SPOILERWARNUNG: Enthält einen klitzekleinen Ein-Wort-Mini-Spoiler für „Freshman“ die 1. Folge der 4 Staffel "Buffy", sowie einen etwas  schwerwiegenderen  für die Episode „ Parting Gifts“  der 1. Staffel "Angel".

VORWORT:  Es existiert zu dieser Geschichte eine Partner-Vignette, Splitter von Selena. Als ich meine ursprüngliche Version von Scherben  an Selena weitergab, war diese von Grundidee und Umsetzung so inspiriert, dass sie mich fragte, ob sie den Wortlaut meines Dialoges  als Ausgangsbasis benutzen dürfe, um die betreffende Szene zusätzlich  aus Wesleys Sichtweise zu schildern. Ein Vorschlag, der mich sofort hellauf begeisterte, nicht nur da ich weiß, was für eine gute Autorin Selena ist.  Ihre Geschichte Splitter ist eine sensible Charakterstudie Wesleys, zu großen Teilen auf Informationen über Wesleys Vergangenheit beruhend, die erst in „Angel“ zu Tage treten. Ich kann jedem Leser  nur empfehlen, beide Geschichten gemeinsam zu lesen. Der Effekt, der dadurch entsteht, daß ein und der gleiche Dialog aus zwei verschiedenen Perspektiven geschildert wird, ist wirklich verblüffend :-)

 

 

SCHERBEN
von Bimo

Für  Tanja, ohne deren konsequentes Nachhaken ich dieses kleine Stück niemals fertig gestellt hätte.  Ein Dankeschön für zwei Jahre Online-Freundschaft und Diskussionen. Extra-Credits gehen an Nicole Ritsch für ihre  kompetente medizinische Beratung :-)

 

Es gibt Dinge, die ich  lieber täte, heute am Morgen nach der großen Schlacht.

Die erdrückende Spannung der letzten Tage und Wochen ist so sehr zum Teil meiner Selbst geworden, dass mein Verstand das Ende des Wahnsinns noch gar nicht begreifen will. Schließe ich die Augen, so ist Olvikan noch immer allgegenwärtig. Ich sehe die Bestie, höre ihre markerschütternden Schreie, verspüre ihren sengenden  Feueratem auf meiner Haut.

Der Kampf gegen Wilkins war nicht mein erster, und wird auch sicher nicht mein letzter sein, denn ich bin der Wächter der Jägerin. Es ist das Leben, dass ich mir ausgesucht habe. Der Tod ist nicht nur Buffys ständiger Begleiter, sondern zugleich auch meiner. Ich versuche, damit umgehen, so gut ich kann. Ungeachtet, wie sehr ich mich auch manchmal danach sehne, sämtliche Türen hinter mir zuzuschlagen, und für nichts und niemanden mehr aus Sunnydale zu sprechen zu sein.  Willkommen bei Rippers kleiner Privat-Feier anlässlich der Rettung der Welt. Eine hübsche Flasche Single Malt, dazu guter, ehrlicher 70Jahre Gitarrenrock aus der Stereoanlage und später, wenn meine Stimmung sentimental genug dafür geworden ist, vielleicht ein paar längst überfällige Anrufe bei alten Freunden. Zur Hölle mit den Telefongebühren nach Übersee, zu Hölle mit dem Zeitunterschied. Wie viel Freude es mir bereiten würde, Olivia aus dem Bett zu klingeln, nur um das erste mal seit Jahren ihre Stimme zu hören. Samten und vielschichtig wie ein Kuss in der Nacht.

Stattdessen rangiere ich meinen Citroen unter angestrengtem Kurbeln in eine enge Lücke auf dem Parkplatz des Sunnydale Memorial Hospitals, marschiere durch die strahlende Morgensonne hinüber zum Eingang, pünktlich, aufgeräumt und zuverlässig wie immer. Jemand muß sich ja um Wesley kümmern, er kennt hier niemanden außer uns. Ihn  alleine zu lassen, wäre schäbig, egal wie tief die Gräben zwischen ihm, mir und den Kindern auch verlaufen mögen.

