Autorin: Julia
Feedback: muss nicht sein ... kann aber

ABSCHIED
von  Julia

 



Meine Hände zittern ein wenig, nur leicht. In der einen Hand halte ich eine Blume. Eine weiße. Mit der anderen streiche ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich bin ganz allein. Nur vor mir die Tiefe, der Abgrund, vielleicht sogar das Vergessen? Ich wische mir eine Träne von der Wange und knie mich nieder. Warum fühle ich mich so einsam? Ich konnte es dir nie sagen, ich habe mich nie getraut. Aber jetzt? Ich grabe meine Hand in die bereitgestellte Schale mit Erde. Nun zittre ich am ganzen Körper. Es tut so weh.

Warum?

Ich kann es nicht sagen ...
Einsamkeit, keine Hoffnung, Vergessen, vielleicht auch Feigheit? Ich bin feige ... ich kann es spüren. Warum? Ich fühle mich so schlecht dabei. Hätte ich es nur, ja hätte ich. Hass. Ich hasse mich dafür. Ich lasse die Erde fallen. Langsam rieselt sie aus meiner Hand.
Die Abendsonne scheint auf den Ahornbaum neben mir und lässt die Blätter in einem leuchtendem Rot aufflammen. Rote Blätter, geprägt vom Herbst.

Der Herbst. Alles wird vergessen, die Blätter fallen. Es gibt kaum noch grüne Bäume. Ich schlucke, als ich zum zweiten mal meine Hand in die Erde stecke. Bald ist es vorbei. Oh, würde es doch jetzt schon vorbei sein. Ich will nicht, dass es aufhört. Es ist paradox, aber ich will, dass dieser Moment für immer anhält...

Ich sehe dich zum ersten mal, damals, als ich in dein Kellerbüro kam. Ich erinnere mich an unseren ersten Fall, wo wir gemeinsam im Regen standen. Ich erinnere mich, an die Stunden, in denen wir zusammen lachten. Ich rufe auch Streiterein in mein Gedächtnis zurück. Wie banal. Aber ich habe mich nie getraut, es dir zu sagen. Wie feige.
Ich höre nur das leise rascheln, als die Erde zum zweiten Mal auf dem Untergrund aufkommt. Tausend Tränen habe ich um die geweint und die Quelle ist noch längst nicht versiegt. Wieder und immer wieder bricht ein Tränenschwall über mich herein, und ich frage mich, warum? Warum du? Warum nicht jemand anderes? Warum gerade du?

Mir fällt es unglaublich schwer ein drittes Mal - ein letztes Mal - Erde aufzuheben. Ich verharre in diesem Moment, und kann mich nicht davon lösen. Ich liebte es, mit dir zu lachen. Komm wieder und sag, dass es ein Witz war.
Ich liebte es, dir alle meine Sorgen erzählen zu können. Komm wieder, und sprich mit mir. Ich liebte es, in deinen grünen Augen zu versinken. Sie waren es, die mich jeden einzelnen Tag, jede einzelne Stunde haben weiterleben lassen. Komm, und lass mich in ihnen versinken. Bitte sprich nur noch ein einziges Mal mit mir. Ich brauche dich.
Ich kann nicht... ich kann dich nicht verlassen.
Zögernd lasse ich die Erde fallen. Wie in einem Traum zieht alles an mir vorbei. Alles, was in diesem Moment geschieht. Ich sitze dort, nicht wissend wie lange schon. Stunde um Stunde, und die Nacht lässt langsam ihr dunkles Tuch herabfallen. Der Baum neben mir raschelt und der Wind weht durch meine Haare. Ein Zeichen. Es wird Zeit. Ich spüre es. Ich muss gehen, du ... du musst nun auch gehen. Aber bitte, vergesse mich nie, niemals.
Ich werde dich nie vergessen. Ich werde mich immer an dich erinnern, wenn ich traurig bin, und auch wenn ich glücklich bin. Ich werde mich immer daran erinnern, wie ich dich tröstete, als auch deinen Mutter gegangen war. Ich werde mich immer daran erinnern wie wir gemeinsam lachten, als du versuchtest, mir das Baseball spielen beizubringen. Nein, ich werde dich nie vergessen .

Nun, es wird Zeit, ich ... ich gehe jetzt ... aber ich werde dich immer besuchen. Vielleicht bist du ja dann auch da ... Ich steh langsam auf und öffne die Hand. Die Blume sieht nicht mehr frisch aus. Das macht ich traurig. Ich hätte dir gerne eine schönere auf die Reise mit gegeben. Ich küsse die Blume einmal, wieder ein Windhauch. Ich muss nun gehen, ich wünsche dir viel Glück. Langsam fällt die Blume ins Grab.


Autorenbemerkung: Ich widme diese Geschichte Dominik, der zwar jetzt nicht mehr Tour-de-France Sieger werden wird, aber trotzdem hoffentlich all seine Wünsche, seine Träume, seine Hoffnungen erfüllt bekommt. Dies ist meine Art mich von ihm zu verabschieden, damit klarzukommen. Auf wieder sehn, Dominik. Auf wieder sehn, viel Glück auf deiner Reise. Ich hoffe es geht dir gut, ich werde dich nicht vergessen, und auch wenn es weh tut, so ist es doch immer schön, wenn ich dein Gesicht vor meinem geistigem Auge sehe.