vital fühlte und beschloß, seinen Laden ausnahmsweise mal ein bißchen früher zu schließen...

 

Ende © HP 1/99