Vor der geschlossenen Türe seines Zimmers überkommt mich das gleiche unangenehme Flattern in der Magengrube, dass ich schon als Junge in solchen Situationen verspürt habe. Sei lieb zu Großtante Cecelia, Rupert. Ich weiß ja, Du kannst sie nicht ausstehen, aber sie ist doch krank und freut sich bestimmt, dich zu sehen...  Oh Mum, wie gut du es immer mit allen Leuten gemeint hast. Selbst mit diesem verknöcherten Drachen.

Noch ein letzter, lungenfüllender Atemzug, dann bin ich endlich soweit. Mit der freien Hand klopfe ich zur Ankündigung gegen den Türrahmen.

„Hallo Wesley.“

„Hallo Giles.“

Er sieht immer noch recht mitgenommen aus, so wie er da liegt. In flachen Winkel auf einige Kissen gebettet, um den Hals eine Stützmanschette aus Schaumstoff. Dennoch scheint er sich über Nacht etwas erholt zu haben. Zumindest vom Schock des eigenen Verletzt-Seins. Seine blaugrauen Augen beobachten mich aufmerksam und ruhig, sind nicht mehr so verängstigt und desorientiert, wie gestern Abend, als die Sanitäter den armen Kerl ausgestreckt auf einer Bahre in den Krankenwagen hievten.

„Wie fühlen Sie sich?“

„Schon wieder recht gut. Das heißt, solange ich nicht den Fehler begehe, mich aus der Horizontalen zu bewegen.“

Wesleys Lächeln besteht nicht aus viel mehr als ein Wimpernschlag und einem kurzen Hochziehen der Mundwinkel. Trotz seiner offensichtlichen Gequältheit ist es das aufrichtigste, das ich jemals an ihm gesehen habe. Vielleicht, weil er, nur mit einem kurzärmeligen Krankenhausnachthemd bekleidet, zum ersten mal wie ein Mensch auf mich wirkt und nicht wie eine Illustration aus dem Wächterleitfaden für das korrekte Erscheinungsbild im Aussendienst. Eigentlich hatte ich erwartet, dass ihn das leicht verstruwwelte Haar sowie das Fehlen von Brille und Anzug jünger machen würde. Aber das tut es nicht, ganz im Gegenteil.

„Schön, dass es Ihnen besser geht.“

Kurz wandert mein Blick durch den Raum – wärmer und freundlicher als die Krankenzimmer meiner Kindheit. Nur der desinfektionsmittel-schwangere Geruch der Luft ist der alte geblieben, auch wenn die verwendeten Substanzen im Laufe der Jahre sicher gewechselt haben. Ich gehe einige Schritte auf Wesley zu und überreiche ihm das schleifenverzierte Körbchen mit Obst, das ich ihm mitgebracht habe. Ein kleines Mitbringsel schien mir die einfachste Möglichkeit, ihn ein wenig aufzumuntern, ohne allzu viele Worte wechseln zu müssen. Je weniger ich mit ihm reden muss, desto besser.

„G-Giles, das wäre wirklich nicht nötig gewesen....“

Er schaut zu mir hoch, ein seltsam anrührender Ausdruck von Überraschung und völliger Irritation, doch dann versteifen seine Gesichtzüge wieder, werden hölzern und unbewegt, so wie ich es von ihm gewohnt bin.

„Betrachten Sie es als ein stillschweigendes Friedensangebot, wenn Sie möchten.“

 „Wenn ich geahnt hätte, dass es genügt, mich von einem erzürnten Vampir vollkommen außer Gefecht setzten zu lassen, um das von ihnen zu hören, ich hätte bestimmt nicht zum Tage des Aufstiegs damit gewartet.“

Seine Bemerkung trifft nicht aufgrund ihres Wortlautes, sondern durch ihren Tonfall. Ernst und ohne den geringsten Hauch von Sarkasmus. Ein spätes Eingeständnis, dass meine Verbalattacken ihm stärker zugesetzt haben müssen, als er es mir je zeigte. Gott, wie oft ich es darauf angelegt habe, nur ein einziges Mal Betroffenheit in seinen glattrasierten Schuljungengesicht leuchten zu sehen. Das kleinste Zeichen, dass es möglich ist, ihn so sehr zu verletzen, wie  dieser aufgeblasene Pfau mich verletzte, als er in mein Büro stolzierte und mir einen minutenlangen Vortrag über meine Verfehlungen im Umgang mit Buffy hielt. Nun gibt er mir die Genugtuung, die ich wollte, doch ist sie in keinster Weise mehr befriedigend. Nur schal und ungenießbar wie abgestandenes Bier. Wesley bringt es zwar fertig, auf eine fast absurde Art den gleichen unbändigen  Zorn in mir hervor zu rufen wie Ethan Rayne.  Nur anders als mein ehemaliger Weggefährte  scheint er dem entfesselten Sturm in keiner Weise gewachsen. Und was für ein armseliger Sieg soll das sein, über jemanden der niemals einen ernsthaften Gegner für mich dargestellt hat? Nicht mit seinen halbherzigen Retourkutschen, seiner stillschluckenden Gleichmütigkeit?

Ich weiß nicht, ob ich tatsächlich bereit bin, ihm gegenüber irgendwelche Zugeständnisse zu machen. Wenn man bedenkt, was zwischen uns vorgefallen ist, sein furchtbares Versagen bei Faith...

Meine Hand greift nach dem Bügel meiner Brille. Erst als ich der Bewegung gewahr werde, blocke ich sie in letzter Sekunde noch ab. Das nervöse Polieren der Gläser ist eine der wenigen Eigenschaften, die ich mit Wesley teile, und ich komme mir schrecklich albern dabei vor, es in seiner Gegenwart zu tun.

„Wesley, einige der scharfen Worte die gefallen sind, hatten nichts mit Ihnen als Person zu tun. Nur mit meinem und Buffys Zorn über die Entscheidungen des Rates.“

“Sie haben mir nie die geringste Chance gegeben.“  Er weicht mir aus, blickt kurz hinüber zur Zimmerwand, auf den glasgerahmten Chagall-Druck der dort hängt, eine heitere Traumwelt in kräftigem Pastell.

„Was hätten Sie anderes von mir erwartet? Etwa, dass ich in über Ihre Anwesenheit in Jubel ausbreche?“ Ich hoffe, die Wärme meiner Stimme mildert die Spitze der Bemerkung. Ich will ihn jetzt nicht verletzten, nur deutlich machen, dass es für ihn das Beste ist, die Vergangenheit einfach auf sich beruhen zu lassen.

„Was ich erwartet habe, Giles? Nur ein wenig Fairness, zumindest von den Jägerinnen. Der neue Wächter? Hah, Scheiß drauf. Hoffentlich ist er wenigstens nicht gefährlich.“

 „Sie kennen die ersten Einträge meines Tagebuchs. Die Warnung vor Buffys Ausdrucksweise befindet nicht umsonst darin.“

„Wenn einem jeden Tag aufs Neue zu verstehen gegeben wird, wie inkompetent und unerwünscht man ist, macht die Wortwahl auch keinen Unterschied mehr.“

In seinem Gesicht spiegelt sich kein Vorwurf, bloß eine erschütternde Beiläufigkeit. Die Ablehnung anderer scheint ihm so grausam vertraut, so selbstverständlich, dass ich für die Dauer eines Atemzugs aufrichtiges Mitgefühl für ihn empfinde.

„Mir tut leid, wie die Dinge zwischen uns gelaufen sind.“

„Wenn ich nur herausfinden könnte, was ich bloß falsch gemacht habe.“

Alles, Wesley. Fast alles.

Das Gift liegt mir auf der Zunge, beinahe erliege ich dem Reflex ihm die Worte entgegen zu spucken, aber Gott sei Dank halte ich den Mund und lasse die Bitternis langsam die Kehle hinabgeleiten. Zurück in die dunklen Abgründe aus denen sie gekommen ist. Ich habe Wesley immer als jemanden eingeschätzt, der Schuld grundsätzlich nur bei anderen sucht, niemals bei sich selbst. Falls er sich tatsächlich darum bemüht, aus seinen Fehlern zu lernen, verdient er es nicht, auch noch dafür bestraft zu werden.

Leise seufzend gehe ich auf den kleinen Sessel neben Wesleys Bett zu,  rücke ihn zurecht bis er  in der richtigen Position steht. Vorsichtig lasse mich darauf herab sinken. Der gestrige Kampf hat auch an mir seine Spuren hinterlassen, das unangenehme Ziehen in Muskeln und Bändern spricht eine deutlich Sprache. Ich sollte endlich aufhören, meinen Körper mit der Sorglosigkeit eines Zwanzigjährigen zu strapazieren.

„Die letzten Tage sind hart für Sie gewesen, Wes, mhhm?“

Ein zaghafter Versuch, ihn ans Reden zu bringen. Darüber, was er denkt, was in ihm vorgeht. Nicht die abgegriffenen Lehrbuch-Parolen, die er so häufig zum Besten gibt, als wäre er eine Aufziehpuppe, die nicht erwarten kann, ihren Text abzuspulen.

Misstrauisch kräuselt er die Stirn. Seine Lippen sind zusammengepresst, die Kiefermuskeln angespannt. Fast glaube ich, sie knacken zu hören. Er schluckt, einmal, zweimal. Man kann sehen, wie es in ihm arbeitet. Erst als ich es schon gar nicht mehr erwarte, löst sich der Knoten. Wesleys Tonfall ist ein stilles, gedämpftes Murmeln, mehr zu sich selbst, als zu mir. Anders als sein normaler überakzentuierter, wichtigtuerischer Singsang.

„Ich hatte zwei Jägerinnen in meiner Obhut und habe sie beide verloren. Buffy Gottseidank nur für den Rat... - Und dann die Schlacht gegen Wilkins. Gott, Ich habe ich mich doch so unendlich bemüht, tapfer zu sein, die Erwartungen zu erfüllen, die man in mich setzt.“

„Vielleicht waren sie einfach zu hoch?“

„Nein, daran liegt es nicht.“

Instinktiv versucht er den Kopf zu schütteln, aber Schmerz und Halskrause verhindern die Bewegung. Kurz beißt er die Zähne zusammen verzieht das Gesicht.

„Alles in Ordnung?“

„Danke, es geht schon wieder. Der Rücken macht mir noch ziemlich  zu schaffen.“

Ich schenke ihm ein verständnisvolles Nicken. Mir ist immer noch ein Rätsel, wie dieser Unglücksrabe sich bei seinem Aufprall auf den Asphalt die Wirbelsäule stauchen konnte. Als ob eine leichte Gehirnerschütterung für ihn  nicht theatralisch genug gewesen wäre.

Gedankenversunken starrt er auf das Körbchen, das er noch immer zwischen seinen Händen hält, scheint gerade zu durch die Früchte hindurch zu sehen.

„Ich bin für diese Aufgabe ausgebildet worden, genau wie Sie. Die Theorie, die Waffen, die Kampftechniken, alles von Kindesbeinen an. Ich hätte die Dinge unter Kontrolle haben müssen. Statt dessen gerate ich beim Anblick des geringsten Dämons in solch heillose Panik, dass ich mich selbst nicht mehr erkenne. Niemand macht sich auch nur im Entferntesten die Mühe mich nach meiner Meinung zu fragen, oder wenigstens in die gemeinsamen Pläne einzuweihen. Wozu auch mit diesem Trottel abgeben? Wir haben doch immer noch Giles."

Sein Mund verzieht sich zu einem blassen Lächeln. Zuerst denke ich, es sei zynisch, dabei ist es nur unendlich hilflos und bitter enttäuscht.

"Wollen Sie Buffy dieses Verhalten ernsthaft verübeln, nachdem Sie von einem Debakel ins nächste gestolpert sind? Sie ist ein Teenager. Ich habe mir ihr Vertrauen und ihren Respekt auch nicht Kraft meines Amtes verdient, sondern durch die Dinge, die wir gemeinsam durchgestanden haben. Ein solches Band löst sich nicht einfach über Nacht."

"Ich habe immer gehofft, ich müßte nur geduldig genug mit ihr sein, und wir würden uns schon aneinander gewöhnen. Ob sie es glauben, oder nicht, zwischendurch hatte ich tatsächlich das Gefühl, es würde besser mit uns laufen. Und dann, als ich ihr das Gegengift für Angel nicht auf einem Silbertablett servieren  kann... Buffy hat mich in der Luft zerfetzt, als wäre es nicht die Entscheidung des Rates gewesen, sondern meine eigene. Als ob ich dazu im Stande wäre, ihr das Heilmittel vorzuenthalten, nur aus reiner Willkür und Boshaftigkeit.  Dabei habe ich mit meinem Anruf Kopf und Kragen riskiert. Sie hätten Quentin Travers am Telefon hören sollen, Giles. Angeschrieen hat er mich. Und was ernte ich dafür? Etwa ein Danke, Wes, dass sie es wenigstens versucht haben ? Nein, nur einen kräftigen Fußtritt. Können Sie mir sagen, womit ich das verdiene?“

Ein Wort, Wesley. Es reicht ein einziges Wort.

„Faith.“

Wie von selbst rutscht ihr Name mir über die Lippen. Sie, die im gleichen Krankenhaus zwei Stockwerke über uns im Koma liegend dahinvegetiert. Mein Zorn, das Mädchen für immer an die dunkeln Mächte verloren zu haben, ist noch zu frisch, brodelt und pulsiert unter der Oberfläche. Und plötzlich schere ich mich keinen feuchten Kehricht, wie schlecht es Wesley geht, oder dass ich ihn in seinem Zustand nicht aufregen sollte. Er ist es, der Faith hat einfangen lassen wie eine tollwütige Katze. Der jede Hoffnung zerstörte, sie vielleicht doch noch zur Besinnung zu bringen. Du Narr, du gottverdammter, armseliger Stümper.

Wesley sieht mich an, erschreckt und betroffen, wie vom Donnerschlag gerührt –Gut. Ich will, dass es weh tut - doch dann verengen sich seine geweiteten Augen, ihr schleierdurchzogenes Blau wird zu klarem Saphir, hart und funkelnd. Ein so deutliches „bis hier her und nicht weiter“ wie ich es noch nie zuvor an ihm gesehen habe. Wesley Wyndham-Pryce ist ein Waschlappen, kein Mann.

Sekundenlang warte ich auf den spontanen, unbeholfenen Ausbruch seines Zorns, doch nichts. Nur dieser Blick.

„Tut mir leid Giles, aber so einfach mache ich es Ihnen nicht.“

„Was?“

„Glauben Sie mir, es vergeht keine Minute, in der ich nicht bedauere, was ich getan habe. Aber geben Sie mir bitte nicht die alleinige Schuld.“

 „Wem sonst? Sie waren es, der Faith mit Gewalt nach England schiffen wollte, um sie ihrer gerechten Strafe zu überführen.“

„Ich wollte ihr helfen.“

„Als ob der Rat dazu in der Lage gewesen wäre. Faith hat einen Menschen getötet. Sie war krank, psychisch instabil. Man hätte sie nur in eine Gummizelle gesperrt, solange bis sie an ihrem eigenen Wahnsinn verreckt. Je schneller, desto besser. Wie naiv sind Sie nur, dass Sie das nicht begreifen wollen?“

„Vielleicht habe ich, was Faith anbelangt, ein größeres Vertrauen zum Rat gehabt, als zu Ihnen.“ Seine Stimme ist kühl als er das sagt, kontrolliert bis zur scheinbaren Emotionslosigkeit, doch hinter der glatten Oberfläche höre ich sie vor Anstrengung erzittern. Es muß ihn unendlich  viel Kraft kosten, sie so ruhig zu halten.

„Sollte ich denn etwa noch länger dabei zusehen, wie es immer weiter bergab mit ihr geht? Grundgüter, Giles.  Sie hätten monatelang Zeit gehabt, sich  vernünftig um die  Kleine zu kümmern. Ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie ausreichend genug kennen zu  lernen, um die Katastrophe zu verhindern. Und was haben Sie getan? Die Hände in den Schoß gelegt, bis es  zu spät gewesen ist.“

„Wesley, ich warne Sie. Sie haben kein Recht ...-“

„Doch. Denn ich bin dort gewesen, in Faiths Hotel, wenige Stunden nach unserer so unglücklich verlaufenen ersten Begegnung. Ich wollte sie fragen, ob sie mir nicht vielleicht doch eine Chance geben will.  Ihre Zimmertüre stand lang genug offen, um einen Blick zu werfen auf dieses....dieses unsägliche Rattenloch.“

Er schluckt, sein Gesicht eine Grimasse aus Abscheu und Ekel. Kein Wunder. Wesley ist ein Kind der Upper Class. Allzeit blütenrein, aprilfrisch und steif wie eine frisch gestärkte Hemdenbrust.

„Sie hätten Faith da herausholen müssen, Giles. Ein Feldbett in der Bibliothek wäre ein besserer Ort für ein junges Mädchen gewesen, als dieses Zimmer. Und haben sie etwas dagegen unternommen? Haben Sie Faith je in irgendeiner Form unterstützt, die über das bloße Abschlachten von Vampiren hinausgegangen wäre?“

Ich weiss nicht, was ich seiner Anklage entgegensetzen soll. Sie dringt in mich hinein, ein bleiernes Gift, das meine Adern durchfließt und mich von innen zu Stein werden lässt. Mich lähmt und erstickt. Ihr Gewicht reißt mich hinab in die Tiefe, zu den dunklen Wahrheiten, die ich so mühsam zu verdrängen versuche. Dabei bringt Wesleys Vorwurf nichts neues für mich, nur eine Frage die ich mir selber schon oft genug stellte. Welche Entschuldigung gibt es, dass ich Faith nicht geholfen habe? Die Tatsache, dass es so unendlich viel einfacher gewesen ist, sich von ihrem Fauchen und Kratzen abschrecken zu lassen, anstatt auf sie zuzugehen? Egal, wie viele Schrammen und Narben ich auch durch dieses Kind davon getragen hätte?

„Wesley, Sie haben den Wahnsinn des Höllenschlundes am eigenen Leibe erfahren. Himmel, ich bin doch auch nur ein Mensch am Rande meiner Kraft.“

„Das ist keine Rechtfertigung. Zu Buffy und den anderen sind Sie wie ein Vater. Würde  ihr etwas zustoßen, so bräche das Ihnen das Herz. Begreifen Sie denn nicht? Sie sind jenseits aller emotionalen Distanz, haben sich für Buffy so unendlich vorausgabt, dass für die zweite Jägerin einfach ein Platz mehr blieb.“

Er sieht mich an, ernst und abwägend, wartet auf meine Reaktion, doch meine Lippen sind taub und vereist, ich bringe nichts weiter hervor als ein klägliches Stammeln.

„Giles, wenn ich wollte könnte ich Ihnen jetzt den selben Vortrag  halten, wie am Tag meiner Ankunft. Doch ich mache es nicht. Sie würden mir bestimmt genauso wenig zuhören wie damals.“

Auf seine Worte folgt eine beklemmende Stille. Deutlich kann ich meinen eigenen Atem wahrnehmen, den Schlag meines Herzens. Hektisch und schnell wie das Pochen einer über Gebühr aufgezogenen Taschenuhr.

„Falls Sie ein Schuldgeständnis von mir hören wollen, so kann ich Ihnen das nicht bieten. Sicher, Ich habe Regeln überschritten, Grenzen, die ich vielleicht niemals hätte übertreten dürfen, aber glauben Sie mir, das habe ich nicht leichtfertig getan. Es gab einen Grund.“

„Nennen Sie ihn.“

Wie absurd es sich anfühlt, Wesley solche Gedanken zu offenbaren. Aber wahrscheinlich hat ausgerechnet dieser bittere Anfänger ein Recht auf sie. Daher würge ich, bis der Kloß in meinem Hals sich auf ein erträgliches Maß reduziert hat, und fahre fort. Ohne Rücksicht auf Verluste.

„Dieser Ort hier. Das Leben in Sunnydale. Sie sind nicht lange genug in der Stadt, um zu wissen, was es aus einem macht. All dieser Irrsinn, all die Tragödien. Es mag verrückt für Sie klingen, Wesley, aber als ich hier eintraf, war ich nicht sehr viel anders als Sie. Ein stammelndes Zerrbild meiner selbst. Den ganzen Tag versteckt hinter Regeln und staubigen Büchern. Bloß keine Bindungen, keine Gefühle, die meine Funktion als Wächter beeinträchtigen konnten. Vielleicht konnte mich höchstens ein wenig besser als Sie daran erinnern, wie es sich anfühlt, ein Kind zu sein.“

Wesleys Versuch, über die letzte Bemerkung zu lächeln, missrät zur kläglichen Fratze.

„Aber im irgendwann im Verlauf der Jahre kam der Punkt, an dem ich diesem Wahnsinn nicht mehr gewachsen war. Jedenfalls nicht als Wächter, nur noch als Mensch. An dem ich Nähe zulassen musste, um all den Tod und das Leid weiterhin ertragen zu können. Wenn Sie mich für diese Schwäche verurteilen wollen, dann...“

„Der Vorfall der diese Einsicht bewirkte, ...Miss....Miss  Calendar, nicht?“

Seine Stimme klingt zögernd und vorsichtig, sogar mitfühlend. Er versucht zu  verstehen, nicht mich für meine Emotionen in Stücke zu reißen.

„Jennifer Calendar. Angelus. Wer soll das sagen. Woher wissen Sie davon?“

„Nur durch das, was sich in Ihren Aufzeichnungen befindet. Anbetracht der betreffenden Passagen hielt ich es nicht für angebracht, noch weitere Erkundigungen einzuziehen.“

Sieh an, sieh an, Junge. So gut liest Du also zwischen den  Zeilen.

Er durchforscht mich mit seinen Augen, suchend und konzentriert wie ein Experte für Dämonologie, der zum ersten Male einer unbekannten Spezies gegenübersteht.

„Wesley, die Bindungen die wir zu anderen Menschen entwickeln, machen uns nicht nur verletzlich, sie führen uns auch unserer größten Stärke. Vielleicht werden Sie das eines Tages begreifen. Vor Ihnen liegt doch noch ihre gesamte Laufbahn.“

„Ach, tut sie das? Das wusste ich noch gar nicht, so wie sich die Dinge in jüngster Zeit für mich entwickelt haben.“

Großer Gott, natürlich. Ich hätte es wissen müssen. Kein Wunder, dass er so schrecklich durcheinander ist. Und ich Idiot war so unbedacht, ihn auch noch mit der Nase darauf zu stoßen.

„Bitte entschuldigen Sie, i-ich wollte nicht...“

„Keine Sorge, Ich werd’s überleben. Schlimm ist nur, dass ich diese Angelegenheit nicht einfach so schnell wie möglich hinter mich bringen kann. Stattdessen liege ich wahrscheinlich noch  die gesamte nächste Woche hier fest. So viel Zeit zum Nachdenken jagt einem furchtbare Angst ein.“

Mir kommt es vor, als vor, als zittere er. In seinen dunklen Augen liegt nicht die oberflächliche, flüchtige Panik, die ich schon so oft in ihnen gesehen habe, sondern etwas unendlich tieferes, nagendes. Er schluckt, blickt starr gegen die Zimmerdecke, kämpft tapfer dagegen an, wie sie sich bis zu den Rändern mit Wasser füllen.

 „Giles, wenn  Sie jetzt bitte endlich gehen würden. Ich weiß, sie meinen es nur gut, aber...“

„Sicher?“

„Bitte.“

Ein inständiges Flehen. Würde eines der Kinder sich in seiner Lage befinden, ich dächte im Traum nicht daran, aufzustehen, sondern bliebe stumm an seiner Seite, bis das Schlimmste vorüber ist. Aber das hier ist Wesley. Ein erwachsener, gefühlsmäßig vollkommen verkorkster Mann, der sich seiner Tränen zu Tode schämt. Ich täte ihm nicht den geringsten Gefallen, wenn ich bliebe. Also schleiche ich bedrückt aus dem Raum. Einen Moment noch verharre ich hinter der geschlossenen Türe. Lausche dem weichen, kaum hörbaren Schluchzen, dem Klang einer ins Trudeln geratenen Welt. Die nächste Zeit wird schwer für ihn werden. Genau wie für mich.